Kapitel 15

Ich ging zum Fußende des Bettes und schaute auf Jacks Koffer hinunter. Das Hemd, das er getragen hatte, lag zerknittert daneben. Ich setzte mich auf die Bettkante und stupste es mit dem Fuß weg. Darunter lagen eine Haarbürste und eine braune Glasflasche mit Tabletten. Ich kannte das Medikament nicht. Ich machte den Koffer auf. Es gab eine leere Kommode im Zimmer, doch er hatte nicht ausgepackt.

Vorsichtig hob ich einen Stapel zusammengelegter Kleider an. Noch eine Flasche mit Pillen. In den Seitentaschen zwei weitere. Ich kannte auch von diesen Medikamenten keines, aber jede Wette, dass es Beruhigungs-, Aufputsch- oder Schlaftabletten waren. Oder alles zusammen. Das würde wenigstens sein Benehmen erklären. Abwechselnd himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt, und dazu der Alkohol ... Doch es war mehr als das. Irgendetwas anderes. Kitty? Warum ging er nicht einfach zur Polizei, wenn es ein Unfall war? Da steckte mit Sicherheit mehr dahinter. Etwas Schlimmeres. Aber was?

Auf der anderen Seite des Koffers, unter Jacks Waschbeutel, fand ich eine rechteckige Schachtel. Ein brauner Pappkarton, zu klein für Schuhe. Und unter dem Bett schaute ein klobiger Schuhbeutel hervor. Graugrün. Mein Blick fiel auf ein Namensschild, das am Rand eingenäht war. Musste wohl mal der Turnbeutel einer seiner Töchter gewesen sein.

Ich öffnete die Schachtel. Drinnen war, eingebettet in Seidenpapier, eine Art grauer Kanister. Er sah aus, als wäre er aus Metall. Er hatte einen Schraubverschluss und einen flachen Boden und erinnerte mich an die Plastikbehälter mit Süßigkeiten im Dorfladen, nur kleiner.

Einen Moment lang lauschte ich – Jacks Stimme klang jetzt lauter, zuversichtlicher –, dann legte ich den Deckel wieder drauf und hob die Schachtel vorsichtig aus dem Koffer. Sie war nicht schwer. Auf einer Seite war ein weißes Schild: ENFIELD KREMATORIUM. Es war eine Urne!

Den Bruchteil einer Sekunde lang dachte ich: Lenny? und ließ die Schachtel beinahe fallen, wusste ich doch, dass das nicht sein konnte, denn wir hatten Lennys Asche am Grabstein seiner Eltern verstreut. Ich las den Rest auf dem Schild.

KREM. NR.: 25489
DATUM: 15.05.1976
NAME DER/DES VERSTORBENEN: Susannah Meredith Flowers

Susannah ist Jacks älteste Tochter. Oder war.

Und ich hatte ihn gerade gefragt, ob seine Kinder ein Ersatz für Tiere waren. Super. Ich stellte die Schachtel wieder an ihren Platz und ging in mein Zimmer.

Warum hatte er nichts gesagt? Ich versuchte, mich daran zu erinnern, worüber wir geredet hatten, als er ankam. Er hatte über Rosalie gesprochen. Und Val, allerdings nur, weil ich sie erwähnt hatte. Nach Susannah hatte ich nicht gefragt. Um ehrlich zu sein, konnte ich mich nicht an ihren Namen erinnern, bis ich ... O Gott, wie gedankenlos! Aber sein Auftauchen und – ach, einfach alles – hat mich so aus der Fassung gebracht. Wie alt mag sie gewesen sein? Vierundzwanzig? Fünfundzwanzig? Krankheit, Autounfall, Drogen ...? Sie war der Grund, warum sie geheiratet hatten. Das hatte Lenny mir erzählt. Kaum war er mit dem Militärdienst fertig, tauchte Vals Vater auf. »Meine Tochter hat einen Braten im Ofen. Sie heiraten sie, sonst ...« Also hatte er sie geheiratet.

Ich kannte Val kaum, aber sie hat mir immer Leid getan. Sie hatte das große Haus und allen Komfort, aber sie saß da draußen in Hertfordshire fest, und Jacks Leben spielte sich in London ab, was ihm natürlich nur recht war, doch sie musste sich ziemlich ausgeschlossen gefühlt haben. Seine Töchter hatte ich nur einmal getroffen, als Lenny und ich mit Jack und den Mädchen in Hampstead Heath zum Picknick gewesen waren. Ohne Val. Ich glaube, er musste an dem Wochenende auf sie aufpassen, weil sie im Krankenhaus war.

Damals fuhr er einen Bentley, einen riesigen, blauen Schlitten, mit dem Lenny ihn immer aufzog, und darin kamen sie angefahren, mit einem Picknickkorb voller Leckereien von Harrods oder so. Sie waren Teenager. Susannah muss ungefähr sechzehn gewesen sein, aber beide wirkten jünger. Sie waren sehr still und wunderschön angezogen in kariertem schottischen Leinen, die eine blau, die andere rosa; kleine Gastgeberinnen, die das Essen herumreichten und hinterher alles wieder aufräumten. An viel mehr erinnere ich mich nicht.

Sie schienen Jack nicht besonders gut zu kennen. Es war, als wären sie nicht sehr vertraut mit ihm, wenn das das richtige Wort ist. Ich hatte jedenfalls den Eindruck, dass er nicht viel Zeit mit ihnen verbrachte. Es war eher eine ernste Angelegenheit, denn auch Lenny machte keine Späße mit ihnen.

Als ich Lenny kennen lernte und er mir die Geschichte erzählte, wie er bei Jack und Val war und die Nachbarin den brennenden Dildo über den Gartenzaun warf, nahm ich an, dass er viel Zeit dort verbrachte, doch ich glaube nicht, dass er und Val besonders gut miteinander auskamen. Er sagte nie ein böses Wort über sie, aber sie mochten sich offensichtlich nicht besonders. Ich glaube, Jack war es egal. Er sprach nie über seine Familie. So viel wie über Rosalie und ihr Kunstprojekt hatte ich ihn noch nie erzählen hören. Wahrscheinlich trennt er die beiden Hälften seines Lebens genau.

Lenny hat mir auch erzählt, dass Jack gerne verheiratet war, weil es ihm die perfekte Ausrede dafür lieferte, mit keiner anderen etwas Ernstes anfangen zu müssen. Er meinte, Jack sah es so, dass das Schlimmste bereits geschehen war – er saß in der Falle. Und solange er verheiratet und sozusagen im Nest blieb, konnte es nicht wieder passieren. Wenn eine seiner Freundinnen mehr wollte, wenn sie schwanger wurde, sagte Jack, sie musste das Baby abtreiben, weil Val in eine Scheidung nicht einwilligte – keine Chance.

Ich ging hinüber zum Spiegel. Wer ist jetzt der Hobbypsychologe, dachte ich. Er wird es mir schon erzählen, wenn er will. In der Zwischenzeit: Kochen. So ungefähr das Letzte, worauf ich Lust hatte, aber ... Ich legte Lippenstift auf. Und Rouge. Sogar Wimperntusche. Ich war wie benommen. Eine schreckliche Geschichte. Arme Susannah. Kein Wunder, dass Jack in einem solchen Zustand war. Kinder sollen nicht vor ihren Eltern sterben, es muss andersherum sein. Vielleicht konnte er mit Val nicht darüber reden. Solche Dinge können Ehen zerstören, oder? Armer Jack. Kein Wunder, dass er die Flucht ergriffen hat.

Ich ging nach unten. Charlies Tante lag auf dem Küchentisch. Eustace räkelte sich, alle viere von sich gestreckt, auf dem Teppich, und Jack saß, einen Drink in der Hand, auf dem Sofa und beugte sich hinunter, um ihm den Bauch zu kraulen.

»Okay, Coq au vin ist im Anmarsch.«

Das Huhn war ein großer, toter Klumpen in meiner Hand. Kaum hatte ich es aus dem Kühlschrank genommen, drehte sich Eustace um, trottete zu mir herüber und ließ sich sabbernd und schwerfällig auf seinem Hinterteil neben mir nieder. Er konzentrierte sich hingebungsvoll auf das Fleisch. Ich nicht. Ich hätte mich nicht darauf einlassen sollen, dachte ich. Ich werde es verderben. Ich mühte mich mit dem Messer ab und grub meine Finger in das Fleisch, in dem Versuch, Stückchen von dem Kadaver zu lösen. Bei dem Gedanken, dass irgendjemand tatsächlich irgendwas davon in den Mund stecken, kauen und runterschlucken würde, wurde mir ganz anders.

Unter der dicken, weißen Haut schimmerte rosafarbenes Fleisch, Brust, Schenkel, Beine. Plötzlich hatte ich ein Bild von Bunny Kitty vor Augen, wie sie ertrunken im Auto sitzt, ihr Busen in dem engen Kostüm wie zwei prall gefüllte Kissen, ihr rosiges, gesundes Dekolleté, das sich erst bläulich, dann faulig grün verfärbt, während sie da tot hinter dem Lenkrad festgeschnallt ist. Saß sie überhaupt da? Hinter dem Lenkrad? Hatte ich das gelesen oder bildete ich mir nur ein, dass sie auf dem Fahrersitz saß? Konnte man überhaupt noch wissen, wo sie gesessen hatte?

Ich starrte auf das entbeinte Huhn. Lösten sich die Knochen nicht? Es ist nur Fleisch– Gewebe–, das uns zusammenhält; driften die Knochen nicht einfach auseinander, wenn alles andere weggefault ist? Ich stellte mir die Knochen ihrer Beine vor, einen Haufen Stöckchen im Fußraum, den Brustkasten, wie er neben dem Schädel auf dem Sitz lümmelt ...

Geschockt ließ ich das Messer fallen und rannte, die Hände vor den Mund gepresst, zum Spülbecken.

»Alice

Ich drehte mühsam den Kopf um und sah Jack auf mich zukommen. Er schien zu schwanken.

»Musst du dich übergeben?«

»Schon vorbei. Es geht mir gleich wieder gut.«

Er massierte meinen Nacken. Überdeutlich konnte ich den Whisky riechen. »Zu viel Sonne, du dummes Mädchen. Setz dich lieber hin.«

»Mir geht's gut, wirklich.«

»Komm her.« Er fasste mich mit einer Hand am Hinterkopf und zog mich zu sich, die Finger in meinem Haar verhakt. Ich schüttelte ihn ab und tauchte unter seinem Arm durch.

»Erst will ich wissen, ob du deinen Text gelernt hast.«

»Herrgott –«, setzte Jack an, hielt jedoch abrupt inne. »Wenn du willst, kannst du mich abhören. Während du Zwiebeln schälst. Und wenn ich eine Belohnung bekomme.«

»Gut.« Ich trug die Schüssel mit dem Gemüse zum Tisch, setzte mich, schlug das Stück auf und lehnte es gegen einen Kerzenleuchter. »Welche Seite?«

»Vierzehn.«

»Hier steht: Er geht, spricht und bewegt sich wie ein Mann und versucht niemals, eine Frau zu sein. Er hat kein effeminiertes Gehabe. Ich hab dir doch gesagt, es ist keine Travestienummer.«

»Ich merke, du bist Expertin.« Jack stellte sich einen Stuhl mir gegenüber hin, setzte sich und knallte eine Flasche Glenfiddich auf den Tisch. Sie war bereits zu einem Drittel leer. »Ich hab das verdammte Stück gelesen, weißt du?«

»Ja, das weiß ich. Wo hast du den her?«

Jack funkelte mich triumphierend an. »Ganz hinten in deinem Eckschrank. Du hast ihn vor mir versteckt, nicht wahr, Bunny Alice? Und all seine Freunde und Verwandten mit ihm.«

Das kalte, hohle Gefühl in meinem Magen war so schrecklich vertraut. Ich zwang mich, ruhig zu bleiben.

»Ganz ehrlich, Jack, ich hab im Lauf der Zeit einfach vergessen, was da drin ist. Hast du sie gestern Abend nicht gesehen?«

»Nein, denn gestern Abend wurde ich mit Johnnie Walker abgespeist.«

»Den du selber aus dem Schrank geholt hast, schon vergessen? Hör mal, wenn du vor Mitternacht essen willst, lass mich jetzt kochen.« Ich griff nach einer Zwiebel und beugte mich vor, um beim Schälen in Charlies Tante zu lesen.

Jack schenkte sich einen Vierfachen ein und schwenkte das Glas. »Lies weiter.«

»Gut. Dieser Lord erscheint mit einer großen Reisetasche am Fenster und klettert hinein. Jetzt du.«

Jack fing an, seinen Text herunterzuleiern. »Wo um alles in der Welt bist du? Wollte ein paar Fläschchen Schampus ausborgen. Frag mich bloß, wo er den aufbewahrt ...«

Ich hörte zu, schälte, hackte und gab den Einsatz. Er beherrschte den Text erstaunlich gut, wenn man bedachte, wie viel er getrunken hatte, und hatte ziemlich viele Seiten gelernt.

Ich stand auf, um das Huhn anzubraten, und nahm Charlies Tante mit. Jack folgte mir. »How do you do, Sir Francis? Bist du mal Danny Watts begegnet?«

»Das steht hier nicht.«

»Ich weiß, aber erinnerst du dich an einen Typ namens Danny Watts?«

»Nein. Was hat das damit zu tun? Jetzt habe ich die Stelle verloren. Ach ja, hier. How do you do

»Ich bin Charlies Tante aus Brasilien – wo die Affen herkommen

»Hey, du hast mir über die Schulter geguckt!«

Jack wich mit einem dümmlichen Gesichtsausdruck zurück.

»Hast du die ganze Zeit gemogelt und verkehrtherum mitgelesen?«

»Ein bisschen kann ich schon. Ein paar Seiten.« Er leerte seinen Whisky. »Kann ich dir irgendwie helfen?«

»Du kannst den Wein holen. In dem Regal unter der Treppe ist welcher, aber du kriegst nichts davon. Er kommt in die Sauce.«

»Wir brauchen zum Essen etwas zu trinken, Alice.«

»Dann hol zwei Flaschen.«

Jack ging hinaus und kam ein paar Minuten später mit einem zufriedenen Gesicht und zwei Flaschen Rotwein zurück. »Die beiden dürften passen.«

Er öffnete sie und nahm eine mit zum Tisch, wo er sich noch einen ordentlichen Whisky eingoss. Als er die Flasche wieder auf den Tisch stellte, war sie nur noch halb voll. Er fing meinen Blick auf und explodierte. »Sei nicht so verdammt spießig. Was ist los mit dir? Bietet man den Leuten nicht normalerweise einen Drink an, wenn sie zu Besuch kommen? Nächstes Mal bringe ich mir selber etwas mit.«

»Ach, in einem großen Lieferwagen?«

»Rede nicht so mit mir, du Provinzschlampe.«

Das Kochbuch flog an die Wand über meinem Kopf und krachte mitten auf den Herd, wo es die Bratpfanne von der Gasflamme katapultierte. Eine blaue Flamme schoss hoch.

»Es brennt!« Ehe ich an die Topfhandschuhe kam, taumelte Jack an mir vorbei, schnappte mit den Fingerspitzen nach dem Kochbuch, schrie: »Aaaaaaah, Scheiße, Scheiße!«, raste zum Spülbecken und warf es hinein. Ein Platschen, ein Zischen, dann Stille. Wir sahen uns an und fingen an zu lachen.

Tränen standen in meinen Augen, und Jack erging es nicht viel anders. Schwankend standen wir vor dem Herd, klammerten uns aneinander, fuchtelten mit den Armen und rangen um Atem. Jack presste vornübergebeugt seine verbrannten Hände unter die Achselhöhlen. »Wahnsinn, das tut weh.«

»Halte sie einstweilen unter den Wasserhahn«, sagte ich lahm. »Ich muss aufs Klo.«

Kaum hatte ich die Küchentür hinter mir zugemacht, hörte ich auf zu lachen. Es war lustig gewesen, aber ich hatte solche Szenen so oft mit Lenny erlebt, hysterisch kichernd, aber krank vor Angst, dass er plötzlich durchdreht. Ich erinnerte mich an das letzte Gespräch mit einem seiner Ärzte. Dieser hatte mir erklärt, dass Lenny innerhalb eines Jahres tot sein würde, wenn er nicht aufhörte zu trinken, und er hatte gesagt: »Ich gebe Ihnen einen guten Rat: Verlassen Sie ihn. Sie können ihm nicht helfen. Sie sind jung und hübsch. Retten Sie sich selbst.«

Retten Sie sich selbst. Ich hatte seinen Rat nicht befolgt. oder?

»Und wie ist es diesmal?« Ich schaute in den Spiegel. Mein Spiegelbild senkte den Blick und antwortete nicht.

Die Tochter dieses Mannes ist gerade gestorben, dachte ich Wie kann ich ihn da rauswerfen.

Ich seufzte. »Das bin ich dir schuldig, Lenny«, sagte ich laut. »Ich werde mich um Jack kümmern. Hilf mir nur. Hill mir, das durchzustehen.« Als ich mich vom Spiegel abwandte. hatte ich plötzlich die Vision einer dunklen Haarsträhne, einer glänzenden Schulter und eines zu einem durchtriebenen Lächeln hochgezogenen Mundwinkels, als hätte jemand neben mir gestanden und ich nur eine Sekunde lang einen Blick aus dem Augenwinkel von ihm oder ihr erhascht. Kitty. Ich holte tief Luft, dann trocknete ich mir die Hände ab und ging zurück in die Küche.