Ich starrte ihn an. »Du meinst, sie ... Oh, Jack. Nein.«
»O doch. Sie hat uns richtig geleimt.«
»Lenny hat nie ... kein Wort. Ich hatte keine Ahnung.«
»Sie hat uns gedroht. News of the World, Sunday People ...«
»Das würden die nie bringen.«
»Und wie die das bringen würden. Wir traten damals im Fernsehen auf, wenn du dich erinnerst. Zur besten Sendezeit.«
»Dann habt ihr ihr Geld gegeben?«
»Wir hatten keine Wahl.«
»Habt ihr es Findlater gesagt?«
»Nein.«
»Aber er hätte es verstanden, oder? Ich meine, das war doch immer deren Risiko, oder, dass irgendjemand es herausfindet, und er war euer Agent. Er hätte doch bestimmt gewusst, was man tun muss, einen Anwalt nehmen, eine einstweilige Verfügung oder ... keine Ahnung, irgendwas hätte er tun können.«
Jack räusperte sich. »Wir haben darüber geredet.«
»Aber du hast gerade gesagt ...«
»Nein, ich meine, Lenny und ich. Wir haben darüber geredet. Wir wollten es ihm sagen.«
»Und warum habt ihr es nicht getan? O Gott, Jack ... Nein ...«
Mein Magen war schneller als mein Verstand. Ich wusste, ich war kurz davor, mich zu übergeben.
Ich katapultierte mich durch die Küche, eine Hand auf dem Mund, beugte mich über das Spülbecken und erbrach. Kognak und Galle. Widerlich.
Keuchend krümmte ich mich und war mir bewusst, dass Jack mich beobachtete.
»Alles noch heile?«, fragte er, als ich mich gefangen hatte.
»Gerade noch«, sagte ich zittrig.
»Hier.« Jack bot mir sein Kognakglas an. »Spül dir den Mund aus.« Doch ich schüttelte den Kopf und steckte das Gesicht unter den Wasserhahn. Als ich mich aufrichtete, stand er mit einem Handtuch neben mir.
Erleichtert ließ ich zu, dass er mich zum Tisch zurückführte; er setzte sich mir wieder gegenüber. Ich kannte die Antwort, aber ich musste fragen, musste es ihn sagen hören.
»Es ist Kitty in dem Auto, nicht wahr?«
»Alice ...« Jack schaute seine Hand an, die sich Zentimeter für Zentimeter meiner näherte. Kurz rieb er mit den Fingerknöcheln meinen Unterarm, dann hörte er auf.
»Sie ist es, oder?«
Er starrte unverwandt auf seine Hand, und ich zog meinen Arm weg. »Mach dir gar nicht erst die Mühe, mich anzulügen, Jack, ich weiß, dass es Lennys Wagen war. Das stand in der Zeitung. In dem Teil, den du vor mir zu verstecken versucht hast.«
Ein langes Schweigen folgte.
»Sag es mir.«
»Ja.«
»Und jetzt sag mir, dass es ein Unfall war.«
Jacks Hand kroch wieder auf meinen Arm zu. Sie sah aus wie ein haariger Krebs. Ich schloss ganz fest die Augen. »Bitte, sag mir einfach, dass es ein Unfall war.«
Nach einem Augenblick sagte Jack hölzern: »Es war ein Unfall.«
»Danke.« Ich stand auf. »Ich koche uns einen Tee.«
Tack war ständig hinter mir, während ich den Kessel füllte, das Gas anzündete und Tee in die Kanne löffelte. Ich konnte mich nicht konzentrieren. Jedes Mal, wenn ich mich umdrehte, war er da und blockierte den Weg, so dass ich um ihn herumgehen musste.
Und in meinem Kopf herrschte Chaos. Es musste ein Unfall gewesen sein. Immer wieder dachte ich, Lenny muss betrunken gewesen sein. Kitty hat sie herausgefordert, sie hat es getan, nicht er. SIE, er konnte nichts machen, das Auto muss außer Kontrolle geraten sein und ... Vielleicht war er ja gar nicht indem Auto, vielleicht hatte sie es genommen, geklaut. So wird es gewesen sein, das hätte ihr ähnlich gesehen.
Aber Lenny war mit ihr zu der Party gegangen. Obwohl sie sie erpresst hatte, WAR ER MIT IHR ZU DER PARTY GEGANGEN. Warum? Warum hatte er das getan? Es ergab keinen Sinn. Nichts ergab einen Sinn. Gib nicht den Kamelen die Schuld. Das hatte er geschrieben. O Gott. Es muss ein Unfall gewesen sein, schrie es in meinem Kopf. Es muss so sein, weil ich es so will.
Wieder tauchte plötzlich Kittys Gesicht vor meinem inneren Auge auf, wie sie einen sexy Blick über die Schulter wirft, lockend und spottend zugleich, und dieses Lächeln ...
»Scheiße!« Ein Becher rutschte mir durch die Finger, fiel auf den Boden und zerbrach.
»Lass mich das machen«, sagte Jack. »Und du setzt dich hin.«
Ich sank auf den Stuhl neben der Anrichte.
»Du frierst ja.« Er zog den Überwurf vom Sofa und legte ihn mir um die Schultern. Einen Augenblick später drückte er mir einen Becher in die Hand. »Drei Stück Zucker«, sagte er. »Du hast einen Schock. Trink.«
Mühsam versuchte ich, Hände und Mund zu koordinieren, während mir der Tee über das Kinn lief und aufs T-Shirt tropfte. Nach ein paar Schlucken gab ich auf. Jack hielt mir eine seiner Zigaretten hin. »Willst du eine?«
»Warum nicht?« Er zündete sie für mich an und reichte sie mir. Nach einer Weile sagte ich: »Wusste Val Bescheid?«
»Ja. Ich wollte ihr den Film nicht zeigen. Sie hat mich gezwungen. Sie konnte es einfach nicht fassen, dass wir darauf hereingefallen sind.«
»Da ist sie nicht die Einzige.«
»Ich weiß.« Rauchend, die Asche ins Spülbecken schnippend, stand Jack da und sah mich an. Ich hatte keine Ahnung, was er dachte.
»Wenn das stimmt«, sagte ich langsam, »wenn Val dich gezwungen hat, ihr den Film zu zeigen, warum musstest du ihn dann auch mir zeigen? Ich meine, du bist doch hergekommen, um Lennys Kopie von dem Film zu holen, oder? Deswegen hast du mein Zimmer durchsucht, oder?«
Jack schwieg.
»Oder?«
»Ja«, sagte er ruhig. »Ja, so ist es.«
»Nachdem sie das Auto gefunden hatten, wolltest du auf Nummer sicher gehen. Deswegen bist du eigentlich gekommen, oder? Von wegen mich wiedersehen wollen. Aber warum hast du nicht danach gefragt? Du hättest mir erzählen können, es ist etwas anderes – Mitschnitte, irgendwas. Ich hätte dir geglaubt. Die Dose war nicht beschriftet.«
Jack wandte sich ab und starrte aus dem Fenster. »Ich weiß es nicht. Das alles ist so ein Chaos. Als ich oben auf dem Speicher nach dem Film gesucht habe, hatte ich nicht vor, das verdammte Ding anzuschauen. Ich wollte es nur loswerden, und als ich den Projektor gefunden habe, wollte ich immer noch nicht ... während ich ihn aufgebaut habe, wusste ich nicht, warum ich es tue, und dann bist du heruntergekommen ...« Jack ließ Wasser über seinen Zigarettenstummel laufen, warf ihn ins Spülbecken, drehte sich um und sah mich an. »Ich war wütend, Alice. Ich wollte dich bestrafen.«
»Wofür?«
Jack schaute kopfschüttelnd auf den Boden. »Ich war eifersüchtig. Du und Lenny, es war so ... Ich hatte nichts dergleichen in meinem Leben, und die Art, wie er, keine Ahnung, seine ganze Zeit mit dir verbringen wollte, und wenn er nicht mit dir zusammen war, redete er von dir. Ich konnte ihn nicht dazu bringen, sich auf das zu konzentrieren, was wir taten, und ... Ach, was weiß ich. Wir haben immer viel über Mädchen geredet, aber es gehörte dazu, es war nicht alles. Ich habe dir gesagt, es war die Art, wie er über dich redete, die anders war.«
»Wie meinst du das?«
»Also, zum einen erzählte er mir ständig, was du gesagt hast.«
»Wie über den flotten Dreier, meinst du.«
»Nicht nur das. Aber zu der Sache mit Kitty ...« Jack wandte sich ab, um sich eine neue Zigarette zu nehmen, und ich verstand den Rest des Satzes kaum. »... habe ich ihn überredet. Ich dachte, dann ist es wieder wie in alten Zeiten.«
Sprachlos starrte ich ihn an.
»Das Komische war ... nachher hat er dir die Schuld dafür gegeben, nicht mir. Er sagte, wenn du ihn nicht verlassen hättest ...«
»Ich habe ihn verlassen, weil ich Kittys Slip unter meinem Kopfkissen fand, als ich nach Hause kam, und ich konnte es nicht mehr ertragen!«
»Das meine ich nicht. Du warst selten da ...«
»Mein Großvater lag im Sterben, Jack. Was sollte ich machen? Ihn nicht besuchen?«
»Nein, natürlich nicht, aber Lenny war einsam. Er kam allein nicht zurecht, das weißt du. Und ich nehme an ... gut, ich habe ihn ermutigt. Ich habe mich manchmal, na ja, oft mit Kitty getroffen, und sie mochte Lenny. Sie hatte ihn ein paar Mal gesehen, und ... du weißt schon ...« Jack zuckte mit den Schultern. »Es sollte ihn nur ablenken. Es war schön, dass es wieder so war wie früher«, sagte er abwehrend, »dass wir ein bisschen Spaß hatten.«
»Spaß!«, spie ich hervor, »ein bisschen Spaß! Herrje, wenn ich daran denke ... die Daten ... du musst das alles geplant haben ... während mein Großvater ... das begreife ich nicht.«
Plötzlich war ich auf den Beinen und schrie ihn an: »Warum hast du das getan?« Und ehe ich mich versah, traf ihn mein Becher mitten auf der Brust und zerschellte auf dem Steinboden. Jack bückte sich und hob die Scherben auf. Auf seinem Hemd breitete sich ein dunkler Fleck aus. Ich lehnte mich an die Anrichte und sah ihm schweigend zu.
»Wenn das so weitergeht, müssen wir bald aus der Pferdetränke trinken.« Er richtete sich auf und warf die Scherben in den Müll.
»Ich musste ihn überreden«, sagte er und inspizierte seine Finger auf eventuelle Porzellansplitter, »und dann habe ich Kitty angerufen, und sie war so scharf, so ...«
»Warum seid ihr nicht einfach bei Lenny geblieben?«
»Er wollte nicht, und meine Wohnung kam gar nicht in Frage. Kitty sagte, sie wüsste nicht, ob ihre Mitbewohnerin da sei, aber sie kannte eine Wohnung, die wir benutzen konnten ...«
»Das kann ich mir denken.«
»Wir haben es einfach ihr überlassen. Sie hat alles organisiert. Herrgott, Alice, du kannst dir nicht vorstellen, wie es war, als wir herausfanden ...«
»Nein«, sagte ich. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie man so dumm sein kann.«
»Es ist dein gutes Recht, wütend zu sein.«
»Danke für deine Erlaubnis.«
»Ich versuche nur zu erklären, was passiert ist, mehr nicht.«
»Ich verstehe nicht, warum Lenny mir die Schuld gegeben hat.«
»Er fühlte sich von dir im Stich gelassen.«
»Ich habe doch gesagt ...«
»Ich weiß, ich weiß. Aber Lenny hat es nicht so gesehen.« Wehmütig nickte ich und dachte an die Kämpfe, die wir ausgefochten hatten, weil ich im Klub arbeitete und er wollte, dass ich aufhöre. Er konnte nie verstehen, warum ich es brauchte.
»Er hat dich geliebt, Alice. Er brauchte dich.«
»Mein Großvater auch.« Ich starrte eine Teepfütze an der Scheuerleiste an. Jack hatte Recht. Was für ein verdammtes, grauenhaftes Chaos.
»Es war wie ein Albtraum. Danach. Als wir in Amerika waren.«
»Das hast du bereits gesagt.«
»Als er mir sagte, dass er nicht mehr mit mir zusammenarbeiten will. Im Nachhinein betrachtet, hatte sich das während unserer Reise in die Staaten entwickelt, aber damals war es so, als käme es aus heiterem Himmel. Verrat. Er war mein bester Freund, Alice, und ich hatte ihn verloren. Ich konnte es nicht glauben. Val hörte nicht auf zu betonen, dass das alles nur zum Besten sei, aber sie hat überhaupt nichts verstanden. Abgesehen von allem anderen, war es beruflicher Selbstmord. Findlater hasste den Gedanken.«
»Ich erinnere mich. Sag mir, warum du es Val erzählt hast und nicht ihm?«
»Nach der Party musste ich es.«
»Warum?«
»Ich brauchte Hilfe. Kitty hatte eine Kopie des Films. Wir mussten sie finden und loswerden, aber wir konnten wohl kaum in ihre Wohnung gehen – wir wären erkannt worden –, deshalb habe ich Val gebeten. Sie hat die Kopie geholt.«
»Wie ist sie hineingekommen? Hattest du einen Schlüssel zu Kittys Wohnung?«
Jack zögerte. Ich beobachtete ihn mit sinkendem Mut, wohl wissend, wie seine Antwort lauten würde. »Du hattest keinen, nicht wahr?«
Er schüttelte den Kopf.
»Und woher hattest du ihn?«
»Aus ihrer Handtasche.«
»Aber war die nicht im Auto? Ich meine, im Wasser?«
»Sie war im Haus. Im Badezimmer. Sie hatte sich umgezogen, erinnerst du dich? Das Bunnykostüm. Sie muss die Tasche dort vergessen haben.«
»Dann ist sie gar nicht gegangen. Hat nicht das Auto genommen.«
»Alice, es war ein Unfall. Wir hatten alle zu viel getrunken. Du weißt, wie so etwas passiert. Niemand hatte einen klaren Kopf. Aber niemand hätte uns geglaubt, nicht wenn er den Film gesehen hätte. Deswegen mussten wir ihn holen.«
Ich sah ihn an und dachte: Ich glaube dir auch nicht. »Warum hast du mir das alles nicht gestern Abend erzählt?«
»Wollte ich ja, aber du bist rausgestürmt.«
»Was hast du erwartet? Applaus?«
»Und heute Morgen warst du so wütend. Ich hatte Albträume.« Sein Gesicht fiel in sich zusammen, und er begann laut schluchzend zu weinen. »Ich habe geträumt, dass du Susies Asche ausgeschüttet hast und darauf herumgetrampelt bist. Es war furchtbar.«
Ich starrte ihn an. »So etwas würde ich niemals tun. Komm schon, das weißt du doch.«
Jack vergrub das Gesicht in den Händen. Seine Worte klangen abgehackt durch die Finger: »Es war – meine Schuld –, dass Susie krank wurde. Der Arzt, dieser Spezialist, sagte, sie denkt, wenn sie dünn ist, bekommt sie–Aufmerksamkeit. Sie hielt sich für hässlich – wenn sie hübsch wäre, würde ich sie sehen wollen – öfter zu Hause sein. Wir haben – ihr immer gesagt, dass sie hübsch ist, aber sie – hat uns nicht geglaubt – war eher wie ich, nicht wie Val und Rosie – hielt sich für das hässliche Entlein – Val muss dem Spezialisten erzählt haben, dass wir – gestritten haben – weil ich andere Frauen hatte. Kann ich ihr nicht verübeln, aber – man weiß nie, was Kinder mitkriegen, was sie – hören. Susie dachte – ihre Schuld ...«
Ich legte den Arm um ihn. »Na, na ... Solche Dinge, solche Gedanken – gibt es einfach. Es lag nicht nur an dir ...«
»Das Mädchen gestern Abend, beim Friedhof.«
»Die Tramperin?«
»Ja. Einen Moment lang dachte ich ... sie sah aus wie Susie, wie sie da so allein und verloren im Dunkeln stand. Wir haben einmal in der Nähe von Susies Schule gedreht, und ich bin zu einem ... Hockeyspiel gegangen. Alle Mädchen spielten, nur sie stand ganz allein im Tor. Die anderen müssen ihr ihre Pullover gegeben haben, denn sie trug drei oder vier übereinander und hatte zusätzlich noch einen um die Schultern gelegt wie einen Schal. Sie war richtig eingewickelt, aber sie sah aus, als ob sie immer noch fror, und wirkte dabei so unglücklich – ich wollte zu ihr gehen, doch es war Unterricht, und sie wusste nicht, dass ich da war. Ich dachte, es wäre ihr peinlich, sie würde nicht wollen, dass ich da bin, also habe ich es gelassen. Ich bin einfach gegangen.«
»Oh, Jack, ist das traurig ...« Ich strich ihm über den Rücken.
Er machte keine Anstalten, mich festzuhalten, aber wir standen dicht beieinander, und als er den Arm hob, um sich das Gesicht abzuwischen, spürte ich die Waffe an meiner Hüfte. Der Gedanke – Schnapp sie dir – war so überdeutlich in meinem Kopf, dass ich eine Sekunde lang glaubte, es laut gesagt zu haben, aber Jack rührte sich nicht vom Fleck. Ich fuhr fort, ihm den Rücken zu streicheln, und meine rechte Hand langsam – ganz langsam – in Richtung Tasche zu bewegen.
»Val wirft mir vor, ich hätte nie mit Susie geredet. Wüsste nicht, wie sie tickt und so. Ich habe ihr erklärt, ich sei kein Psychiater, doch sie sagte nur: Zeig Interesse an ihr. Wir hatten nicht oft Gelegenheit, allein miteinander zu reden, aber ich hatte immer noch ein Bild, das sie als Kind gemacht hatte, aus einem Buch abgemalt oder so, und als ich sie irgendwohin fuhr, fragte ich sie danach. Es war ein Pferd, das neben einem Zug galoppiert. Ich wusste nicht, ob sie sich daran erinnerte, weil es Jahre her war, aber es war das Einzige, was mir einfiel, und sie erinnerte sich und erzählte mir ...«
»Was hat sie gesagt?«, murmelte ich und legte den Kopf an seine Brust. Ich hörte nicht auf, seinen Rücken zu streicheln, versuchte den Rhythmus beizubehalten, während meine rechte Hand sich zentimeterweise der Tasche näherte.
»Immer wenn sie in einem Zug saß, stellte sie sich vor, sie würde auf einem großen Pferd am Bahndamm entlang galoppieren, und das Pferd konnte Schritt halten und über Brücken und alles Mögliche springen. Sie sagte, wenn sie in den Zug stieg, gab sie ihren Gedanken eine Art ... Signal, und dann tauchte das Pferd vor dem Fenster auf, und sie ließ ihren Körper im Abteil zurück und sprang auf den Rücken des Pferdes. Ich habe sie gefragt, ob sie das auch in Flugzeugen macht, weil wir ein paar Mal in den Ferien nach Spanien geflogen sind, und sie antwortete: ›Nein, Dad, blöde Frage. Pferde können nicht fliegen.‹ Und das war's eigentlich.«
»Das war süß«, sagte ich und ließ meine Finger spielerisch nach vorne zu seiner Jackentasche wandern. Ich wagte es nicht, hinunterzuschauen, damit er ja nicht bemerkte, was ich vorhatte.
»Aber ich hatte alles falsch verstanden. Susie war so aufgeregt, als sie es mir erklärte, wie früher an Weihnachten, als sie und Rosie noch klein waren. Ich hatte die falsche Frage gestellt, und ich sah ihr an, dass sie dachte, er versteht es nicht, und sie ... sie machte einfach wieder zu. Ich weiß, es klingt unbedeutend, aber für sie war es wichtig, und ich habe nicht ... konnte nicht ...«
»Oh, Liebling ...« Ich spürte den Rand der Tasche. Wenn ich jetzt meine Hand an die Waffe bekommen könnte ... »nimm es nicht ...« Zwei Finger ... drei ...
»Ich hätte sterben sollen, Alice, nicht sie. Es hätte mich treffen sollen. Du weißt nicht, wie es ist, wenn man die Straße entlangläuft und sich schlecht fühlt. Wertlos. Du schaust dich um und denkst: Was soll das alles? Es war nicht Susies Schuld, es war meine, alles war meine Schuld, und es hätte mich treffen sollen.«
»So ist es nicht, Jack. Wir alle machen Fehler, jeder.« Metall ... Nur ... die Finger ... drunter ... Jack bewegte sich ein wenig, und meine Hand rutschte weg. Ich fummelte nach der Pistole, aber ...
»Nein!« Er packte mein Handgelenk und riss meine Hand aus der Tasche.
»Aaah, Jack, nicht!« Ich versuchte, mich von ihm zu lösen, aber er war blitzartig hinter mir und drehte meinen Arm auf den Rücken.
»Das tut weh.«
»Gut.« Er zerrte meinen Arm noch höher. Ich wand mich hin und her, um seinen Griff zu lockern, aber meine Hüften stießen an die Arbeitsplatte, und er presste sich an meinen Rücken, klemmte mich ein, so dass ich überhaupt keine Bewegungsfreiheit hatte. Ich schlug mit meinem freien Arm nach ihm – zwecklos, versuchte zu treten und schrie, als mein Knie an die Schranktür knallte, versuchte es noch einmal und traf, aber nicht fest genug.
Mein Fuß rutschte an Jacks Schienbein ab, er strauchelte, richtete sich wieder auf, dann legte er mir seine andere Hand in den Nacken und stieß meinen Kopf nach vorn, so dass er an den hölzernen Abtropfkorb schlug. Der Schmerz war beinahe unerträglich, und jede weitere Bewegung machte ihn noch schlimmer. Ich schrie.
»Du brichst mir den Arm!«
»Geschieht dir recht.«
»Hör auf«, keuchte ich. »Bitte. Lass los.«
»Auf keinen Fall.«
Ich versuchte locker zu lassen, schloss ganz fest die Augen und biss die Zähne zusammen, versuchte alles, um den Schmerz auszuhalten, aber mein Arm schmerzte höllisch und meine Schulter brannte wie Feuer. »Du bringst mich um, bitte …«
Dann stieß er mich auf die Hintertür zu. Es ist ihm egal, dachte ich, er wird mich umbringen, es ist ihm egal. Bitte, lieber Gott, hilf mir, mach, dass er loslässt, mach, dass es aufhört. Ich hörte Eustaces Nägel auf dem Linoleum klackern und erhaschte einen Blick auf ihn. Wie eine Statue stand er an der Tür zur Diele, verwirrt, eine Vorderpfote leicht angehoben, den Kopf schief gelegt mit fragendem Blick. »Hilf mir!« Ich spannte die Beine an und hangelte mit der freien Hand nach dem Abtropfregal, suchte irgendetwas, das ich als Waffe verwenden konnte, aber da war nichts. Ich konnte mich nicht weit genug umdrehen, konnte nichts sehen, konnte nicht denken.
Jacks Knie donnerte mir in die Kniekehlen. Ich spürte, wie ich einknickte und die Beine nicht wieder strecken konnte, und einen Moment lang hing mein ganzes Gewicht an Schultern und Oberarmen, und es fühlte sich an, als würden sie zerreißen. Ich schrie weiter, aber er ließ nicht locker, sondern stieß meinen Kopf nach unten, diesmal mit mehr Kraft, weil er über mir stand, und der Schmerz war noch schlimmer. Auf Knien rutschte ich gegen die Tür und flehte ihn an aufzuhören. Gott weiß, was ich sagte, wahrscheinlich unverständliches Zeug, aber am Ende ließ er los.
»Keine Tricks.«
Mein Arm schmerzte furchtbar und war völlig unbrauchbar. Ich schüttelte einfach nur den Kopf.
»Steh auf.«
»Warte, mein Arm ...«
»Sofort!« Etwas Kaltes und Hartes stieß in meinen Nacken. Die Pistole. Ich rappelte mich auf und stand ihm, meinen Arm haltend, gegenüber. Er starrte mich an, und plötzlich dachte ich, er kann sich überhaupt nicht in mich hineinversetzen. Er sieht nicht mal einen Menschen in mir. Die Pistole zielte auf meine Brust. Ich zwang mich, ihn anzuschauen und nicht die Waffe. Seine Augen waren ausdruckslos, wie braune Murmeln.
»Jack, ich bin's, Alice.«
»Ich dachte, ich könnte dir trauen. Wegen Lenny. Ich dachte, du würdest es für Lenny tun.«
»Ich bin auf deiner Seite, Jack. Deswegen habe ich die Polizei nicht ...«
»Aber du warst auch nicht für Lenny da, oder? Nicht am Ende. Nicht, als es wichtig war. Ja, klar, die Sache mit deinem Großvater, aber wo warst du, als Lenny dich wirklich brauchte? In London. Weiß Gott, mit wem du da gevögelt hast. Weiß der Himmel, warum ich dachte, du würdest mir helfen, aber du hast ja nicht mal zugehört! Du wolltest nur die hier haben«, er fuchtelte mit der Pistole herum, »damit du zur Polizei rennen kannst. Dann wäre ich weg, und du könntest weiter die beschissene Marie-Antoinette spielen. Ich wette, du hast nie über Lenny nachgedacht, geschweige denn über mich. Er wollte es dir sogar erzählen. Das von Kitty. Er wollte, dass du es weißt. Ich habe ihm gesagt, dass wir dir nicht trauen können, und ich hatte Recht, oder? Du heimtückisches Miststück.«
Er stieß mir die Pistole gegen die Brust und trieb mich rückwärts in Richtung Tür. Seine Augen glänzten irr.
»Ich ...«
»Halt die Klappe. Mach die Tür auf.«
Meine rechte Schulter brannte wie ein Feuerball, und ich hatte das Gefühl, meinen Arm nie wieder bewegen zu können. Ich wandte mich von Jack ab und fingerte mit der linken Hand am Riegel herum. Erstickende Hitze schlug mir entgegen, als ich die Tür aufzog, und einen Augenblick lang war es ganz still auf dem Hof. Dann wurde Eustace plötzlich lebendig und raste an uns vorbei, als erwartete er, dass wir mit ihm spielen. Jack ignorierte ihn. »Wo ist der Schlüssel zu deinem Stall?«
Im Stall gibt es zwei leere Boxen. Eine davon ist mit einem Vorhängeschloss gesichert. Im Sommer, wenn Pablo und Nelson auf der Weide sind, lagere ich Heu darin.
»In meinem Schuh.« Ich zeigte auf die Gummistiefel neben der Fußmatte.
»Hol ihn.«
Mit der linken Hand schüttelte ich den Schlüssel aus dem Stiefel und hob ihn vom Boden auf.
»Raus«, sagte er. »Mach schon.« Ich ging vor ihm über den Hof zum Stall. Eustace sprang immer noch hoffnungsvoll vor mir her. Jack will mich einsperren, dachte ich. Nur einsperren, nicht umbringen. Dann wird er verschwinden. Er wird mein Auto nehmen und wegfahren. Gut, dann bin ich eingesperrt, aber ich werde mich irgendwie befreien, oder irgendwer wird kommen, und er wird weg sein und dann ...
»Schließ auf.«
Es war ein großes Schloss, dessen Riegel durch zwei Ringe auf jeder Seite der Tür verlief. Ich versuchte, es mit der rechten Hand festzuhalten, aber meine Schulter fühlte sich an wie ein Klumpen Blei, und meine Finger waren taub.
»Beeil dich.«
»Entschuldigung. Kannst du das mal halten?«
Jack kam näher, so dass sich unsere Köpfe beinahe berührten. Ich spürte die Waffe direkt unter meinen Rippen. Er hielt das Schloss, wartete, während ich es aufschloss, und trat wieder zurück. »Jetzt die Tür.«
Ich schwang die obere Hälfte auf: Heuballen vom Boden bis zur Decke.
»Was ist in der anderen?«
»Nichts. Sie ist leer.«
»Mach auf.«
Er stand hinter mir, während ich die Riegel zurückschob. Eustace strich uns um die Beine und schnüffelte auf dem Boden. Er schob sich an mir vorbei, als ich die Tür zurückzog, und brachte mich aus dem Gleichgewicht. Ich kollidierte mit Jack, spürte die Pistole an meiner Wirbelsäule und dachte einen Moment lang: Das war's. Mach, dass er mich gleich umbringt. Bitte, lass mich nicht gelähmt sein. Alles, nur das nicht. Ein Bild schoss mir durch den Kopf, meine Wirbelsäule zerfetzt, ein Hagel aus Knochensplittern und Klumpen von Flüssigkeit. Dann schob er mich in die leere Box. Ich prallte gegen die Wand und schwang herum. Ich muss ihm ins Gesicht sehen. Wenn er es tut, soll er mein Gesicht sehen, mir in die Augen schauen ...
Er stand mit ausdruckslosem Gesicht auf der Schwelle. »Schick den Hund raus.« Ich bekam Eustace zu fassen und versuchte, ihn zur Tür zu zerren. Er krallte sich knurrend am Boden fest und wollte sich aus seinem Halsband befreien, während ich ihn über den Boden zog. Jack beugte sich vor, und für einen Moment berührten sich unsere Hände in Eustaces Fell. Der Hund jaulte auf, als er ihn packte und in den Hof zerrte. Lediglich verschwommen sah ich ein letztes Aufblitzen der Waffe, ehe Jack die Tür zuschlug und mich in der Dunkelheit zurückließ.