Kapitel 34

Jack lockerte seinen Griff und stieß mich vorwärts auf einen Stuhl. Ich setzte mich, legte die Arme auf den Tisch, ließ den Kopf darauf sinken und versuchte, wieder zu Atem zu kommen.

Als ich hustend und mir die Augen reibend aufsah, stand Jack neben mir. »Sie kommen zurück.« Die Pistole stieß an meinen Hinterkopf und schob mich nach unten, bis meine Wange auf die Tischplatte gedrückt wurde. Ich konnte Val sehen, die stur geradeaus blickte. Sie wirkte erschöpft, völlig fertig, wie ein Gespenst – zwei leere Augen in einem grauen Hautsack. Jetzt muss sie es wissen, dachte ich. Sie muss wissen, dass ich die Wahrheit gesagt habe.

Wir hörten wieder Schritte, dann Freds Stimme. »O Gott ... Mein Junge könnte da drin sein.«

»Wir wissen nicht, ob überhaupt jemand da ist.«

»Ich werde nachsehen.«

»Das überlassen wir besser der Polizei. Sie werden sowieso jemanden wegen des Autos vorbeischicken, aber ich gehe sie anrufen. Mary ist jetzt da, also ...«

»Ich werde hier nicht tatenlos rumhängen. Wenn Lee in Schwierigkeiten ist ...«

»Ich glaube wirklich ...«

»Alice ist jedenfalls nicht hier draußen, also wo ist sie? Und wo ist mein Junge?«

»Vielleicht ist er gar nicht ...« Den Rest verstand ich nicht. Wir hörten, wie sich ihre Schritte entfernten, dann wurde das Tor geöffnet und wieder geschlossen. Stille. Sie waren gegangen.

Ich atmete tief ein ... und aus. Die Polizei ist unterwegs, versicherte ich mir. Bald wird sie da sein. Sehr bald. Bleib ruhig. Halt Jack ruhig. Es ist nur noch eine Frage der Zeit ... Was immer du tust, bleib ruhig.

»Wie konntest du?«, flüsterte Val. »Wie konntest du nur?« Ihr Gesichtsausdruck hatte sich nicht verändert, und sie schaute Jack nicht an. Sie schien mit sich selbst zu reden. »Der Junge. Sie hat gesagt, er war zehn Jahre alt.« Lieber Gott, dachte ich, lieber Gott ... »Sie hat gesagt, du hast ihn umgebracht.«

»Sei still.«

»Sag mir, dass es nicht wahr ist. Du hast ihn nicht ... Sag mir ...« Sie klang verwirrt. »Sie hat gesagt, dass du ihn umgebracht hast und diesen Mann da draußen ...«

Sie brach plötzlich ab, schoss über den Tisch, griff mit beiden Händen nach der Urne und presste sie an die Brust.

»Stell sie wieder hin«, murmelte Jack. »Lass sie in Ruhe.«

»Nein.« Hör auf, schrie es in meinem Kopf. Lass sie los.

»Willst du, dass ich sie umbringe?«, fragte Jack.

Val antwortete ihm nicht. »Bitte«, flüsterte ich. »Bitte ...«

»Ist es das, was du willst«, schrie Jack. »Ist es das?«

Vater unser im Himmel ... Vater unser ... wie geht es weiter, Herrgott, ich weiß nicht, wie es weitergeht ... Ich sah Vals Hand den Deckel der Urne aufdrehen, hörte ihre Armreifen am Metall kratzen, und ich dachte, ist das das Letzte, was ich jemals sehen werde? Ihre Hände? Aber was machte sie da? Was ...

Sie nahm den Deckel ab.

»Nein!«, brüllte Jack. »Ich bringe sie um. Ich ...«

»Hast du nicht schon genug angerichtet?« Sie stand auf, und der Deckel fiel ihr aus der Hand und klappernd zu Boden, dann spürte ich, wie die Waffe von meinem Kopf weggenommen wurde, als Jack auf sie zu raste und versuchte, ihr die Urne aus der Hand zu reißen. Sie brachte sie mit einem Schwung vor ihm in Sicherheit, er verlor das Gleichgewicht und fiel über den Stuhl. Dann war ich auf den Füßen und wich entsetzt zurück, als Vals Hände die Urne hochrissen und die Asche in einer Wolke herausflog. Sie landete auf dem Tisch und den Stühlen und legte sich in einem klebrigen Film auf das leere Glas.

»Jetzt ist es zu spät, oder?«, rief sie. »Mach schon, nimm sie dir! Da ist sie – nimm sie! Nimm, was übrig ist!«

Sie stolperte zum Sofa, setzte sich mit der leeren Urne in der Hand hin und wiegte sich vor und zurück. Sie war ... ich kann es nicht beschreiben. Vernichtet. Jenseits von Tränen. Jenseits von allem. Jack saß auf dem Boden neben dem Stuhl, die Pistole hing in seiner Hand, als hätte er sie vergessen. Sein Gesicht war starr und spiegelte blankes Entsetzen wider. »Heb sie auf«, murmelte er. »Mach sie weg. Mach sie ... einfach weg.«

»Wie?«, fragte ich hilflos.

»Tu es einfach.«

Ich sah mich im Raum um. Ein Tuch, ein Kehrblech, was? Charlies Tante lag auf einem der Stühle und fiel mir ins Auge. Ich wusste kaum, was ich tat, als ich nach dem Buch griff und versuchte, damit die Asche zu einem Häufchen zusammenzukratzen, was aber unmöglich war. Sie wirbelte in die Luft und verteilte sich gleich wieder auf dem Einband, den Seiten, meiner Haut ...

Nach ein paar Versuchen legte ich das Buch hin und wandte mich mit zitternden Händen vom Tisch ab. »Ich kann das nicht«, flüsterte ich. »Es tut mir Leid. Ich kann nicht. Es ist grauenvoll. Ich kann nicht ...«

Jacks freie Hand baumelte ziellos über dem Linoleum hin und her, und er starrte darauf wie hypnotisiert. Trotz der Waffe wirkte er zahm, betäubt, beinahe wie ein Baby. Es war grotesk. »Jesus«, murmelte er. »Herr Jesus ... ich brauche was zu trinken.« Er sah auf. »Hol mir was zu trinken.«

Zögernd ging ich zum Schrank und zog die erstbeste Flasche heraus, holte ein Glas, schenkte ein – das meiste landete immerhin im Glas – und reichte es ihm.

»Was ist das?«

Ich schaute aufs Etikett. »Cointreau.«

Er zuckte die Achseln, trank und hielt es zum Nachschenken hoch.

»Herrgott noch mal, setz dich hin«, fuhr er mich an.

Tu, was er sagt, dachte ich und setzte mich langsam auf den Fußboden. Reg ihn nicht auf. Die Polizei wird bald hier sein. Sei einfach ... normal. Was ist normal?, dachte ich. Nichts ist normal. Val wiegte immer noch mit gesenktem Kopf die Urne in ihren Armen, Jack starrte das Glas an. Drei Menschen, jeder für sich in seiner eigenen Welt gefangen. Wie konnte er das tun?, fragte ich mich. Wie sind wir so weit gekommen?

»Du wärst mit Lenny glücklich geworden«, sagte er plötzlich. Seine Stimme klang zu laut, verwaschen und sentimental. Er ist betrunken, dachte ich und schaute ihn überrascht an, dann wurde mir klar, dass ich keine Ahnung hatte, wie viel er in der Nacht getrunken hatte. Der Cointreau musste seinen Alkoholpegel wieder ausgeglichen haben.

»Ja ... Du wärest mit ihm glücklich geworden. Nicht wie wir.« Ich warf Val einen Blick zu, doch sie schien ihn nicht gehört zu haben. »Er war sehr nett, weißt du. Wir haben einmal meinen alten Vater mit in die Ferien genommen, vor Jahren, nachdem meine Mutter gestorben war. Nach Spanien. Nur Lenny, er und ich. Ich dachte, mein Dad würde sich freuen, weil er ein bisschen weinerlich war, und damals war es nicht üblich, im Ausland Ferien zu machen, aber es war nicht sein Ding, und ich glaube, es war alles ein bisschen zu viel für ihn.

Am zweiten Tag hat er sein halbes Gebiss im Meer verloren. Sämtliche Kinder aus dem Ort drängelten sich darum, uns beim Suchen zu helfen, aber es muss weggespült worden sein. Die ganze Woche über kamen andauernd diese Jungen mit irgendwelchen Zähnen daher, die sie ihren Großmüttern geklaut hatten, vielleicht waren es auch immer dieselben, die sie weitergaben. Keine Ahnung. Egal, es war nicht Dads Gebiss, aber wo wir hingingen, immer verfolgte uns irgendein Kind mit diesen verdammten Zähnen und wollte Geld von uns.

Ich hab zu Lenny gesagt: ›Da müssen wir was draus machen‹, aber er wollte nicht. Ich hab's immer wieder gesagt: ›Es ist spitze, echt surreal, und kein Mensch wird es wissen.‹ Er sagte: ›Dein Vater wird es wissen. Er wird denken, wir wollen ihn auf den Arm nehmen.‹

Dad hat nicht viel darüber geredet, und ich glaube nicht, dass es ihn groß gekümmert hat, aber einen Tag später wollten wir einen Ausflug machen oder so was, und er weigerte sich mitzukommen. Sagte, er wollte sein Zimmer nicht verlassen. Als wir wieder zu Hause waren, wollte ich ihm ein neues Gebiss spendieren – privat –, aber er ließ mich nicht. Wollte das Ganze nur noch vergessen.

Ich hatte nicht kapiert, wie sehr ihn die Geschichte aufgeregt hat, Lenny schon. Er war immer darauf bedacht, anderer Leute Gefühle nicht zu verletzen. Er war ein guter Mensch, Alice. Anständig. Kaputt, aber anständig.« Er stupste mich mit dem leeren Glas am Arm. »Mehr ... Er war gut, aber ... Hat mich ausgeschlossen ... Ich konnte nicht ... das hier ist ein beschissenes Zeug, Alice ... du willst mich mit dem Mist vergiften.« Er hielt mir das Glas zum Nachschenken hin. »Herrje, ich wünschte, ich hätte ihn noch mal gesehen.«

»Meinst du ... bevor er starb?«

»Ja. Ich hätte hinfahren sollen. Ich wusste, dass er in schlechter Verfassung war, aber ich war sauer auf ihn. Dachte, er hat alles kaputtgemacht. Das Saufen, die Sache mit Danny Watts, die Geschichte, dass er dir alles erzählen wollte. Der Polizei alles erzählen wollte. Damit konnte ich nicht umgehen. Und dann, als ich das mit euch beiden herausfand ... verlobt ... Verdammt, er hat es mir nie erzählt, nicht mal hinterher.«

»Dann warst du das gar nicht?«

»Wovon redest du? Was war ich nicht?«

»Du warst es nicht, der ihn besucht hat. In Ivar.«

Er schüttelte den Kopf. »Sag' ich doch, Alice. Hätte ich tun sollen. Wünschte, ich hätte es getan.«

Ich dachte zurück. Nicht noch jemand. Das hatte der Mann im Haupthaus gesagt. Nicht noch jemand. Vielleicht hatte er gemeint ... Nicht noch eine Frau. Ich sah Val an. »Du warst es, oder? Du bist bei ihm gewesen.«

Sie hob den Kopf. »Ja.«