Kapitel 32

Die Tür flog auf und krachte gegen die Wand. Ich wirbelte herum. Jack stand an der Türschwelle zur Diele. Er hatte die Pistole in der einen Hand und die Urne – Susies Asche – in der anderen.

»Mein Gott ...«, hörte ich Val hinter mir wispern. »O mein Gott ...«

»Mach den Vorhang zu.«

Keine von uns rührte sich von der Stelle.

»Zumachen!«

Ich griff hinüber und zog ihn zu. Schweigend beobachteten wir, wie Jack zum Tisch ging und ganz vorsichtig die Urne in der Mitte abstellte. Er trat zurück und betrachtete sie einen Augenblick lang, dann hob er sie hoch und legte eine Papierserviette darunter. »Gut. Jetzt sind wir alle hier. Außer Lenny.«

Er hob das leere Kognakglas und tat so, als würde er trinken. »Auf die fehlenden Freunde. Und auf Rosie.« Er sah Val an. »Warum hast du Rosie nicht mitgebracht? Sie sollte auch hier sein.«

Val war vor Schreck wie gelähmt und starrte ihn aus riesigen, angstvollen Augen an. »Sie ... sie wollte ...«

»Was? Was wollte sie?«

»Sie wollte mit Nick irgendwo hinfahren. Ich habe nicht gedacht ...«

»Nein«, sagte Jack. »Du hast nicht gedacht! Du kommst einfach hierher und lässt meine Tochter mit diesem miesen Typ allein. Ich will sie hier!«, schrie er und haute mit der Faust auf den Tisch. Val zitterte. Sie sah aus, als würde sie jeden Moment umkippen. »Da könnte alles Mögliche passieren! Sie könnte schwanger werden, Herrgott noch mal!«

»Das wird sie nicht, Jack. Sie ist erwachsen, sie weiß, was sie tut.«

»Du wusstest es nicht.«

Vals ganzer Körper schien zu schrumpfen, und sie drehte sich, das Gesicht in den Händen verborgen, halb zu mir um.

»Du wusstest es nicht, oder, verdammt noch mal?«, brüllte Jack. Ich legte die Arme um Val. Sie wehrte sich nicht, stand nur da und schluchzte wie ein Kind mit zuckenden Schultern.

»Schon gut«, flüsterte ich. »Schon gut ...«

Jack drehte uns den Rücken zu. Ich beobachtete ihn über Vals Schulter hinweg. Er schaute sich im Raum um, als versuchte er, etwas zu begreifen. Dann wirbelte er herum und zeigte auf die Kommode neben der Tür. »Schiebt sie da rüber«, sagte er. »Ich will, dass sie vor der Tür steht.«

Jetzt wurde mir alles klar. Das war der Krach gewesen, den ich gehört hatte, als ich wieder zu mir kam. Er hatte Möbel gerückt. Barrikaden gebaut.

Die Kommode war aus Holz. Massiv. »Das schaffe ich allein nicht.«

»Sie kann dir helfen.« Der Geruch nach Schweiß, scharf und abgestanden, wie kalte, in einer Bratpfanne vergessene Zwiebeln, traf mich, als er auf uns zukam, und ich wich zurück, als er Val um die Taille fasste, sie von mir losriss und an sich presste. »Deswegen bist du doch gekommen, oder?«, rief er. »Um zu helfen. Und das wirst du auch. Mach schon, hilf Alice.« Er stieß sie weg. »Mach schon

Obwohl ich mein Bestes tat, dauerte es sehr lange, die Kommode zu verrücken. Sie war zu schwer, man konnte sie unmöglich anheben, und Val war keine große Hilfe. Sie zitterte immer noch und war zu geschockt, um mehr als mechanische Bewegungen zu machen. Jack stand einen halben Meter von uns entfernt und fuchtelte mit der Waffe herum.

Als wir fertig waren, deutete er mit dem Kopf zur Mitte des Raumes. Ich humpelte mit gesenktem Kopf, mir die Seite haltend, zum Tisch, Val folgte mir vor Jack. Jeder zog sich einen Stuhl an den Tisch und setzte sich. Niemand sagte ein Wort. Jacks Bein wippte auf und ab, während er mit der Pistole herumspielte, sie öffnete und wieder schloss, Kugeln herausnahm, betrachtete und wieder einlegte. Sein stechender, ungesunder Körpergeruch hing über dem Tisch.

Val saß mit gesenktem Kopf da und sah uns nicht an. Ich war wie betäubt – jedenfalls mein Gehirn. Mein ganzer Körper schmerzte, und ich war so schwach, dass ich nach ein paar Minuten nur noch daran dachte, woher ich die Kraft nehmen sollte, mich aufrecht auf dem Stuhl zu halten. Das Kostüm klebte an mir, und mein Kreuz und meine Beine fühlten sich an, als wären sie kurz davor, sich aufzulösen.

Mühsam hielt ich mich an der Kante des Sitzes fest und spannte die Arme an, um die Beine zu entlasten. Immer nur eine Minute, dachte ich. Eine Minute schaffe ich. Irgendjemand wird kommen, irgendwas wird passieren, wenn ich nur noch eine einzige Minute durchhalte.

Dann noch eine und noch eine, noch eine ... Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging. Ich hatte meine Uhr nicht um und konnte auch bei den anderen keine sehen. Val hatte die Hände auf dem Schoß, und Jacks Uhr war unter seinem Hemdsärmel verborgen. Die andere Hand, die mit der Waffe, baumelte an seiner Seite.

Irgendwann hörte ich Pablo auf der Weide wiehern. Bald Zeit, die Tiere zu füttern, dachte ich. Wenn Jack mich lässt. Ich warf ihm einen verstohlenen Blick zu. Er schien die Urne anzustarren. Val wiegte sich mit gesenktem Kopf vor und zurück. Nach einer Weile begann sie, klagende Laute von sich zu geben, dünne, jammervolle Geräusche, wie ein verwundetes Tier. Ihre Qual stach mir mitten ins Herz, und sie hörte nicht auf zu klagen, bis ich es nicht länger ertragen konnte. Ich rutschte vom Stuhl und ging zu ihr. Jack folgte mir mit Blicken, sagte aber nichts.

Ich legte ihr die Hand auf die Schulter. »Nicht«, sagte ich. »Bitte nicht.« Sie drehte sich nicht um, aber sie wurde ruhig, und nach einer Weile hob sie die Hand und legte sie auf meine.

Pablo wieherte wieder, diesmal lauter, drängender, und wir hörten Hufe über die Weide galoppieren. Sie haben etwas gesehen, dachte ich. Auf dem Weg. »Es kommt jemand«, sagte ich.

Mit einem Klirren legte Jack die Waffe auf den Tisch, und Vals Finger umklammerten meinen Handrücken. Jack stand auf und starrte mich an. Ich erwiderte seinen Blick über Vals Kopf hinweg. »Keine Bewegung, Alice«, sagte er. Seine Stimme klang gepresst. »Denk nicht mal daran.«

Dann klingelte es an der Haustür.