Ich war erschöpft, konnte aber nicht schlafen, nicht mit Jack unten in der Küche. Merkwürdig, dass es Lenny war, über den ich die ganze Zeit nachdachte, und nicht Jack. Ich glaube, das lag daran, dass – na ja, das letzte Mal war ich davongelaufen, und vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn ich den Mut gehabt hätte, dort zu bleiben. Aber ich hatte Angst gehabt. Ich meine echte Angst. Ich dachte wirklich, Lenny würde mich umbringen.
Manchmal schaue ich zurück – immer noch – und frage mich: Wie konnte all das passieren? Es ist leicht, heute hier zu sitzen und zu sagen, wenn dies, wenn das, aber damals – er verfiel einfach. Ich hätte aufmerksamer sein müssen, aber ich war so aufgeregt wegen des Hauskaufs, und ich dachte, jetzt wird alles so, wie ich es mir erträumt habe. Wir würden renovieren und den Garten in Ordnung bringen, uns einen Hund anschaffen und vielleicht sogar eine Familie gründen. Ehrlich, ich stellte mir das Ganze so vor wie in einer Anzeige für Frühstücksmüsli, nicht wie richtiges Leben. Eigentlich lebte ich in einem Traum. In meinem Kopf war alles wunderbar, und die Probleme würden sich einfach in Luft auflösen.
Derart optimistisch war ich gewesen, dass ich nicht gesehen hatte, wie schlimm es wirklich um Lenny stand. Er hörte nicht auf, über die Amerikaner herzuziehen und was für Schweine sie waren, weil sie ihn gefeuert hatten, und warum es nicht der richtige Film war und warum Jack an allem schuld war, denn schließlich hatte er die Sache ja eingefädelt. Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte, denn bevor sie losfuhren, hatte sich Lenny genauso darauf gefreut, hatte gesagt, es sei ihre große Chance, international bekannt zu werden. Aber ich dachte, ich könnte sein Lamentieren übergehen, es würde sich schon alles finden, sobald wir das Haus hatten, und ich habe einfach nicht begriffen – natürlich habe ich es nicht begriffen, ich wusste ja nicht einmal die Hälfte von allem ...
Und es gab andere Geschichten: Lenny trank mehr und mehr, er war bei einer Reihe von Ärzten gewesen, hatte Tabletten genommen, aber nichts von all dem änderte irgendwas. Er drehte sich im Kreis. »Willst du denn nicht aufhören?«, habe ich ihn immer gefragt. Er sagte, doch, und ich glaubte ihm – wie konnte ich ihm auch nicht glauben? –, aber ich denke nicht, dass er es ernst meinte. Es war beinahe so, als akzeptierte er, dass er mit dem Alkohol sozusagen auf Kollisionskurs war, und niemand, schon gar nicht ich, konnte etwas daran ändern. Fatalismus. Das ist das richtige Wort.
Ich dachte, es läge an mir, weil ich nicht –wichtig genug für ihn war, um mit dem Trinken aufzuhören. Aber wenn er Schuldgefühle wegen der Ereignisse auf der Party hatte, wenn das tote Mädchen Kitty war ... Gib nicht den Kamelen die Schuld. Sollte heißen, es war seine Schuld. Etwas in der Art hatte in der Zeitung gestanden. Ich stand auf und suchte auf dem Boden nach meinen Shorts. Der Zeitungsausschnitt war noch in der Tasche. Ich knipste das Licht an. Hat Schuld Maxted so nah am Ort des tragischen Geschehens in den Freitod getrieben?
Es war, als wäre die Welt stehen geblieben. Wie durch nassen Zement watete ich wieder ins Bett. Seinen Kumpels hatte der bemitleidenswerte Lenny erzählt, er hätte den Sportwagen verkauft ... Die Polizei ist auf der Suche nach Maxteds früherem Partner ...
Ich legte mich auf den Rücken. Mein Körper fühlte sich so schwer an, als könnte jeden Augenblick das Bett unter ihm zusammenbrechen. Mir reicht es, dachte ich. Bitte, lieber Gott, lass mich einfach einschlafen. Ich will nicht mehr über all das nachdenken.
Danach muss ich wirklich eingeschlafen sein, denn ungefähr eine Stunde später weckte mich etwas. Das Haus knarzt manchmal, aber das kenne ich. Es war eher eine Bewegung, allerdings nicht sehr nah. Ich konnte nicht erkennen, ob es von oben oder von unten kam. Ein Kratzen oder Schaben. Große Mäuse mit großen Füßen, dachte ich töricht. Etwas polterte auf den Boden.
Jack? Ich setzte mich im Bett auf. Nichts mehr. Das Haus war wieder still, und Eustace weilte immer noch unter den Scheintoten. Vielleicht waren es wirklich Mäuse. Jack musste längst im Tiefschlaf sein. Er war nicht aufgewacht, als ich durchs Fenster hereingeklettert war, und bei der Menge, die er intus hatte ... Meine Gedanken wanderten zu dem, was der Taxifahrer in Ivar über den eingebildeten Kerl gesagt hatte, den er zum Cottage gefahren hatte. Drogen, das war es, was er gesagt hatte. War das Danny Watts gewesen? Er hatte definitiv auf Lennys Liste gestanden, und Jack hatte mich gefragt, ob ich mich an ihn erinnere. Ich wusste, ich würde nicht mehr schlafen können. Lennys Adressbuch war irgendwo auf dem Speicher. Ich konnte genauso gut hinaufgehen und nachschauen. Alles war besser, als hier zu liegen und sich Sorgen zu machen.
Ich stand auf und schob den Stuhl von der Türklinke weg. Eustace setzte sich auf und sah mich mit schief gelegtem Kopf an, als wollte er mich etwas fragen. »Du bleibst hier«, sagte ich. »Ich bin gleich wieder da.«
Die Taschenlampe in der Hand, ging ich auf Zehenspitzen über den Flur. Um auf den Speicher zu kommen, musste ich die Haupttreppe hinunter, die Diele und das Esszimmer durchqueren, um dann über das zweite Treppenhaus nach oben zu gelangen, wobei eine Menge knarrender Dielen zu umschiffen waren. Ich kam mir in meinem eigenen Haus wie ein Einbrecher vor, aber ich wusste ja nicht, wozu Jack in der Lage war. Wenn er eingeschlafen war, wollte ich ihn keinesfalls wecken.
Der Speicher ist voller Kisten und Koffer. Hauptsächlich Lennys Sachen, eine Menge Gerümpel, mit Tüchern gegen den Staub geschützt. Die nackte Glühbirne ist schwach und staubig und leuchtet nicht bis in die Ecken, und es ist schon ohne den Garderobenständer mit Lennys Hüten und Mänteln, die aussehen wie ein Haufen hohler Männergestalten, gruselig genug. Immer wieder warf ich über die Schulter einen Blick darauf, während ich zu den Kisten ging. Ich glaubte zu wissen, in welcher das Adressbuch lag, aber da war es natürlich nicht, und ich fand es erst in der sechsten.
Als ich es endlich in der Hand hielt, waren meine Fingerspitzen grau vom Staub, meine Füße schmutzig, und mein Nachthemd sah aus wie ein Putzlappen. Ich nahm das Adressbuch und schaute mich noch ein letztes Mal um.
Granddads Sessel stand verloren in der hintersten Ecke – blauer Brokat, von dem die Paspeln abfielen. Der Sitz hing durch, und unten kam die Füllung raus. Unbrauchbar, aber ich behielt ihn, weil es sein Lieblingssessel gewesen war. Der Schonbezug musste runtergerutscht sein, oder ... Moment mal. Da waren doch noch andere Sachen gewesen, noch mehr Kisten und ... wo waren sie? Ich bilde es mir nicht ein, dachte ich, Jack sucht tatsächlich etwas. Er war auch hier oben.
Eigenartig. Ich konnte mich nicht erinnern, Licht unter der Wohnzimmertür gesehen zu haben, als ich die Haupttreppe hinuntergeschlichen war, aber als ich auf dem Rückweg durch die Diele ging, war es definitiv da. Mit klopfendem Herzen stand ich im Dunkeln und überlegte, was ich tun sollte. Hören konnte ich nichts. Ich setzte den Fuß auf die erste Stufe – einen Tick zu weit, denn sie knarrte.
»Alice?«
Nicht bewegen!
»Ich weiß, dass du da draußen bist.«
Nicht antworten!
»Komm und rede mit mir, mein Schatz. Ich bin einsam.«
»Ich wollte mir nur ein Glas Wasser holen«, plapperte ich.
»Nein, wolltest du nicht. Komm schon.«
»Jack, ich bin müde. Wir können morgen früh reden.«
»Ich will dir etwas zeigen.«
»Das habe ich schon mal gesehen«, sagte ich, in der Hoffnung, dass er lachen würde.
Er tat es nicht. »Sieh zu, dass du hier reinkommst.«
»Hat das nicht Zeit?«
»Nein. Muss ich erst kommen und dich holen?«
Ich schlich auf Zehenspitzen zur Wäschetruhe, öffnete vorsichtig den Deckel ein ganz klein wenig, damit ich das Adressbuch hineinschieben konnte, ohne dass die Blumenvase ins Rutschen kam, und schloss ihn mit angehaltenem Atem, so sanft es mir möglich war. Dann ging ich in normalem Tempo zum Wohnzimmer und machte die Tür auf.
Das Erste, was ich auf der gegenüberliegenden Wand sah, war ein Viereck mit sich bewegenden schwarzen und weißen Schatten. Der Film war grobkörnig, Streifen wanderten über das Bild. Zuerst konnte man nur schwer erkennen, was da passierte, ich sah lediglich ein kriechendes Gewirr aus blassen Schatten. Wie viele? Mehr als zwei. Männlich und weiblich. Flecken und Störungen flimmerten über die Leinwand, während sich Schenkel, Waden, Hinterbacken und Bäuche aneinander rieben.
Der Film lief ohne Ton, nur das Summen des Projektors war zu hören. Im Zimmer war es düster und verraucht. Jacks Sessel stand ein paar Meter von mir entfernt, und ich konnte nur seinen Kopf und eine herunterhängende Hand mit einer Zigarette sehen. Ich verrenkte den Kopf und erkannte den Projektor hinter der Tür. Lennys. Vom Speicher. Mitten auf der Anrichte.
»Komm rein und setz dich.« Jack klang völlig nüchtern.
»Du willst einen Pornofilm anschauen?«
»Warum nicht? Es ist deiner.«
»Nein, ist es nicht. Ich schaue mir so einen Quatsch nicht an.«
Jack drehte sich um und sah mich an. »Ich weiß, Schätzchen, aber es ist wichtig.«
»Wichtig? Jack, es ist halb drei Uhr morgens, und das ist ein Porno und nicht mal ein besonders guter, wenn ich richtig sehe.«
»Bitte, Alice.«
Am besten tue ich ihm den Gefallen, dachte ich, denn morgen früh verschwindet der Mistkerl.
Ich quetschte mich hinter dem Sessel durch und setzte mich auf den Teppich vor dem Kamin, so weit weg von ihm wie möglich. Er hatte es nicht geschafft oder sich nicht die Mühe gemacht, seine Hose wieder anzuziehen, und sich das Damasttischtuch, mit dem ich ihn zugedeckt hatte, wie einen Sarong um die Taille gewickelt.
Ich spürte, dass er mich beobachtete, also starrte ich angestrengt auf die Leinwand, ohne wirklich zu sehen, was da vor sich ging. Und das war nicht schwer, weil es sich eigentlich nur um ein großes Puzzle mit abgerundeten Kanten aus beweglichem Fleisch handelte. Man konnte nicht erkennen, was wem gehörte. »Wie irgendjemand so etwas aufregend finden kann, geht über meinen Horizont«, maulte ich. »Dann schon lieber ...« Ich hielt inne, denn plötzlich gab es einen Ruck, und die Kamera, die offensichtlich gerade am Fußende des Bettes abgestellt worden war, war auf den Rücken und den Hintern eines Mannes gerichtet, der eine Frau bumste, die auf allen vieren vor ihm kniete – seine Hände umklammerten ihre Hüften, um tiefer einzudringen. Aus irgendeinem Grund erinnerte mich das an das Stoßmich-Ziehdich aus Doktor Dolittle, und ich fing an zu kichern, aber dann beugte sich der Mann vor, und da kam auf Knien das Gesicht der Frau zwischen Männerbeinen ins Bild, Männerhände hielten ihren wippenden Kopf ... »O Gott!« Ich rappelte mich auf. »Jack, halt es an. Mach aus. Bitte mach es einfach aus!«
Er rührte sich nicht. Wie hypnotisiert starrte er auf den Film – auf sich selbst.
»Das ist Lenny, nicht wahr? Der andere Mann ... es ist Lenny.«
»Ja.«
»Du Schwein. Ich weiß nicht, warum du versuchst, mich zu beschämen, aber es ist dir gelungen. Ich hoffe, jetzt bist du zufrieden.« Ich wollte zur Tür.
Er sprang hoch, um mich aufzuhalten. Ich versuchte, ihn zu schlagen, zu kratzen, irgendwas, aber er hielt meine Handgelenke fest.
»Lass mich los.« Ich spuckte ihn an. »Ich hasse dich.«
»Alice, warte. Ich weiß, wie es aussieht, aber es ist nicht ...«
»Nein, das weißt du nicht. Du weißt gar nichts.« Wir kämpften stumm und verbissen, während der Projektor weiter surrte. Voller Verzweiflung senkte ich den Kopf und versuchte, ihn in die Hand zu beißen.
»Hör auf damit, Alice! Na gut, ich weiß gar nichts, aber du musst hier bleiben und den Schluss ansehen.«
»Warum? Damit du es mir richtig unter die Nase reiben kannst? Hör zu, ich weiß, dass Lenny mir nicht immer treu war, aber deswegen musst du nicht ...«
»Alice, sei still. Beruhige dich.«
»Warum sollte ich?«
»Weil ich dich sonst schlage.«
»Oh, bitte tu dir keinen Zwang an. Du hast mir gestern Abend schon beinahe mit der Flasche den Schädel zertrümmert, da macht einmal mehr auch keinen Unterschied. Lass – mich – los!« Ich schüttelte meine Arme hin und her, in dem Versuch, mich zu befreien, doch er ließ nicht los.
»Alice, ich warne dich, wenn du dich nicht benimmst, werde ich dich schlagen, und es wird wehtun.«
Ich funkelte ihn zornig an. »Komm schon, hör mir nur einen Moment zu. Es tut mir Leid, dass ich dich aufgeregt habe. Das wollte ich nicht. Es war krass, das weiß ich, und ich habe gesagt, dass es mir Leid tut, aber du musst den Schluss sehen. Danach kannst du mir eine runterhauen oder mich ein Arschloch nennen oder tun, was du willst. In Ordnung?«
»In Ordnung.«
»Noch mal. Und schau mich diesmal an.«
»Ich habe gesagt: in Ordnung.«
»Du bleibst hier, wenn ich dich loslasse?«
»Ja.«
»Versprochen?«
»Ja.«
»Na schön.«
Er ließ meine Handgelenke los und wickelte sich die Tischdecke wieder ordentlich um die Taille. »Und jetzt schau hin.«
Noch mehr Nahaufnahmen. Kleckse und Sternchen flimmerten über einem sich windenden Knoten aus Beinen, Hüften, Körpern, schwarz behaarte Finger – Jacks – flach auf einer Brust, ein Handgelenk mit einer Uhr – Lennys – auf dem Bauch einer Frau, lange Finger mit lackierten Nägeln streichelten seinen Arm.
»Wer ist sie, Jack?«
Ich hätte nicht fragen müssen. Eine Sekunde später lösten sich die Körper voneinander, und plötzlich füllte der Nacken einer Frau das Bild aus, dunkles Haar fiel ihr über die Schultern, dann kam ihre Hand ins Bild und strich es mit einem Schwung zurück, während sie den Kopf drehte – und da war sie. Ich hätte es mir denken können. Mit verschmierten Lippen und einem glitzernden, triumphierenden Lächeln schaute sie direkt in die Kamera: Bunny Kitty.