»Hast du deshalb ein Kind umgebracht?«, fragte Val. »Weil es das Beste war?«
Ich saß da wie eine Stoffpuppe, unbeweglich, mit hängenden Armen und Jacks Kopf, einem toten Gewicht an meiner Brust. Ich sollte nicht hier sein, dachte ich benommen. Das hier hat nichts mit mir zu tun. Es geht um die beiden. Ich sollte überhaupt nicht hier sein. Ich bin nur ein Körper, der Platz wegnimmt.
»Alice hat es mir gesagt.«
»Alice ...« Jack lachte erstickt auf. »Alice hat keine Ahnung, was für einen Mist sie erzählt.«
»O doch, das hat sie.« Val beugte sich hinunter und stieß mit der Pistole an seine Wange. »Sieh mich an.«
»Ich hab's dir doch gesagt«, murmelte Jack in meinen Busen. »Sie hat keine Ahnung ...«
»Sieh mich an!« Vals Stimme klang schrill und drängend. »Sieh die an.« Sie bohrte den Pistolenlauf in sein Gesicht. »Du hast gesagt, ich wollte, dass Lenny aus deinem Leben verschwindet. Du hattest Recht. Ich wusste, dass das nur geht, wenn er stirbt. Deswegen bin ich nicht zurück zum Cottage gegangen. Deswegen habe ich alles, was ich an Pillen und Alkohol finden konnte, eingesammelt und neben dem Bett verteilt, und Gott weiß, dass es genug war, um einen Elefanten zu töten. Ich habe es getan, weil ich wollte, dass er stirbt.«
Die Waffe zitterte in ihrer Hand nur einen Fingerbreit von Jacks Schläfe entfernt. »Ich habe immer geglaubt, dass du ohne ihn besser dran bist. Er war ständig betrunken, hat dich nur im Stich gelassen. Aber du hast es nicht gemerkt. Und selbst, als er dir die Chance gab, als er sagte, dass er nicht mehr mit dir zusammenarbeiten will – wolltest du ihn nicht gehen lassen. Erzähl mir nicht, dass du nicht erleichtert warst, als er tot war. Ich war bei dir, erinnerst du dich? Ich habe dein Gesicht gesehen und bin mir sicher, es hat dir einen Riesenspaß gemacht, unserem Karnickel hier zu erzählen, wie traurig es war und wie sehr er dir fehlt, aber ich weiß, was für eine Angst du hattest, dass er plaudern würde, sich betrinken und jemandem – sagen wir, vor laufender Kamera – alles erzählen würde. Diese Talkshow war schon schlimm genug, und ich habe nicht vergessen, was du anschließend gesagt hast. ›Ich weiß nicht, wie lange ich das noch ertrage‹, das hast du gesagt. Ich weiß Bescheid, Jack. Dein Glück, dass ich die Kassette gefunden habe und nicht Danny Watts. Oder sie.« Val deutete gestikulierend mit der Waffe in meine Richtung. »Verstehst du nicht, Jack? Ich habe dich von ihm befreit. Oh, er hätte es sowieso getan, es war nur eine Frage der Zeit – aber wir hatten keine Zeit, oder? Weil er es irgendjemandem erzählt hätte.
Ich war die Einzige, der du trauen konntest, Jack. Nicht Lenny, nicht ihr, mir. Und du hast es nicht kapiert. Ich habe alles getan, damit es zwischen uns funktioniert, und ich dachte, ohne Lenny ... Ich dachte, das könnte eine Chance sein, denn du hättest genauso gut mit ihm verheiratet sein können, angesichts der wenigen Zeit, die du zu Hause verbracht hast. Weiß der Himmel, weshalb, aber du hast von Anfang an glasklar gemacht, dass du lieber mit ihm als mit mir zusammen bist. Irgendwann habe ich sogar mal gedacht, du musst schwul sein; obwohl es weiß Gott genug Beweise für das Gegenteil gab. Sogar das hat mich nachdenklich gemacht. Und nachdem ich deinen kleinen Film gesehen habe, dachte ich, vielleicht hatte ich ja doch Recht. Hatte ich Recht, Jack? War es das, worum es ging? Ein bisschen von beidem?« Sie wandte sich an mich. »Denk mal drüber nach, dein wunderbarer Lenny ein Homo? Wie klingt das?«
»Du redest Unsinn«, knurrte Jack, »lass sie in Ruhe.«
»Jetzt bist du wieder nüchtern, wie? Du Schwein. Ich hätte ebenso gut deine Haushälterin sein können! Nach allem, was ich für dich getan habe ... Was glaubst du, wie mein Leben war, Jack? Hast du irgendeine Vorstellung? Jeden Abend habe ich auf dich gewartet, und jeder wusste, was du treibst. Und nie Urlaub. Was glaubst du, wie das ist?«, schrie sie ihn an.
»Bin ich etwa nicht bei dir geblieben?«
»Du bist bei mir geblieben, weil du dann rumvögeln und dich damit rausreden konntest, dass du zurück zu deiner Frau rennen musstest! Wir waren deine Lebensversicherung, Jack. Ich und die Mädchen. Oh, ich weiß genau, was du dachtest. Ich habe dich einmal mit Lenny belauscht. Du warst ein viel zu großer Feigling, als dass du es anders hättest machen können. Selbst nach der Geschichte mit Kitty, als du es versprochen hast, und dann wurde Susie krank, und du ... du hast ... Verstehst du überhaupt irgendwas, Jack? Einige Dinge kannst du rechtfertigen, aber einige nicht. Dass du deine Tochter im Stich gelassen hast, als sie dich brauchte, zum Beispiel. Oder einen zehnjährigen Jungen umgebracht hast.«
»Hör auf.«
»Nachdem Susie krank wurde und du weg warst, habe ich daran gedacht, die Kassette zur Polizei zu bringen, Jack. Ich habe es mir wirklich überlegt, aber ich habe es nicht getan, und weißt du, warum? Wegen der Mädchen. Du hast dir vielleicht keine Gedanken um sie gemacht, aber ich.«
»Das ist nicht wahr.«
»Nicht? Du erinnerst dich nicht, oder? Du weißt es wirklich nicht mehr. Weißt du, was er mal gesagt hat?«, fragte sie mich. »Susie war acht. Wir hatten Streit, schrien uns an und dachten, sie sei im Bett, aber sie muss noch mal runtergekommen sein. Jack hatte gesagt, er hätte mich nur geheiratet, weil ich schwanger war. Ich sagte: ›Das war ich nicht allein‹, und er erwiderte: ›Nein, es gehören zwei dazu, so einen Fehler zu machen.‹ Wir wussten nicht, dass sie da war, an der Tür stand. Zuerst dachte ich, sie kann es nicht verstanden haben, aber sie hatte es verstanden. Ich werde ihren Blick nie vergessen. Sie rannte weg – nach oben –, stolperte über ihr Nachthemd und schlug sich das Knie auf. Ich holte ein Pflaster für sie und klebte es aufs Knie und versuchte, ihr zu sagen, dass alles in Ordnung war. Daddy hat es nicht so gemeint, aber sie saß nur da, steif wie ...wie ... Holz. Ich versuchte, sie in den Arm zu nehmen, doch sie stieß mich weg, wollte nicht ›Gute Nacht‹ sagen oder irgendwas ...«
Vals Stimme erstarb. Der Schmerz in ihrem Gesicht war furchtbar. »Du weißt nicht, wie das ist«, sagte sie zu mir. »Du weißt es nicht. Susie hat es nie vergessen. Letztes Jahr, als sie zum ersten Mal im Krankenhaus war, sagte sie zu mir: ›Es ist meine Schuld, dass Daddy und du nicht glücklich seid.‹ Sagte, dass es ihr Leid tue. Sie hat sich nie geliebt gefühlt, Jack. Ich habe alles, alles getan, was ich konnte, aber du ... Du hast es nicht ein einziges Mal versucht. Nicht ein einziges Mal.«
»Ich wünschte ...«, Jack räusperte sich. »Ich wünschte, es wäre nie passiert.«
»Ist das alles, was du sagen kannst?«, schrie Val. »Mehr nicht?«
»Ja«, sagte Jack benommen. »Ja.«
Val trat einen Schritt zurück, die Waffe in der Hand. »Du Scheißkerl, Jack«, sagte sie kalt. »Du ... Scheißkerl.«
Jack deutete schwach in Richtung Tisch. »Und du. Respektierst nicht ... ihre Asche ... kannst nicht mal ... das ... Mist.«
»Du hast sie umgebracht, Jack.«
»Du hast mich angefleht ... zurückzukommen ... das hast du gesagt ... du wolltest es ...«
»Ich dachte, du brauchst mich.« Ihre Hand zitterte, als sie die Pistole auf Jack richtete. »Aber das stimmt nicht. Dir ist es egal ... Dir ist es egal.«
Plötzlich brach im vorderen Teil des Hauses ein Heidenlärm aus. Der Hund bellte hysterisch, und gleich darauf zersplitterte krachend ein Fenster. Val schaute sich wild im Raum um, die Waffe hüpfte in ihrer Hand. Jack beugte sich vor, als wollte er aufstehen, und Val machte ein paar Schritte auf ihn zu.
»Ich liebe meine Mädchen. Ich liebe Rosie ...« Jack versuchte, ihr Bein zu fassen, und sie kam über uns ins Stolpern, ihre Knöchel wackelten, und einen Moment lang dachte ich, sie würde fallen, aber sie fing sich wieder und trat nach ihm. »Zurück«, schrie sie gegen das Kläffen von Eustace und erneutes Klirren an, als wer auch immer den Rest der Scheibe herausbrach. »Fass mich nicht an! Rosie hasst dich! Sie will dich nie wieder sehen. Das hat sie mir gesagt.«
»Du lügst.«
»Nein.« Val schüttelte vehement den Kopf. »Dir ist es egal, dir ist alles egal ...«
Über Eustaces Bellen hinweg hörte ich, wie die Haustür aufging, Schritte in der Diele ...
»Lügnerin ... Schlampe ...« Jacks Füße rutschten weg, als er versuchte aufzustehen. Ich klammerte mich an seinen Arm. »Hör auf, Jack, nicht ...«
»Sie hasst dich!«, schrie Val.
Die Schritte kamen immer näher, waren jetzt vor der Tür. Val sah auf. Ihr Rock bauschte sich neben mir auf, als sie herumwirbelte. Ich sah Jeff vor mir, das Loch in seiner Brust, und ich rief zu spät: »Nicht! Komm nicht rein!«, dann wurde bereits die Tür aufgetreten, und Fred stand da, einen Spaten als Waffe in der Hand. Er sah uns an, wir sahen ihn an, und er sagte: »Mein Gott«, und Eustace fing wieder an zu bellen. Val drehte sich um, diesmal wie in Zeitlupe, richtete die Waffe auf uns, auf mich oder Jack, ich konnte es nicht erkennen, und Jack wandte sich mir zu, und sie rief wieder und wieder seinen Namen, »Jack, Jack!«, dann sagte er in mein Ohr: »Es tut mir Leid«, und verdrehte mir den Arm, so dass ich vor ihm war wie ein Schutzschild. Ich sah den Lauf der Pistole groß, schwarz und verschwommen auf mich zukommen und schloss die Augen. Wieder schrie Val etwas, und Jack riss mich nach unten, so dass ich über seinem Schoß lag.
Eine ohrenbetäubende Explosion zerriss die Luft, Jacks Körper bäumte sich auf und sackte unter mir zusammen, und dann hörte ich nur noch ein Klingen in meinen Ohren.