Kapitel 24

Die Welt – die Zeit – stand still, und ich war wieder mitten in diesem großen, leeren Nichts. Diesem Nichts, dieser tödlichen Stille, in der man wahrhaft schreckliche Dinge erkennt. Ich spürte das Blut in meinen Ohren pulsieren. Den Atem in meiner Nase. Die Luft an meiner Haut. Ich werde nichts von all dem spüren, wenn ich tot bin.

»Nein!« Ich schlug meinen Hinterkopf gegen die Stallwand. Lass es nicht zu. Nicht weinen, nicht durchdrehen, und was auch immer du tust, schrei nicht, denn wenn du einmal anfängst, hörst du nie wieder auf. Denk an etwas, egal was. Scotch, Canadian, Bourbon, Rye ... Vater unser im Himmel ... Irish, Gin, Wodka, Rum ... Geheiligt sei dein Name ... Bleib ruhig. Sei vernünftig.

Warum? Jack war nicht vernünftig. Er war total durchgedreht. Alkohol, Tabletten, Kitty, Lenny, Danny Watts, seine Tochter. Er hatte nichts zu verlieren.

Ich musste hier raus! Entschlossen wischte ich mir die Nase mit dem Handrücken ab und stand auf. Ich griff nach dem Henkel des Eimers, hob ihn ein wenig an, schnappte nach Luft und wechselte ihn in die linke Hand. Ich wollte das Wasser schon ausgießen, dann überlegte ich es mir anders, trug es zum Wassertrog und goss es dort hinein. Der Trog ist aus Plastik, wasserundurchlässig. Vielleicht brauchte ich das Wasser später noch. Falls ich noch am Leben war.

WAS ICH VERDAMMT NOCH MAL SEIN WERDE, WEIL ICH NICHT STERBEN WERDE. Ich schleppte den Eimer zur Trennwand, drehte ihn um und stellte mich darauf. Auf Zehenspitzen. Ich konnte mich gerade oben festhalten und hatte keine Ahnung, wie ich an der Wand hochklettern sollte. Ich trug Stiefel, was gut war, weil sie griffig sind, aber es gab keinerlei Halt für die Füße, und mein Arm schmerzte vom Hochhalten. Vorsichtig drehte ich mich um und betrachtete prüfend den Trog: dreieckig, mit einem flachen Boden. Wenn ich ihn aus dem Ständer nahm und umgedreht unter den Eimer stellte, konnte es reichen. Es würde bedeuten, dass ich das Wasser verlor, aber was soll's.

Eine ziemlich wackelige Konstruktion. Der Eimer passte gerade eben auf den Trog, und als ich mich darauf stellte, war ich mit dem Hals in Höhe der Trennwandkante. Die Heuballen lagen wirklich dicht aneinander gepresst. Vor ein paar Monaten hatte ich die Boyles bestochen, damit sie mir halfen, das Heu zu stapeln. Ich warf einen Blick auf mein nacktes Handgelenk. Trudy und Lee würden bald wiederkommen. Der Briefkasten war an der Vorderfront des Hauses, aber die Dorfbewohner kamen immer über den Hof zur Hintertür. Wenn ich irgendwie ihre Aufmerksamkeit erregen konnte, würden sie Fred Bescheid geben, damit er die Polizei holt, obwohl Fred, so wie ich ihn kannte, sofort persönlich herkommen würde. Aber so oder so würde ich Hilfe bekommen.

Vielleicht hatten sie es aber auch eilig und rannten schnell zur Vordertür, dann könnten sie schon da gewesen sein, und ich hatte sie nicht gehört. Blieb immer noch Ted morgen früh, bis dahin konnte allerdings alles Mögliche passiert sein. Das heißt, morgen ist Sonntag, da kommt Ted nicht. O Gott. Nicht so schlimm, weil ich morgen nicht mehr hier drin bin. Bis morgen bin ich hier raus und in Sicherheit, und das alles ist nur noch ein schlechter Traum. Ich schob meinen Arm zwischen die Heuballen und hakte die Finger unter die Schnur, doch die eng geschnürte, orangefarbene Plastikschnur schnitt in meine Haut und gab nicht nach, und ich konnte nicht richtig ansetzen, ohne vom Eimer zu fallen.

Gut, noch mal. Ich rückte meinen behelfsmäßigen Hocker zurecht, kletterte wieder hinauf und versuchte, das Heu aus dem Ballen zu zupfen. Jeff. Ich hatte ihm eine Nachricht hinterlassen. Vielleicht hatte er ... Nein, bestimmt nicht, dachte ich. Wahrscheinlich denkt er, ich bin übergeschnappt, und außerdem hört er sie vielleicht erst in einer Woche, weil er einen Auftrag hat oder in Urlaub ist oder sonst wo. Ich stöhnte. Warum hatte ich versucht, an die verdammte Waffe zu kommen? Was, zum Teufel, hatte ich mir dabei gedacht? Ich muss nicht ganz bei Trost gewesen sein. Solche Sachen klappen nur in Filmen, nicht im richtigen Leben. Im richtigen Leben sind die Menschen am Ende tot, dachte ich grimmig. Oder Krüppel. Mein Glück, dass er mich nicht auf der Stelle erschossen hat. Und ich hätte ihn keinen Kognak trinken lassen dürfen. Das hat es nur noch schlimmer gemacht. Ach ja, und wie hättest du ihn daran hindern sollen?, höhnte eine Stimme in meinem Kopf.

Jetzt war es zu spät. Mach weiter, mach weiter. Langsam löste sich das Heu aus den Ballen, zuerst ein paar Halme, dann ganze Hände voll. Bald würde ich den ganzen Ballen auseinander reißen können. Ich kletterte für einen Moment von meinem Eimer, rückte beides wieder zurecht, so dass ich leichter drankam, und machte weiter. Was war mit Val? Würde sie kommen? Nicht meinetwegen. »Du hast dein Bett gemacht, und wie man sich bettet, so liegt man«, hatte sie am Telefon gesagt. Aber sie würde doch bestimmt Jack zu Hilfe kommen, wenn er in Schwierigkeiten war. Sie hatte zwar nicht so geklungen, aber vielleicht hatte sie es sich später anders überlegt, und meine Adresse stand im Telefonbuch und ... Adresse. Ich erstarrte.

Jack hatte die Handschrift erkannt. Aber nicht, weil er die Zeitungsausschnitte geschickt hatte. Er hatte sie erkannt, weil es die seiner Frau war.

Jack hatte gesagt, Val wusste über Kitty Bescheid. Wenn sie die Ausschnitte geschickt hatte, dann wusste sie auch von Danny Watts. Ich zermarterte mir den Kopf. Was hatte sie eigentlich noch am Telefon gesagt? Dass ich Nerven hatte, sie anzurufen, und dass sie mir nichts zu sagen hatte. Aber sie hatte gewusst, wer ich bin, und war nicht überrascht gewesen, als ich Jack erwähnte. Doch warum schickte sie mir die Zeitungsausschnitte? Nicht, weil ich mit ihm geschlafen hatte – das hatten hunderte andere Frauen auch. Nein, es musste etwas mit Lenny zu tun haben ... hatte Lenny ...

Eustace fing an zu bellen. Es kam aus der Richtung des Vorgartens. Trudy und Lee? Ich hörte kein Hufgetrappel, aber vielleicht hatten sie die Ponys vorne am Weg gelassen. Ich stieg vom Eimer und stellte mich mit klopfendem Herzen an die Tür, wollte am liebsten laut um Hilfe rufen, hatte aber schreckliche Angst, dass Jack mich hören würde. Das Bellen wurde lauter und kam näher. Einen kurzen Moment lang gab der Hund Ruhe, und ich hörte Lees Stimme: »Schon gut, Kumpel, was ist los?«

Gott sei Dank. »Lee?«, flüsterte ich.

Lautes Gebell. Diesmal ganz nah.

»Na komm, hör auf ...«

Ich klopfte mit den Fingerknöcheln an die Tür. Eustace hörte auf zu bellen. Ich hörte seine Krallen auf dem Pflaster, als er schnüffelnd zum Stall trottete, und das Scharren von Lees Turnschuhen, der ihm folgte. Der Hund schnupperte unten am Türspalt und verdeckte mit seiner Nase den Lichtstreifen. »Was ist los, Alter, was ist da?«

»Lee«, zischte ich. »Hier.«

»Alice? Was machst du da?«

»Sprich leise.«

»Was ist los? Bist du eingesperrt?«

»Ja, Lee ...«

»Da ist ein Schloss. Hat er dich eingeschlossen?«

»Ja. Kannst du ...«

»Was hast du gemacht?«

»Nichts.«

»Meine Mum und mein Dad hatten mal einen Streit, und Dad hat Mum im Schlafzimmer eingeschlossen. Wir haben uns kaputtgelacht, aber Mum war stinksauer.«

»Lee, kannst du mich rauslassen?«

»Hier ist kein Schlüssel. Zum Schluss hat Dad sie wieder rausgelassen.«

»Lee ...« Bleib ruhig, bleib ganz ruhig. »Es ist wirklich wichtig. Der Schlüssel. Kannst du ihn irgendwo sehen?«

»Warte ... Dad hat gesagt, er hat sie nur rausgelassen, weil er sein Essen will. Hat er allerdings nicht gekriegt. Nichts zu machen. Kein Schlüssel. Alles in Ordnung bei dir?«

»Kannst du das Licht anmachen?«

»Ja, klar.«

Ich blinzelte, als warm und gelb das Licht anging. »Danke.«

»Was soll ich machen? Im Haus nachschauen?«

»Nein, warte eine Sekunde. Ist Trudy bei dir?«

»Nee, die ist weg. Ist dieser Typ noch da?«

»Ja. Lass mich kurz nachdenken, okay?«

Einen Augenblick lang war Ruhe, und ich hörte Lee auf der anderen Seite von einem Fuß auf den anderen treten und am Schloss herumspielen. Ich sah ihn vor mir, einen sonnengebräunten, für sein Alter zu kleinen, altklugen Jungen mit zerzaustem Haar und runden, blitzblanken Augen.

»Hast du Angst vor ihm, Alice?« Lees Stimme klang erwachsen, mitfühlend.

»Ja.«

»Das hört man. Du hast geheult.«

»Lee, meinst du, du kannst deinen Vater holen? Sag ihm, ich brauche Hilfe.«

»Ja, klar. Kann ich dich auch bestimmt allein lassen?«

»Ja.« Das Mitgefühl in seiner Stimme war so rührend, dass ich beinahe wieder anfing zu weinen. »Es geht mir gut«, krächzte ich.

»Ich bin nicht mit dem Pony da, Alice. Trudy ist mit ihm zurückgeritten.«

»Macht nichts, lauf einfach, so schnell du kannst.«

»Na gut. Ich bleibe auch nirgendwo stehen oder so.«

»Danke, Lee. Du hast was bei mir gut.«

»Ja ... okay. Tschüs, Kumpel«, sagte er zu Eustace. Er klang wie sein Vater.

»Geh jetzt, Lee. Schnell.«

Von rechts drang Lärm herüber. Die Küchentür, die aufflog und gegen die Hauswand knallte.

Jack!

»Er hat eine Pistole.« Lees Stimme war wieder die eines Kindes, atemlos und voller Angst. Ich hörte schwere Schritte auf uns zukommen. »Eine Pistole in der Hand ...«

»Lauf weg, Lee!«, schrie ich verzweifelt. »Lauf!« Ich hörte ein Handgemenge – Atmen – zerreißenden Stoff, dann einen dumpfen Aufprall, als Lees kleiner Körper gegen die Stallmauer krachte, danach seine Stimme, schrill vor Angst: »Lass mich los – ich verrate dich nicht – ich – lass mich gehen

Ich hämmerte schreiend mit den Fäusten an die Tür. »Hör auf! Lass ihn in Ruhe! Lass ihn!« Hörte, wie der Junge über den Hof rannte. »Lauf, Lee! Lauf!«

Und dann einen ohrenbetäubenden Knall.