Jack saß wieder am Tisch, Charlies Tante in der ausgestreckten Hand, mit der anderen presste er das Glas an die Brust. Er sah aus, als hätte er Schwierigkeiten, die Buchstaben zu erkennen. Ich fischte das Kochbuch aus dem Spülbecken. »Wirf es weg«, sagte Jack. »Reiß nur die eine Seite raus.«
»Wie geht's deiner Hand?«
»Werd's wohl überleben.« Er ließ das Buch aus der Hand auf den Tisch fallen. »Geben wir es auf, Alice.«
Ich zuckte die Achseln. »Gut. Wenn du mogelst, hat es sowieso keinen Sinn.« Ich wandte mich ab, um die Bratpfanne zu retten.
Jack seufzte. »Die Leute wollen mich nicht im Kleid auf der Bühne herumtänzeln sehen, Alice. Sie wollen etwas Ernsthaftes. Politik. David Hare, Howard Brenton. Leute, die ›ficken‹ auf der Bühne sagen. Irgendwas Gewagtes, womit sie beim Spaghettifressen vor ihren Mittelklassefreunden angeben können.«
»Ich kenne Howard ... wie war sein Name? ... nicht mal. Und außerdem kannst du nicht sagen, dass alle so schweres Zeug wollen, ich meine, nimm doch mal No Sex, please – We're British.«
»No Sex, please – We're British?« Seine Stimme klang hoch, äffte mich nach. »Du hast doch keine Ahnung, oder?«
»Nicht von Theater«, sagte ich so ruhig wie möglich. »Ich war ganz selten im Theater.«
Jack starrte mich zornig an. »Das ist ja für dich kein Problem, du musst schließlich nicht zwei Monate lang durch das Land tingeln und sagen: ›Ich bin Charlies Tante aus Brasilien, wo die beschissenen Affen herkommen.‹« Er knallte sein Glas auf den Tisch.
»Stimmt«, gab ich zu, »aber ich bin auch keine Schauspielerin.«
»Ich auch nicht, du dumme Kuh! Ich werde da draußen sterben. Du weißt, Alice – was wir im Theater immer gemacht haben. Zweimal pro Abend. Wir konnten alles machen, und jetzt schau mich an. Guten Abend, meine Damen und Herren, ich bin Jack Flowers, und ich kriege ihn nachts nicht mehr hoch, geschweige denn zweimal.«
Er leerte sein Glas. Ich rannte zur Whiskyflasche, aber Jack war schneller, schnappte sie sich, wiegte sie in seinen Armen und betrachtete sie, als wäre sie ein Baby. »Na komm.« Ich streckte die Hand nach der Flasche aus. Jack hob den Kopf und schüttelte ihn langsam mit einem Ausdruck des Triumphes in den Augen. »O nein, das wirst du nicht tun, Bunny Alice.« Er drehte sich auf dem Stuhl um und wandte mir den Rücken zu. Ich nahm statt des Whiskys den Rotwein – sinnlos, aber irgendetwas musste ich tun – und stellte ihn neben mich auf die Arbeitsplatte.
Nachdem ich auch die restlichen Essenssachen vorbereitet hatte, ließ ich das Ganze auf dem Herd vor sich hin köcheln und setzte mich Jack gegenüber. Die Whiskyflasche stand auf dem Boden neben seinem Stuhl. Sie war beinahe leer. Ich beugte mich vor und streckte die Hand aus. Jack ergriff sie.
»Rede mit mir«, sagte ich. Er ließ sich zur Seite fallen, legte das Gesicht auf den ausgestreckten Arm und schaute mich unter den Augenbrauen heraus an. Aus traurigen, blutunterlaufenen Augen mit dunklen Rändern. »Was ist los?«
Jack seufzte. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Hatte ich noch nie.«
»Das ist nicht wahr.«
»Ist es doch.« Er zögerte, und ich dachte, jetzt erzählt er mir von seiner Tochter, aber er sagte: »Weißt du noch, Alice, wie wir das erste Mal ...« Er schlug die Augen nieder.
»Lenny hatte den Pelzmantel für dich gekauft und war an die Decke gegangen, weil du dich geweigert hast, ihn anzuziehen. Du hast geweint.«
Er lächelte in Gedanken an irgendeine Erinnerung. »Lennys Mum. Er hatte ihr erzählt, was passiert war, sie war zu der Zeit bereits in einem Heim und ein bisschen neben der Spur, und sie sagte zu ihm: ›Vielleicht hättest du ihr einen von diesen stimulierten Pelzmänteln schenken sollen.‹« Jack schnaubte und kämpfte gegen ein Lachen an.
Wieder heftete er seinen Blick auf mich. »Aber was ich über uns gesagt habe, über das erste Mal, das war doch gut, oder?« Er klang beinahe flehend.
»Was du oben gesagt hast ...« Sein Daumen rieb Kreise in meine Handfläche.
»Ja«, sagte ich. »Das meinte ich ernst.«
»Ich liebe dich, Alice.«
»Du bist betrunken, Jack.« Ich entzog ihm meine Hand.
»Nein, ich weiß, aber du warst anders als die anderen. Du warst etwas Besonderes. Wir wollten beide ... habe dich geliebt.« Er richtete sich auf und sah mich vorwurfsvoll an. »Er wollte nicht teilen.«
»Was soll das heißen, er wollte nicht teilen, Jack? Ich bin ein Mensch, keine ... keine ... elektrische Eisenbahn.«
»Wir haben alles geteilt«, sagte er. Bockig, wie ein Kind.
»Wirklich? Habt ihr euch auch Val geteilt?«
»Val?« Jack setzte sich auf. »Val, meine Frau?«
»Ja, Val, deine Frau. Wie viele Vals kennst du noch?«
»Natürlich nicht.« Er machte ein angewidertes Gesicht.
»Oh, also Val nicht. Nur all die anderen. Dann ist es ja gut. Ich kann es einfach nicht fassen, dass ich hier sitze und mir das anhöre. Offensichtlich ist dir nie in den Sinn gekommen, dass ich zu dem Thema auch eine Meinung haben könnte.«
»Nun, das hast du ja gezeigt.« Wieder dieser triumphierende Blick. »Ich habe dich nicht gezwungen, oder?«
»Nein, aber ...« Verwirrt schaute ich auf den Tisch. »Das meinte ich ...«
»Du wolltest es, Bunny Alice. Genauso sehr wie ich.« Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück und versuchte, mit den Fingern nach mir zu schnipsen. »Komm her.«
Sein Gesichtsausdruck war es, der mich auf die Palme brachte. Verschlagen, eingebildet, arrogant – alles auf einmal. Und die Art, wie er offensichtlich davon ausging, dass ich ihn immer noch unwiderstehlich fand, obwohl er voll wie eine Haubitze war. Und weil das, was er gesagt hatte, stimmte. Ich hatte es gewollt, genauso sehr wie er, und das wusste er.
»Halt einfach die Klappe! Ich hab's satt. Entweder erzählst du mir jetzt, was los ist, oder du ... verschwindest einfach. Klar?«
Jack starrte mich an. »Ich weiß gar nicht, warum du plötzlich so hysterisch wirst.«
»Pass auf«, sagte ich so ruhig wie möglich. »Ich kümmere mich jetzt um das Essen, denn wenn du nicht bald etwas isst, fällst du von diesem Stuhl da, und ich muss dich vom Boden aufsammeln. Ich weiß nicht, warum du hier bist. Ich weiß nicht mal, ob du weißt, warum du hier bist oder warum du mein Zimmer durchsucht oder meine Post versteckt hast, denn ich weiß verdammt genau, dass du das getan hast, doch im Augenblick ist mir das völlig egal. Wir essen zusammen, und morgen früh fährst du wieder, und das war's.« Ich riss die nächstbeste Schublade auf und holte Messer und Gabeln heraus.
Jack zog sich auf die Füße und torkelte auf mich zu, die Scotchflasche in der Hand. »Du hast damit angefangen, Alice«, sagte er. Seine Augen blitzten. »Es war zuerst deine Idee.«
Ich hatte das Gefühl, als hätte mir jemand einen Schlag in die Magengrube versetzt.
»Lenny hat es mir erzählt«, sagte er. »Es war deine Idee .«
Das Glas in seiner Hand verschwamm in der Luft, als er den Arm hob. Ich bin nicht ganz sicher, was danach passierte. Ich weiß, dass ich das Besteck nach ihm geworfen und die Hände vors Gesicht geschlagen habe, dann gab es einen Krach, und als Nächstes sah ich durch die Finger, wie Jack seitwärts stolperte und praktisch auf Eustace fiel, der zurückschoss und mit dem Geschirrschrank kollidierte. Der Schrank geriet ins Wackeln und Teller flogen herunter. Wir bewegten uns erst wieder, als Stille eingetreten war.
Jack murmelte irgendwas von einer Zigarette, und ich erwiderte irgendwas, aber ich habe keine Ahnung mehr, was. Es kostete mich enorme Mühe, nicht zusammenzuzucken, als er über mich hinweg die Flasche auf den Tresen stellte. Er verschätzte sich jedoch in der Entfernung, und die Flasche zersplitterte zu unseren Füßen.
»Gute Arbeit, sie war sowieso fast leer«, sagte ich. Die Worte klangen zu fröhlich, zu dumm.
»Lenny hat gesagt, es war deine Idee«, wiederholte Jack, als hätte ich ihm widersprochen. »Er hat es mir erzählt.«
»Was, zum Teufel, meinst du damit? Ich habe keine Ahnung, wovon du redest. Herrgott, setz dich einfach da hin und lass mich die Schweinerei hier wegmachen.«
Während ich mich hinunterbeugte, um Kehrschaufel und Besen aus dem Schrank zu holen, hörte ich hinter mir eine Flasche klirren. Als ich mich umdrehte, saß Jack wieder am Tisch und schenkte sich ein Glas Rotwein ein.
»Weißt du, wie ich erfahren habe, dass er tot ist, Alice? Durch eine Schlagzeile.«
»Aber Don Findlater hat doch bestimmt ...«
»Wir waren auf einer Jacht. Er konnte mich nicht finden.« Jack schüttelte den Kopf. »Eine Schlagzeile in einer verdammten Zeitung.«
»Versuch etwas zu essen.« Ich stellte einen Teller mit Coq au vin vor ihn und holte Besteck. Er aß und trank ein paar Minuten lang nachlässig, bekleckerte sein Hemd mit dunkler Sauce und wischte mit dem aufgeknöpften Ärmel durch eine Rotweinlache auf dem Tisch, dann schob er den Teller weg.
»Du isst ja gar nichts.«
»Ich habe keinen Hunger, Jack.«
»Dann hör auf, mich anzuglotzen. Ich bin kein Affe im Zoo.«
»Wenn du willst, gehe ich weg.« Ich stand auf und setzte mich mit Eustace aufs Sofa. Jack aß noch ein bisschen, dann schob er endgültig den Teller von sich. »Es tut mir Leid«, sagte er. »Ich wollte nicht – du weißt schon. Ich war sauer, mehr nicht. Hab mich hinreißen lassen. Egal, jedenfalls geht's mir jetzt viel besser. Lass uns doch einen Spaziergang machen.«
Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Viertel nach elf. Der Pub hatte zu. Wenn wir aus dem Haus gingen, war er wenigstens eine Weile von der Alkoholquelle weg. Ehrlich gesagt – gemeinsame Geschichte hin oder her – war ich an dem Punkt angelangt, wo es mir egal war, was passierte, Hauptsache, ich wurde ihn am nächsten Morgen wieder los.
Jack ergriff die Weinflasche und sah mich erwartungsvoll an. »Gläser?«
»Du hast schon eins.«
»Und woraus willst du trinken?«
»Na gut.« Ich nahm ein sauberes Glas aus dem Schrank.
Eustace beobachtete mich, machte jedoch keine Anstalten, uns zu folgen.
Ich schlug den Weg ins Dorf ein, Jack neben mir. Erstaunlich, wie sicher er sich auf den Beinen hält, dachte ich, wenn man bedenkt, wie betrunken er ist.
Es war recht warm draußen und hell, denn der Mond war beinahe voll, und es war kaum bewölkt. Bis auf ein gelegentliches Rascheln war es still, und wir sagten beide nichts, bis die Kirche hinter den Bäumen auftauchte. Jack lachte. »Zum Beichten ist es wohl ein bisschen spät, wie?«
»Ich weiß nicht, Jack. Ist es das?«
»Ich habe nicht ... ach, vergiss es.« Er ließ eine rauchige Parodie auf einen Schulchor vom Stapel: »Lo-bet den Herrrren ...!«
Ich zog ihn am Ärmel und versuchte, ihn zum Schweigen zu bringen, aus Sorge, dass er die Leute in den umliegenden Häusern wecken würde. Aber er hörte von allein auf. »Was ist das?«, zischte er. »Da hinten, was ist das?« Er zeigte auf die Stelle, wo der Weg in die Hauptstraße einmündete. Ein Mädchen stand dort. Im orangefarbenen Schimmer der Straßenlaterne an der Ecke war sie gut zu erkennen: jung und schlank, mit langen Haaren, die ihr über den Rücken fielen, die Hände in den Taschen ihrer Jeansjacke.
»Es ist ein Geist«, flüsterte er.
Überrascht entdeckte ich echte Furcht in seinen Augen. »Sie ist wahrscheinlich eine Tramperin. Keine Sorge.«
»Alice, du weißt es nicht. Alles ist viel näher, als dir bewusst ist. Um Himmels willen, lass uns von hier verschwinden.« Jack wandte sich ab und fing an, am Riegel des Tors zum Friedhof herumzufummeln. »Das bringt Pech. Ein Omen. Ich will sie nicht sehen.«
Wir liefen den Weg zwischen den Grabsteinen entlang. »Lass uns was trinken.« In der Nähe der Kirche gibt es eine Bank, die um den Stamm einer großen Eiche gebaut ist. Dorthin setzten wir uns. Ich ließ mir ein Glas Wein von ihm einschenken, allerdings nicht, weil ich trinken wollte, sondern damit die Flasche leer wurde, und da ich nicht in dieselbe Richtung schaute, war es leichter, nur so zu tun, als würde ich trinken, und den Wein auf die Erde zu schütten.
»Du bist doch sonst nicht abergläubisch«, sagte ich.
»Ich habe mal eine Geschichte gehört. Eine Tramperin, jung, wie die da drüben, wurde umgebracht, und seither steht ihr Geist an der Stelle, wo sie eine Mitfahrgelegenheit bekommen hat, und jeder, der sie mitnimmt, hat einen Unfall. Die Fahrer sterben immer.«
»Wie ist sie ums Leben gekommen?«
Jack antwortete nicht.
»Klingt wie ein schlechter Horrorfilm.«
»Woher willst du das wissen? Es könnte wahr sein.«
»Ja, das könnte es.« Ich wandte den Blick nicht von der Mauer des Mausoleums der Familie Selwood und sagte: »Sie könnte in einem Auto auf dem Grund eines Sees geendet haben, oder?«
Nur die Bäume raschelten. Jack murmelte etwas.
»Ich hab dich nicht verstanden.«
Er beugte sich vor. Ich dachte, er müsste sich übergeben, doch er vergrub das Gesicht in den Händen. »Susie, meine Tochter. Sie ist tot.«
»Das tut mir Leid, Jack.«
»Sie wollte nichts essen. Val hat alles versucht, ihre Lieblingsessen gekocht ... Sie wollte einfach nicht ... Zweimal war sie im Krankenhaus, in einer Spezialklinik, aus der man erst entlassen wird, wenn man zugenommen hat. Wir dachten, es funktioniert, aber sie konnte sich so auf die Waage stellen, dass es aussah, als wöge sie mehr.«
Er sah auf. »Wir wussten es nicht, Alice. Und als sie wieder nach Hause kam und Val mir sagte, sie hätte wieder angefangen zu essen, nicht viel zwar, dachte ich, es sei wieder normal, weil Mädchen doch immer auf irgendeiner Diät sind, oder? Die Hälfte liegen lassen. Alle Mädchen. Frauen. Du tust es auch. Seit ich dich kenne, tust du das.«
Ich dachte an die große Waage der Bunny-Mutter, so eine, auf der man Kartoffelsäcke wiegt, und daran, wie ich bei Anproben die Luft angehalten und den Bauch eingezogen habe, damit die Nähte nicht kneifen, denn man merkte sofort, wenn man ein paar Pfund zugenommen hatte. »Wir haben Pillen genommen. Das weißt du, du hast sie immer geklaut.«
Jack machte ein schockiertes Gesicht. »Ich habe sie nie mit nach Hause genommen. Was Susie hatte, war etwas ganz anderes. Eine Krankheit. Anorexia nervosa.«
»Ich glaube, ich habe darüber gelesen, aber ... Es tut mir so sehr Leid für dich, Jack.«
»Val hat einen Eimer in Susies Schrank gefunden. Sie hat sich nach dem Essen den Finger in den Hals gesteckt, deswegen hat sie nie ... und es wurde immer schlimmer.«
»Hast du denn nicht gemerkt, dass sie nicht zunimmt?«
»Man konnte es nicht sehen. Sie trug doch immer nur so weite Sachen. Und ich war viel weg. Arbeiten.«
»Aber du hast gesagt, der einzige Job ...«
»Ich habe nicht dort gewohnt. Sieh mich nicht so an. Val ging es gut, das Haus ist bezahlt. Ich brauchte einfach ein bisschen Zeit für mich.«
»Wann bist du ausgezogen?«
»Hmmm ... Zweiundsiebzig.«
»Vor vier Jahren?«
»Starr mich nicht so an, Alice. Val hat mir schon genug Ärger gemacht, da musst du nicht auch noch auf mir rumhacken. Es ist ja nicht so, dass ich sie nie besucht habe. Und danach habe ich die Wohnung verkauft und bin zurückgekommen. Val wollte es so. Sie hatte eine schwere Zeit hinter sich. Susie wog achtundzwanzig Kilo, als sie starb.« Er seufzte. »Zuerst hat Val Rosalie dafür die Schuld gegeben, hat gesagt, sie hätte ihr mit ihren dauernden Diäten Flausen in den Kopf gesetzt. Dann sagte sie, es wäre meine Schuld. Behauptete, Susie wollte meine Aufmerksamkeit. Sie hätte doch zum Telefon greifen können. Wusste ... wusste doch, wo ich war. Was Val gesagt hat ... sie fühlt sich schuldig. Herrgott, sie ist ihre Mutter, nicht ich ... sie hätte etwas tun müssen. Rosalie weigert sich, mit mir zu reden. Kein Wort. Ich habe ihr das Geld gegeben. Für das Kunstprojekt ...«
»Jack?« Schwankend hob er den Kopf und berührte den Stamm der Eiche. Ich legte eine Hand an seine Wange und drehte seinen Kopf zu mir. Er wirkte so verwirrt, dass er mich womöglich gar nicht wahrnahm. Ich strich ihm übers Haar. »Komm. Es ist Zeit, nach Hause zu gehen.«
»Nein!« Seine Hand schoss hoch und griff nach meiner. »Erst, wenn sie weg ist.«
»Wer?«
»Das Mädchen. Da drüben.«
»Soll ich hingehen und nachsehen?«
»Nein. Lass mich nicht allein.«
»Ich bin doch gleich wieder da.« Es war unmöglich, sich seinem Griff zu entziehen. »Jack, ich kann nicht, bitte ...«
»Nein! Ich will es nicht.«
Ein paar Minuten saßen wir schweigend da. Jacks Kopf fiel auf meine Schulter, aber er ließ mich nicht los. »Es ist bedeutung... bedeutungslos. Was Lenny immer gesagt hat ... wenn es einen ... du weißt schon, da oben irgendwo ... muss wie eine ... eine Kraft sein. Elektrizität. Keinen Grund ... warum Dinge geschehen. Zufall. Keinen ... verfluchten ... Sinn.«
Mein Handgelenk fühlte sich an, als wäre es in einem Schraubstock gefangen. »Wo ist der Wein, Jack? Warum trinkst du nicht noch ein Glas?« Die Flasche stand auf dem Boden, und Jack ließ meine Hand los, um nach ihr zu greifen. Blitzschnell stand ich auf. »Warte hier.«
Ich hörte ihn etwas murmeln, das wie Schlampe klang, aber er versuchte nicht, mich aufzuhalten. Als ich zurückkam, lag er mit angezogenen Knien auf der Bank, die leere Flasche in der Faust. »Alles in Ordnung, sie ist weg.«
»Wartet ... auf dem Weg ...«
»Nein. Ich habe nachgesehen. Lass uns nach Hause gehen, okay?«, sagte ich und versuchte, ihn hochzuziehen.
Er grinste anzüglich: »Oh, du bist ja so stark ...«
»Im Schleppen von Mehlsäcken«, sagte ich. »Komm schon.«
»Sei sanft mit mir.«
»Ach, sei ruhig, Jack. Beweg dich!«
»Morgen früh wirst du keinen Respekt mehr vor mir haben.«
»Ich habe jetzt keinen Respekt mehr vor dir. Steh auf.«
»Warte.« Er torkelte hinter den Baum, erbrach sich und wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab, als er wiederkam. »Besser.«
»Gut.« Auf dem Weg war Jack kleinlaut. Ich überlegte die ganze Zeit, wie um alles in der Welt ich ihn zu Hause die Treppe hochbringen sollte, aber als wir dort waren, ließ er sich Schuhe und Hose ausziehen und auf dem Küchensofa ins Bett bringen. Ich deckte ihn mit einem Damasttischtuch zu – das einzige, das groß genug war – und wollte gerade nach oben gehen, als er murmelte: »Bleib bei mir.«
»Nein.«
»Bitte, Alice. Ich will nicht allein sein.«
»Nein. Auf gar keinen Fall.«
Jack streckte die Hand aus. »Ich werde dir nichts tun. Will dir nur was erzählen.«
»Na gut.« Ich setzte mich neben ihn. »Aber mach schnell. Ich bin müde.«
»Über meinen Vater. Als ich klein war. Er hatte aus einem alten Besenstiel Schachfiguren für mich geschnitzt. Hat Wochen gedauert. Er hat gerne mit den Händen gearbeitet, dann war er beschäftigt, aber manchmal bekam er diese düsteren Stimmungen, dann wollte er mit niemandem reden, sondern saß nur da und starrte stundenlang ins Feuer.
Man wusste nie, wann es passieren würde, es überkam ihn einfach, und dann war es, als wären Mum und ich nicht mehr da. Man konnte nicht mit ihm in einem Zimmer sein, deswegen hielten wir uns in der Küche auf, aber an diesem einen Abend haben wir um die Ecke geschaut, und da sahen wir, wie er Sachen ins Feuer wirft, ein Ding nach dem anderen, und zuschaut, wie sie verbrennen. Meine Mutter flüsterte mir zu, ich soll hineingehen und nachsehen, was er macht, denn er konnte ein bisschen unberechenbar sein, wenn er so war, und das machte sie nervös, für den Fall, dass er es ihr in die Schuhe schieben würde, verstehst du. Ich bin auf Zehenspitzen zu seinem Stuhl geschlichen, und er hatte die Schachfiguren auf dem Schoß und warf sie in die Flammen. Erst die Bauern, dann die Türme und die Läufer, dann die Springer, die Könige und die Damen ... Hörte erst auf, als alle verbrannt waren. Es war das Einzige, was er je für mich gemacht hatte, aber er hat nie gesagt, warum er sie verbrannt hat.« Jack schloss die Augen. »Ich habe seit Jahren nicht daran gedacht. Alice, hörst du mir zu?«
»Ja.«
»Ich weiß, dass ich nicht besonders gut zu Val oder den Mädchen war, aber ich habe nie ... ach, ich weiß nicht. Keine Ahnung, warum ich dir das erzählt habe. Nur ... Bleib bei mir, Schätzchen.«
Ich ließ seine Hand los und stand auf. »Es tut mir Leid, aber ich muss ins Bett. Allein. Endgültig.«
»Okay«, sagte er demütig. »Mir tut es auch Leid. Bis morgen.«
»Weiß Gott, was das jetzt wieder sollte«, sagte ich zu Eustace, der in der Diele auf mich wartete. Er bedachte mich mit einem unheilvollen Blick und stürmte die Treppe hinauf an mir vorbei ins Schlafzimmer. Bevor ich mich auszog und die Vorhänge zuzog, klemmte ich einen Stuhl unter die Türklinke, dann ging ich ins Bett. Gleich darauf stand ich noch einmal auf und holte ein Nachthemd aus der Kommode. Eins von diesen aufgebauschten Dingern mit Spitze und Broderie anglais. Darin fühlte ich mich irgendwie ein bisschen sicherer.
Als ich mich dann wieder hingelegt hatte, landete Eustace mit einem lauten Plumps neben mir. Ich spürte eine schwere Pfote auf dem Bauch, gefolgt von seinem Kinn. Seine Augen leuchteten im Dunkeln. Ich streichelte seinen Kopf. »Dann verzeihst du mir also?« Er gähnte.
Jack war nie depressiv gewesen, jedenfalls soweit ich mich erinnerte, aber er war schon immer ein Choleriker. Ich dachte, die Leute übertreiben, wenn sie von seinen Wutanfällen erzählten, bis ich einmal erlebte, wie er in einem Studio total durchdrehte. Er drohte, dem Produzenten ein Mikrofon in den Arsch zu rammen, wenn dieser nicht auf der Stelle irgendein technisches Problem lösen würde, und wir waren alle davon überzeugt, dass er es ernst meinte.
Wann war das? Sie hatten ein Album aufgenommen, Sketche, und Lenny saß abgelenkt in einer Ecke und redete mit niemandem. Ich dachte, das wäre normal – ein Kater –, aber ... Es war ihr letztes gemeinsames Album, Jack und Lenny in Aspik. 1969 muss das gewesen sein. Ostern? Vor der Party in Ivar jedenfalls. Da kamen Jack und Lenny noch gut miteinander aus, anders als nach ihrer Rückkehr aus den Staaten. Ich versuchte mich zu erinnern, wann es angefangen hatte, schief zu laufen. Lennys Trinkerei trug dazu bei, aber er trank schon eine ganze Weile.
Obwohl ich mir Sorgen machte, was Jack Lenny wohl über uns erzählt haben könnte, hatte ich den Grund für ihren Streit nie richtig verstanden, denn wenn es nur darum gegangen wäre, hätte Lenny etwas gesagt. Ich hatte angenommen, dass es etwas mit ihrer Arbeit zu tun hatte, wahrscheinlich gingen sie sich gegenseitig auf die Nerven – jede Beziehung hat ihre Krisen –, aber ich hatte nicht mit Lenny darüber gesprochen. Er schien es nie zu wollen, und ich hätte ihm sowieso keinen Rat geben können. Ich meine, es war nicht meine Welt, so wie der Klub nicht seine war. Die Polizei ist auf der Suche nach Maxteds früherem Partner, Jack Flowers ...
Ich schloss die Augen, und Kittys Gesicht tauchte vor mir auf, grünliches Fleisch und wie Seegras umherschwimmende Haarsträhnen. Sie beobachtete mich mit diesem wissenden Lächeln. O Gott, was geschieht hier?
Zusammengerollt starrte ich dumpf auf den Kissenzipfel, bis mir bewusst wurde, wo ich den Namen Danny Watts schon einmal gehört hatte. Als Jack mich gefragt hatte, ob ich ihm schon mal begegnet war, hatte nichts bei mir geklingelt, weil ich ihm nicht begegnet war. Aber ich hatte seinen Namen gesehen. Am Kühlschrank. Auf einer von Lennys Listen. Menschen, die es verdienen, erschossen zu werden. Schiefe Großbuchstaben auf liniertem Papier, herausgerissen aus einem Kalender. Wer war er? Kein Verwandter. Kein Freund, soweit ich wusste. Ein Kritiker? Der Name klang irgendwie nicht richtig. Ein Kritiker hätte einen – na ja, schickeren Namen. Schauspieler? Regisseur? Kein Komiker – das wüsste ich.
Beunruhigt setzte ich mich im Bett auf.
Danny Watts. DannyWattsDannyWattsDannyWatts.
Irgendwo war Lennys Adressbuch. In einer Kiste auf dem Speicher. Wer Danny Watts war, das würde allerdings auch da wohl nicht drinstehen. Vielleicht hatte er Tabletten verkauft. Ich könnte so tun, als wäre ich süchtig oder so, und ...
»HIMMELHERRGOTT!«
Ein Krachen, so laut, dass ich vor Schreck zusammenfuhr. Eustace floh aus dem Bett, als hätte ihm jemand einen Tritt versetzt, und rannte knurrend zur Tür. Ich umschlang zitternd meine Knie, schloss die Augen und fing an, bis zehn zu zählen – eins – zwei – dr – Wieder ein Krachen. Ein Bersten und dann ein Geräusch, als wäre etwas gegen die Wand geflogen, auf dem Boden gelandet und zerbrochen. Kein Glas. Plastik? Das Telefon, o Gott, nicht das Telefon. Dann herrschte Stille. Ich hörte nur noch mein Herz schlagen.