Kapitel 17

Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis ich mich bewegte – im Nachhinein gesehen wahrscheinlich nur eine halbe Minute, aber ich hatte das Gefühl, es dauerte viel länger und kostete schrecklich viel Kraft, doch schließlich wagte ich mich aus dem Bett, löste den Stuhl unter der Türklinke und schlängelte mich an Eustace vorbei, der, ganz außer sich, weil er hinunterwollte, angefangen hatte zu jaulen und auf dem Holzboden zu scharren. »Du bleibst hier«, flüsterte ich. »Bitte. Bleib. Hier. Ich bin gleich wieder da.«

In der Küche brannte Licht. Jack stand mit düsterem Gesicht, torkelnd wie ein sturzbetrunkener Boxer, unter der Lampe, den Hörer in der Faust und den Rest des Telefons zerstört zu seinen Füßen. Er hatte es aus der Wand gerissen.

Ich zögerte eine Sekunde lang, dann hechtete ich zur Hintertür. Sah Jack einen Schritt auf mich zu machen. Sah Blut auf seiner Stirn. Schlängelte mich an ihm vorbei, während er versuchte, mich festzuhalten, und ins Leere griff. Riss an der Klinke – Gott sei Dank, nicht abgeschlossen – und rannte über den Hof auf die Straße.

Telefonzelle. Auf dem Dorfanger. Vorbei an der Kirche, am Pfarrhaus, an Häusern, einem Hoftor. Steine. Füße, Schmerzen – muss zur – Telefonzelle. Ich riss die Tür auf. Lass sie nicht zerstört sein. Gut. Jack – folgt mir nicht – Ruhig – bleib ruhig. Geld – o Gott, kein Geld – Polizei – umsonst – Aber die Polizei würde sagen ... geht sie nichts an – Jack hatte mich nicht geschlagen – oder – ich hätte es herausgefordert – Wen anrufen? Warte. Erst mal Luft holen. Denk, denk nach ... Wechselgeld ... Ich steckte die Finger in den Schlitz und ... zwei Pence. Danke, lieber Gott. Ich starrte die Münze in meiner Hand an. Der Ärmel meines Nachthemds war zerrissen. Ich erinnerte mich nicht, dass es passiert war.

Wen konnte ich anrufen? Mum hat noch nie ein Telefon gehabt. Jeff? Der Betonboden fühlte sich wie Sandpapier unter meinen Fußsohlen an. Ich fing an zu zittern. Ja, Jeff. Gut. 0-1-4-3-5-4-8-6-1. Komm, mach schon, geh ran. Jeff war schon immer ein Nachtmensch. Wenn er zu Hause war. Aber dann war höchstwahrscheinlich jemand bei ihm, und er würde nicht ans Telefon gehen. Bitte, Jeff, ich bin's ... Dann hörte ich ein Klicken und eine Stimme, und einen Moment lang dachte ich, es wäre Jeff, und fing an zu sprechen, aber die Stimme hörte nicht auf zu reden, und ich begriff, dass es der Anrufbeantworter sein musste. Ich wollte gerade auflegen, da sagte die Stimme, ich könnte eine Nachricht hinterlassen.

»Jeff, hier ist Alice. Es tut mir Leid, aber –« Es piepte, dann wieder Ruhe. »Bist du noch da? Entschuldige, ich weiß, dass du nicht wirklich da bist. Ich weiß nicht, ob du das hier hören wirst, aber hier ist Alice. Ich weiß, das habe ich schon gesagt, aber es ist nur ... hör mal, tut mir Leid, aber ich bin ein bisschen in Schwierigkeiten, und ich wusste nicht, wen ich anrufen soll. Nur ... es ist Jack ... Jack Flowers, Lennys Partner, er ist hier, und er ist ... ich glaube, er wird verrückt. Ich habe anonyme Briefe mit der Post bekommen, Zeitungsausschnitte. Ich bin in einer Telefonzelle, mein Telefon ist kaputt, Jack hat es kaputtgemacht, deshalb kannst du nicht anrufen. Ich meine ... ich weiß eigentlich nicht, was ich rede, wirklich, nur ... ich bin ein bisschen durch den Wind, und ... Hör mal, ich muss jetzt Schluss machen, weil ... die Tiere und alles, aber ...«

Ein langes Piepen. Ich konnte nicht noch mal anrufen – kein Geld mehr. Jetzt wird er denken, dass ich endgültig reif für die Klapsmühle bin. Er hat ja schon immer gesagt, dass ich spinne.

Ich legte auf, rutschte an der Wand herunter und setzte mich auf den Boden. Was jetzt?

Val. Sie weiß nicht einmal, wo Jack ist. Ich hätte sie zuerst anrufen sollen. Sie musste krank vor Sorge sein, wenn sie in der Zeitung gelesen hatte, dass die Polizei mit ihm sprechen wollte. Nein, das konnte ich ihm nicht antun. Oder Val, wenn man es genau nimmt. Jack hatte schon genug Schwierigkeiten. Und außerdem, seine Karriere – was davon übrig war, und ... Und Lenny. Ich wollte nicht, dass man sich an ihn, na ja, eigentlich an beide, nur wegen so einer schrecklichen Geschichte erinnerte. Nach Lennys Tod war es schlimm genug. Leute, die er kaum gekannt hatte, behaupteten, seit Jahren seine besten Freunde zu sein, und erzählten den Zeitungen Sachen über Alkohol und Drogen und wie er sein Talent verschwendet hatte. Ich wollte, dass man sich an ihn erinnerte, weil er die Menschen zum Lachen gebracht hatte, denn das war es, was zählte. Der Rest ging niemanden etwas an. Und die Frau in dem Auto – Kitty, oder wer auch immer sie war –, nun, sie war tot, oder? Die Polizei würde sie sicherlich identifizieren können, man würde ihre Eltern benachrichtigen, und dann konnte man sie begraben und ... na ja, das war die Hauptsache. Dazu brauchten sie Jack nicht.

Ich stand auf und wählte die Nummer der Vermittlung, hoffte, dass sie mich zur Auskunft durchstellen würde – was sie tat – und dass Jack und Val im Telefonbuch standen – was sie taten. 0-7-0-7-8-7-9-2-6-4. Gut. Ein R-Gespräch.

Ich wählte wieder die Nummer der Vermittlung, im Geiste immer wieder Jack und Vals Nummer wiederholend. »Mein Name ist Rosalie«, sagte ich zu der Frau, betend, dass Rosalie nicht zu Hause bei Val war. »Ich bin ihre Tochter.« Ich wartete, kreuzte die Finger, während die Telefonistin ihre Arbeit machte, und dann ...

»Sprechen Sie bitte.«

»Danke. Hallo?«

Ich erinnerte mich an Vals Stimme, sanft und ein wenig lispelnd. »Hallo? Rosie, um Himmels wil...«

»Nein ... Nein, hier ist nicht ... Entschuldigung, und es tut mir Leid, dass ich so spät störe ...«

»Wer ist da?«

»Ich weiß nicht, ob du dich an mich erinnerst, ich heiße Alice, Alice Jones. Leider habe ich kein Geld bei mir, und es ist ein bisschen ...«

»Wie kommst du darauf, dass ich dir irgendetwas zu sagen hätte?«

»Es ist nicht ... ich meine, das glaube ich auch nicht, aber es geht um Jack, er ist ...«

»Ich will es nicht wissen. Du hast vielleicht Nerven, mich anzurufen.«

»Bitte, Val. Jack ist in einem schrecklichen Zustand.«

»Nun, Mrs. Jones, du hast dein Bett gemacht, oder? Und wie man sich bettet, so liegt man.«

»Ich bin nicht ...«

Sie legte auf.

Ich trat aus der Telefonzelle, riss die herabhängende Spitze vom Ärmel meines Nachthemds und trug sie zum Abfalleimer. Ich hatte Val nur ein paar Mal bei irgendwelchen Essen getroffen, aber sie wusste, dass ich Lennys Freundin gewesen war. Jedenfalls eine von ihnen. Schwarze Locken, graue Augen, spitze Nase, elegant. Sie hatte mich an das Bild einer Hexe in einem Kinderbuch erinnert.

Das letzte Mal habe ich sie bei Lennys Beerdigung vor sechs Jahren gesehen, doch am Telefon hatte sie sofort gewusst, wer ich bin, obwohl ich mich mit Jeffs Familiennamen gemeldet habe. Und sie war nicht überrascht gewesen. Als ich Jack erwähnte, sagte sie, sie wollte nichts wissen, was seltsam ist. Es sei denn, sie wusste es bereits. Dass er hier ist, meine ich. Obwohl ich davon eigentlich gar nichts gesagt habe. Oder doch? Ich konnte mich nicht erinnern. Wie auch immer, warum sollte er ihr das sagen? Er war immer wie besessen darauf bedacht gewesen, die beiden Hälften seines Lebens zu trennen. Man sagt, dass die Ehefrauen es immer als Letzte erfahren, aber sie musste einfach irgendeine Ahnung haben. Und sie wusste offensichtlich auch, oder nahm es zumindest an, dass ich mit ihm geschlafen hatte. Sie muss mir gegenüber empfinden wie ich Kitty gegenüber, dachte ich. Das konnte ich ihr nicht verübeln. Wenn ich mit Jack verheiratet wäre, würde ich nicht nur mich verdächtigen, sondern jede Frau auf diesem Planeten. Arme Val. Wohlgemerkt, wenn Kitty je »arme Alice« zu mir gesagt hätte, hätte ich sie eine Heuchlerin genannt, und das mit Recht.

Kopfschüttelnd sah ich an mir hinab. Mein Nachthemd war staubig und zerknittert, und der weiße Baumwollstoff wirkte ganz grau im Mondlicht. Wie ein Leichentuch – das schon eine Weile unter der Erde gelegen hatte. Ich sah wahrscheinlich auch so aus. Meine Füße verfärbten sich langsam blau.

Ich machte mich auf den Weg zurück zur Farm. Am Tor blieb ich stehen. Was zum Teufel tue ich hier, dachte ich. Retten Sie sich selbst, hatte der Arzt gesagt. Er meinte damit vor Lenny, aber es lief auf dasselbe hinaus. Jack konnte mir etwas antun. Er hatte gesagt, er würde mir nichts tun, aber ich hatte den Ausdruck in seinem Gesicht gesehen, als ich in der Küche an ihm vorbeigerannt war. Als er, die Scotchflasche schwingend, auf mich zu gekommen war, hatte er auch so böse ausgesehen, und im nächsten Augenblick hatte er sich ganz zerknirscht entschuldigt. Morgen früh erinnert er sich wahrscheinlich gar nicht mehr daran, dachte ich. So war es bei Lenny immer gewesen, und der konnte ziemlich gemein sein, wenn er getrunken hatte. Wir hatten dann die schlimmsten Streits, und wenn ich ihn an die Dinge erinnerte, die er gesagt hatte, war er zutiefst betroffen, schwor, dass er es wieder gutmachen würde, und flehte mich an, ihn nicht zu verlassen.

Retten Sie sich selbst. Ich sah zu meinem Auto hinüber. Der Schlüssel war in meiner Tasche in der Küche. Jack auch. Ich hörte ein Schnauben vom Feld. Pablo. Und Eustace wartete im Schlafzimmer auf mich. Ich konnte sie nicht im Stich lassen. Ich hatte keine Wahl. Dies ist mein Zuhause. Ich kann sonst nirgendwo hin.

Alles war dunkel. Ich kann es nicht riskieren, ihn aufzuwecken, dachte ich und ging um das Haus herum. Das Wohnzimmerfenster stand einen Spalt offen, deshalb raffte ich mein Nachthemd, kletterte hinein, schlich durchs Zimmer, zog vorsichtig die Tür auf und trat leise in die Diele, wo ich stehen blieb und angestrengt auf irgendwelche Geräusche aus der Küche lauschte. Stille. Ich ging auf Zehenspitzen die Treppe hinauf. Wenn man auf die richtigen Stellen trat, knarrte sie nicht. Ich schloss die Tür, klemmte den Stuhl wieder unter die Klinke, kletterte – schmutzig, wie ich war – ins Bett und versuchte nicht daran zu denken, was passieren würde, falls Jack beschloss, mir Gesellschaft zu leisten. Wenigstens ist Eustace da, dachte ich, als der Hund auf mich draufkletterte und mich mit der Nase stupste. Nach ein paar Minuten rollte er sich zusammen und begann zu schnarchen. Vals Worte kamen mir wieder in den Sinn: Du hast dein Bett gemacht, oder? Wie man sich bettet, so liegt man. Das hatte ich jetzt. Mich gebettet, meine ich. Plötzlich fiel mir wieder ein, was Jack gesagt hatte – Es war zuerst deine Idee. Dass wir miteinander geschlafen hatten? Nun, das konnte er nicht meinen, denn das war nicht meine Idee gewesen. Ich meine, klar hatte ich es getan, aber er war zu mir gekommen, nicht ich zu ihm.

Du hast mit allem angefangen, hatte auch Lenny gesagt. Im Cottage in Ivar. Das alles ist allein deine Schuld, hatte er durch die Tür geschrien. War es das, was er gemeint hatte? Hatte Jack ihm erzählt, ich hätte ihn verführt? Nein, es musste etwas anderes sein. Aber was? Ich drehte mich auf den Rücken und starrte an die Decke. Was hatte ich angefangen? Was hatte ich getan?