Blau

Bevor ich den Computer ausschaltete, markierte ich die Stelle in der Doktorarbeit, an der ich gerade gearbeitet hatte. Der Abschnitt war fertig. Ich hatte das Kapitel, ohne es zu bemerken, beendet. Ich konnte sorglos mit Lola unsere Lieblingsserie anschauen, statt mir in den Werbepausen Notizen zu machen. Krimis, hatte Claudine gesagt, als ich zum Promotionsstudium zugelassen worden war, seien am besten, um von geistigen Verrenkungen abzuschalten. Am liebsten schaute sie BBC-Serien, und nach einer Weile wurde auch ich süchtig danach. Inspektor Lynley, Inspektor Morse, Inspektor Barnaby, verschiedene Sherlock-Verfilmungen, Monsieur Poirot. Helen Mirren war grandios.

Auch nachdem Claudine gegangen war, behielten Lola und ich diese Tradition bei.

»Wo ist Sophie?«, fragte Lola durchs offene Fenster. Zwischen den Stäben des schmiedeeisernen Gitters hindurch konnte ich sehen, dass sie ihre Aktentasche dabeihatte. Offenbar wollte sie Hausaufgaben machen, statt mit mir Lynley zu schauen.

»Kannst du nachsehen, ob sie in ihrer Wohnung ist?«

Lola kniete sich auf den Treppenabsatz und schaute kopfüber durch die Fensterluke in die Garage unter meinem Zimmer. Das klapprige Fenster war gerade groß genug, um hindurchzuklettern. Eine wacklige Holzleiter führte in einen großen Raum, in dem die Möbel des Mentors, von Claudine, Gwen und Frida standen. Sie waren mit Plastikplanen und weißen Laken abgehängt, als warteten sie bloß auf die Rückkehr ihrer Besitzer.

»Nein! Da ist sie nicht«, rief Lola zu mir hoch.

Ich ging ans Küchenfenster, das auf den äußeren Garten hinausging, um nachzusehen, ob Sophie vielleicht unter dem Feigenbaum saß oder auf den Gehweg vorm Haus geschlendert war.

»Der Film fängt an«, rief ich laut und holte zwei große Tüten von Lauras White Cheddar Cheese Popcorn aus dem Schrank. Falls Sophie in Hörweite war, würde sie, sobald wir die Tüten öffneten, in Sekundenschnelle durch das offene Fenster hereingesprungen kommen.

»Soll das unser Abendbrot sein?«

»Wir haben auch noch leckere Bieler Brühe.«

»Das grüne Zeug? Schon gut …«

Lola nahm ihre Popcorntüte und legte sich auf die dunkelrote Lederottomane unter Sophies Fenster. Die Ottomane war zu klein, um sich darauf auszustrecken. Lolas Füße ragten über das Ende hinaus. Das Polster war steinhart. Außer der Ottomane gab es zwei stilvolle Stühle mit Ledersitzen in dunklem Orange, die noch qualvoller waren. Sophie ging nicht einmal in die Nähe dieser Stühle. Sie hatten vor einigen Jahren in Joshs Miniserie als Requisiten gedient. Die einzige gemütliche Ecke in meinem Mönchszimmer war der Alkoven, in den ich mein Bett gezwängt hatte. Dort aßen wir, dort lasen wir, dort schauten wir fern. Der Fernseher war im Schrank.

Ich schob die Kleidungsstücke zur Seite, schaltete den Fernseher an und richtete den Bildschirm so aus, dass wir beide gut sehen konnten.

»Diese Folge kennen wir schon, Mom, das ist die, in der Havers’ Mutter sie verrückt macht.«

Sie zog eine Augenbraue hoch.

»Willst du damit irgendwas sagen, Liebes?«, erwiderte ich und zog meine Augenbraue ebenso dramatisch hoch wie sie, allerdings nicht halb so gekonnt. Lola fühlte sich herausgefordert, nun ihrerseits das Spiel mit den Augenbrauen mit noch größerer Kunstfertigkeit zu betreiben. Mitten in unserem Wettstreit nahm sie den Katzen-Fragebogen von meinem schmalen Schreibtisch und schlug ihn auf.

»Hey, der ist ja leer! Du und die Sophisterin, ihr solltet ihn doch ausfüllen.«

»Sophie hatte viel zu tun.«

»Das ist aber keine Entschuldigung, junge Dame.« Lola holte einen Bleistift aus ihrer Aktentasche und gab mir einen Kugelschreiber. »Also, erste Frage«, sagte sie.

»Die ersten Fragen sind langweilig, lass sie uns überspringen.«

Lola blätterte im Heft. Ich sah, dass sie nicht wirklich bei der Sache war.

»Was tust du da, Liebes?«

»Nichts.«

Ich versuchte es noch einmal mit der Augenbraue, aber Lola schien ganz woanders zu sein. Ich kannte diesen Gesichtsausdruck und setzte mich neben sie auf die Ottomane. Manchmal überrollten sie Wellen der Sehnsucht, auch wenn sie das nie zugegeben hätte. Aber ich wusste immer, wann sie über sie hereinbrachen. Ihre Bewegungen wurden dann schlafwandlerisch, als würde sie sich durch eine dicke Flüssigkeit kämpfen. Der Auslöser war nie etwas, das wir taten oder worüber wir sprachen. Die Wellen rührten von einem Phantomschmerz her, der aus einer Vergangenheit kam, die ihre Gestalt verloren hatte, eine Kindheit, ersetzt durch etwas Unerklärbares, das mit dem bizarren Schicksal, das wir beide nun teilten, fest verbunden blieb. Lolas Kindheit ähnelte nicht im Geringsten der Kindheit irgendeines Menschen, den ich kannte. Mit ihren Klassenkameradinnen hatte sie nichts gemein, obwohl sie eine sehr gute Schülerin war.

»Ich möchte noch mal klein sein«, sagte sie und legte ihren Kopf in meinen Schoß, so, wie sie bei unserer ersten Begegnung auf dem Autorücksitz ihren Kopf in meinen Schoß gelegt hatte.

»Du bist mein kleines Kind, Gätzchen, das wird sich nie ändern.«

Als sie zu mir aufschaute, sahen ihre Brauen wie pummelige, haarige Raupen aus, die unter großen grünen Augen schliefen.

»Wir sind beide klein, und Sophie ist unsere Mamie, nicht?«, fragte sie.

»Aber ja.«

Lola schmiegte sich enger an mich. Das war ihr Lieblingsspiel, aber etwas schien sie zu bedrücken.

»So wie damals, als ich richtig klein war und alle noch da waren und Claudine mir meine eigene Piñata geschenkt hat, weißt du noch?«

Damit meinte Lola die Begrüßungsparty, die Claudine veranstaltet hatte, nachdem sie offiziell bei mir eingezogen war. Als alle Welt, inklusive meiner Professorinnen an der UCLA, diverser Kellner und Verkäuferinnen, Lola und mich unwiderruflich und fraglos für Mutter und Tochter gehalten hatte. Damals hatten Frida, Gwen und der Mentor in den Räumen gewohnt, die wir jetzt bewohnten; Frida und Gwen im Haupthaus, das den Garten an der Thayer Avenue überblickte, der Mentor im Bungalow außerhalb der Gartenmauer, an der die meterhohe Blautanne stand. Jodie, eine geheimnisvolle Frau, die außer dem Mentor nur Claudine zu Gesicht bekam, hatte in meinem Zimmer über der Garage gewohnt. Jetzt war ich die Einzige auf dem Gelände, die allein wohnte. Lola war mit den beiden Jüngsten in das geräumige Quartier gezogen, das vorher dem Mentor gehört hatte, weil sie ihr eigenes Zimmer haben wollte. Zwei Frauen hatten die ehemaligen Unterkünfte von Frida und Gwen im Haupthaus bezogen, das meinem Mönchszimmer gegenüberlag. »Die Marias« hatte der Mentor sie einmal aus Spaß genannt, weil sie als Kinder zu guten, gehorsamen Katholikinnen erzogen worden waren.

»Natürlich weiß ich das noch, Lola. Es war ein herrlicher Tag!«

Zu ihrer Begrüßungsparty hatten Lola und ich unsere roten Zwillingsseidentücher und die weißen Blusen getragen, die der Mentor aus Mexiko mitgebracht hatte. Dazu hatte der schwarzgraue Anzug gepasst, den ich mit dem Mentor im Beverly Center anlässlich meiner neuen Laufbahn als Doktorandin gefunden hatte. Claudine hängte eine Piñata vor Fridas Fenster im Innengarten und schmückte den Patio mit altmodisch aussehenden Spruchbändern, auf denen in bunten Buchstaben Willkommen zu Hause! und Gratulation! stand. Da Lola das einzige Kind war, durfte auch nur sie mit verbundenen Augen nach der Piñata hauen. Nachdem sie die heruntergefallenen Süßigkeiten alle eingesammelt hatte, brachte der Mentor ein Tablett mit Schnapsgläsern und einer Flasche Duque d’Alba in den Garten und goss jedem von uns ein. Frida leerte ihr Glas in einem Zug und hielt es dem Mentor sofort wieder hin, um es nachfüllen zu lassen, und während wir alle lachten, drehte sich Josh zu mir und fragte flüsternd, ob Lola wirklich mein Kind war. Er konnte sich die Frage nicht verkneifen. Dabei hätte er es besser wissen müssen. Außerdem kannte er die Antwort schon, bevor ich sagte: »Ja, sie ist meine Tochter.«