Mein Verhältnis zu Josh hatte sich merklich abgekühlt. Wir redeten kaum noch miteinander, auch in den Kursen nicht. Wir hatten das Gefühl, miteinander zu konkurrieren, und sobald wir uns sahen, wurden wir daran erinnert.
Eines Abends lud uns Frida ins Dominick’s ein, um die Zusage von Scorsese zu feiern, der Joshs neue Miniserie produzieren würde.
Während wir anstießen, schlug sie vor, dass ich bei den Dreharbeiten »Eduardos persönliche Assistentin« werden sollte. Was wir davon hielten, wollte sie nicht wissen. Wir hätten dem nie zugestimmt. Zwischen uns hatte sich eine unsichtbare Schicht gebildet, dünn und unterkühlt, die mittlerweile eisig geworden war.
Aber Frida nannte unsere Zusammenarbeit ein schlichtes Manöver, und ich willigte aus einem ganz praktischen Grund schließlich doch ein. Ich brauchte einen bezahlten Job, und eine bessere Gelegenheit würde sich so schnell nicht bieten.
Von uns dreien, die der Mentor wegen der beiden Männer und der Frau in der Wüste zu den Wesen zählte, die in seinem Leben immer wiederkehren würden, war Josh als Einziger groß rausgekommen. Er war cool, eine Insider-Berühmtheit, ein Enfant terrible, das die richtigen Leute kannte und sie wie Luft behandelte, weswegen sie ihn noch mehr liebten. Er trug immer noch ausschließlich schwarz, wie schon als Achtjähriger, wobei er es jetzt übertrieb, indem er mehrere Schichten übereinanderdrapierte und dazu spitze Cowboystiefel mit Fersenkette trug. Als seine Mutter noch die Kleidung für ihn ausgesucht hatte, war er schlicht und elegant gekleidet in die Schule gekommen. Seine Mutter kannte sich damit aus. Sie arbeitete als Einkäuferin für I. Magnin und betreute dort besondere Kundinnen, darunter einige Stars, denen sie in Privatvorführungen neue Kollektionen vorstellte. Während der Schlussverkäufe hatte meine Großmutter mich manchmal zu I. Magnin mitgenommen. Das Kaufhaus lag nicht weit vom Haus meiner Großeltern entfernt. Es war auch nicht weit entfernt von Joshs Elternhaus oder dem des Agenten.
Auch der Agent hatte in Hollywood Karriere gemacht. Er war nicht weniger erfolgreich als Josh. Nachdem er jahrelang für Creative Artists gearbeitet hatte, hatte er seine eigene Agentur gegründet und konnte eine beeindruckende Liste von Klienten vorweisen, einschließlich des Mentors. Aber im Gegensatz zu Josh scheute er das Rampenlicht. Tagsüber war er der taffe Strippenzieher, doch ab fünf Uhr nachmittags widmete er sich den Lehren des Mentors, pflegte einzelgängerische Hobbys wie Bienenzucht und Gärtnern oder destillierte Tinkturen aus seltenen Kräutern. Statt am Wochenende Promipartys zu besuchen, unternahm er lange einsame Wanderungen in den San Bernardino Mountains oder durch eine der Wüsten. Je schwermütiger er wurde, je mehr er sich zurückzog, umso weniger schien er dem funkelnden Geist, um den es bei all dem ging, noch zu entsprechen, was ihm den Spitznamen Petrov eingebracht hatte, den der Mentor mit einem schweren russischen Akzent aussprach.
Hätte der Agent ein Zehntel von Joshs unterhaltsamer, scharfsinniger Leichtigkeit besessen und Josh wiederum ein Gramm der Schwermütigkeit des Agenten, wären beide wie geschaffen gewesen für die Welt des Mentors, vor der sie solche Ehrfurcht hatten. Sie strengten sich wahnsinnig an. Das tat ich auch. Aber meine Lage war nebulöser als ihre, und das verschaffte mir einen unerwarteten Vorteil.
Ich hatte nichts zu verlieren.
Bisher war ich immer auf Umwegen unterwegs gewesen, hatte in mehreren Ländern gelebt, ein paar Sprachen gelernt, keine davon perfekt, aber so, dass ich einigermaßen zurechtkam. Aus irgendeinem Grund hatte ich oft die Bekanntschaft einflussreicher Leute gemacht, Filmemacher, Künstler, Aristokraten, Millionäre, reiche Erben, aber mir wäre nicht in den Sinn gekommen, einen von ihnen um Hilfe zu bitten. Ihnen wiederum kam nicht in den Sinn, dass ich ihre Hilfe brauchen könnte. Man bat nicht um Hilfe. Das hatten Josh, der Agent und ich, die wir auf der falschen Seite der Gleise aufgewachsen waren, schon früh von unseren Altersgenossen auf der richtigen Seite gelernt. Mit Ausnahme meines Vaters hatte niemand aus meinem Umfeld jemals um irgendetwas bitten müssen. Und wenn sie es doch taten, dann auf eine Weise, die implizierte, dass sie es nicht nötig hatten, und so bekamen sie alles, was sie wollten. Besaß man nichts, hielt man besser den Mund.
Seit meiner Rückkehr nach L. A. hatte sich daran nichts geändert. Ich war im Filmgeschäft gescheitert, in einer Beziehung gestrandet, hatte ein paar Bekanntschaften gemacht – meistens mit Leuten, die nicht auf Dauer in der Stadt blieben oder in weniger angesagten Stadtteilen wohnten, mit denen mich aber mehr verband als mit Josh oder dem Agenten, die ihren Sechs-Meilen-Radius nie verlassen hatten. Josh hatte sich sogar die Karte unseres Viertels auf den Handrücken tätowieren lassen. Jeder Finger trug den Namen einer anderen teuren Straße, in der er eines Tages leben wollte: Beverly, Rodeo, Camden, Bedford, Roxbury. Zwischen den Knochen, die von seinen Fingerknöcheln zum Handgelenk verliefen, waren die Querstraßen verzeichnet, aber nur jene nördlich der Gleise, dort, wo die großen Villen standen: Carmelita, Elevado, Lomitas, Sunset. Der Olympic Boulevard, an dem wir drei aufgewachsen waren, hatte es nicht einmal auf seinen Daumen geschafft.
Während der Mittagspause am Set trug Josh mir Besorgungen auf. Ich sollte Wäsche aus der Reinigung holen, einkaufen gehen und Schecks auf der Bank einlösen. Nichts davon hatte auch nur entfernt mit seinem Film zu tun. Um alle Besorgungen rechtzeitig vor Ende der Drehpause erledigen zu können, hätte ich mein Sandwich in aller Eile herunterschlingen müssen. Wir waren mit der To-do-Liste noch nicht fertig, als sich einige Leute aus dem Team zu uns an den Tisch setzten. Ich rückte ein paar Stühle weiter, um dem Starlet Platz zu machen, das Josh neben sich haben wollte. Das Team war witzig, ich mochte die Gespräche. Einer der Schauspieler erzählte, wie er einmal in eine irrsinnig peinliche Situation geraten war, und schlug vor, solche peinlichen Geschichten sollten in jeder Pause zum Besten gegeben werden. Die Stimmung war ausgelassen, bis schließlich einer nach dem anderen ans Set oder in den Trailer zurückkehrte. Josh und ich blieben allein.
»Meine Story schlägt alle anderen«, sagte ich.
»Echt?« Er war damit beschäftigt, der Liste weitere Aufträge hinzuzufügen.
Es war riskant, ihm die Geschichte zu erzählen. Vielleicht hoffte ich, sie würde uns einander wieder näher bringen oder wenigstens die Spannung zwischen uns lösen. Vielleicht ging mir das, was passiert war, auch immer noch so nah, dass ich es mir von der Seele reden wollte. Wenn mich irgendjemand verstand, dann er.
»Du kennst doch die Ampel am Wilkins Drive, an der man ewig warten muss«, sagte ich. »Ich stand schon eine Weile dort, als ein schickes Cabrio angerast kam und jemand nach mir rief.«
Josh schaute endlich von seinen Notizen auf.
»Dieselbe Stimme hatte kurz vorher schon einmal meinen alten Namen gerufen. Das Auto musste einmal um den Block gefahren sein. Ich war auf meinem Nachmittagsspaziergang und hatte nicht damit gerechnet, jemanden zu treffen. Schon gar nicht jemanden, den ich seit Ewigkeiten kenne. Dummerweise hatte ich meine Sonnenbrille nicht mitgenommen.«
»Echt?«
»Ja! Also sagte ich gutmütig und mit deutschem Akzent: ›Tut mir leid, Sie müssen sich irren. Ich glaube, Sie verwechseln mich mit jemandem.‹ Die entscheidenden Worte, du weißt schon, ich hatte sie noch nie vorher ausprobiert.«
»Nicht wirklich«, sagte er. »Aber geil, erzähl weiter.«
Mir fiel ein, dass Josh dieses Problem mit dem Namen nicht hatte. Er war hauptsächlich Josh. Nur der Mentor und die anderen Kursteilnehmer nannten ihn Eduardo.
»Es war ausgerechnet Kimmie Mackenzie«, sagte ich. »Wusstest du, dass sie direkt gegenüber von meinen Großeltern wohnte? Während ich Mittagsschlaf machen musste, hat sie draußen mit den anderen Kindern gespielt. Kimmie Mackenzie. Ihre Stimme hat mich wahnsinnig gemacht. Kimmie und ich würden einander auf zehn Kilometer Entfernung erkennen, ganz egal, wie viele Jahre vergangen sind.«
»Und?«
»Sie tat so, als hätte sie mich nicht gehört. Ich dachte, vielleicht ist der Verkehr zu laut, oder ich hätte zu leise gesprochen. Also hab ich es noch mal lauter gesagt und dabei den magischen Satz verpfuscht: ›Ich bin jemand anders, Sie bringen mich durcheinander.‹ Auch der Akzent hat nicht mehr gestimmt, ich klang wie eine schlechte Imitation von Colonel Klink. Und zu allem Übel habe ich es noch ein drittes Mal gesagt. Die Formel war jetzt zwar korrekt, dafür hatte ich den Akzent diesmal völlig vergessen. Und du weißt, wie Kimmie Mackenzie ist.«
Josh kannte Kimmie. Sie hatte ihn mit unserer gemeinsamen besten Freundin verkuppelt, nachdem er die Highschool geschmissen hatte, und zu beiden hielt er noch immer engen Kontakt. Im Kontaktepflegen war er gut. Ich nicht.
»Kimmie schrie ihrem Freund zu: ›Sie glaubt, ich irre mich, was für ein Brüller!‹, und hat so gelacht, dass es von den Häusern jenseits der Straße widerhallte, als das Cabriolet schon um die Ecke gerast war. Es war so demütigend.«
»Wow.« Josh grinste, aber es war kein freundliches Grinsen. Die eisige Schicht zwischen uns wurde wieder spürbar.
»Das mit dem Akzent hab ich gar nicht gewusst. Was für ein meisterhaftes Detail«, sagte er.
»Woher solltest du das auch wissen? Ich hab es dir doch gerade erst erzählt.«
»Ach, die Geschichte hat doch längst die Runde gemacht. Alle wissen Bescheid.«
»Was soll das heißen?«, fragte ich leichthin, aber als ich seine Miene sah, sackte mir das Blut nach unten.
»Tja«, sagte er spöttisch. »Kimmie hat es Shelley erzählt, Shelley hat es mir erzählt und ich …« Er nickte mir auffordernd zu, als sollte ich den Satz für ihn beenden. »Also?« Er zog die Augenbrauen hoch wie Groucho Marx. »Du weißt es nicht? Okay, halt dich fest …« Er machte eine dramatische Pause. »Ich hab es Frida erzählt!« Sein Lachen klang gemein.
Wir kamen nicht gut miteinander aus. Dass wir uns seit Beginn der Dreharbeiten wieder regelmäßig sahen, änderte daran nichts. Wir belauerten uns, denn niemand wollte das Ding als Erster gegen die Wand fahren. Wenn wir nicht einmal in der Lage waren, ein schlichtes »Manöver« auszuführen, wie konnte dann von uns erwartet werden, dass wir die Geheimnisse des Universums entschlüsselten? Meine einzige Hoffnung bestand darin, dass Claudine oder der Mentor eingreifen würden, weil sie einsahen, dass es nicht funktionierte. Josh und ich hatten eine gemeinsame Vergangenheit, und das war eine schlechte Voraussetzung für so ein Manöver. Möglicherweise bestand darin jedoch die Herausforderung. Wir sollten die eigene Geschichte vergessen und auch am Set nicht in unser altes Ich zurückfallen. Für das Filmteam war er allerdings Josh. Und auch ich nannte ihn in Gedanken immer noch so. Aber wenn niemand dabei war, bestand er darauf, dass ich ihn Eduardo nannte. Das machte die Sache kompliziert.
Für ihn war es leichter. Er tat genau das, wovon ich mein Leben lang geträumt hatte. Ich dagegen war nur seine »Tippse«, wie er gern ironisch sagte, die sich auf der Überholspur in eine Welt hineingeschmuggelt hatte, zu deren Zentrum er unbedingt gehören wollte, wovon er wiederum nur träumen konnte.
Es ließ sich jedoch nicht verleugnen, dass Josh mir, ob er wollte oder nicht, das Leben gerettet hatte, und dafür schuldete ich ihm Dankbarkeit.
»Leck mich am Arsch«, sagte ich.
»Leck dich selber, Arschgesicht.«
Claudine hatte mir erzählt, dass Josh sich bei Frida über mich beschwert hatte. Dabei hatten die Dreharbeiten erst vor knapp einer Woche begonnen. Vielleicht wollte er ihren Segen dafür haben, mich genauso schlecht behandeln zu können wie jeden beliebigen Assistenten. Ich hatte nicht erwartet, dass er mich aufgrund unserer Verbindung bevorzugt behandelte, aber dass er mich vor dem gesamten Team fertigmachte, damit hatte ich nicht gerechnet.
»Und wo wir schon dabei sind«, rief er mit schriller, nasaler Stimme, »beweg deinen Arsch, bring mir eine Tasse Kaffee und …«, er schüttete die Wasserflasche aus, »… hol mir verdammt noch mal eine neue Flasche Wasser und setz dich verdammt nie wieder auf meinen Regiestuhl!«
Als ich aufstand, trat eine der Stylistinnen auf ihn zu.
»Hey, Joshie, magst du dir mal ansehen, was ich aus Danas Haaren gemacht habe?« Sie war jung und sah gut aus und flirtete natürlich mit ihm.
»Hm, welche Haare meinst du, wo?« Er schenkte ihr sein übliches wollüstiges Grinsen. »Da hätte ich doch dabei sein wollen.«
»Pass auf, Süßer. Oder du kommst als Nächster dran! Ich weiß auch schon, was ich mit dir anstelle …« Aufreizend strich sie ihm über das Netz von Adern auf seinem Schädel und über die rasierklingenscharfen Wangenstoppeln.
»Sag das noch mal, und ich geh mit dir, wohin du willst«, sagte er mit seiner gewohnten, samtig-überhauchten Stimme.
»Übrigens reden alle von der letzten Sequenz, die du abgedreht hast. So genial! So großartig!« Sie strahlte ihn an. »Ich hab’s nicht ganz verstanden, aber alle sagen, du bist der neue Soderbergh, der neue Tarantino!«
Josh tat so, als würde er sich Sabber aus dem Mundwinkel wischen, wie um das Kompliment ins Lächerliche zu ziehen, aber ich sah, dass er darauf abfuhr.
Wahrscheinlich würde ich nicht mehr lange für ihn arbeiten. Das gegenseitige Belügen hatte einiges kaputtgemacht; meine Rolle als seine persönliche Assistentin zerstörte den Rest.
Entweder würde ich kündigen oder er würde mich rausschmeißen – aus Angst, ich könnte dem Mentor erzählen, wie er sich in dessen Abwesenheit verhielt, in der wirklichen Welt, am Set.
Vielleicht hielt ich es auch einfach nie besonders lange in einem Job aus und war dazu verdammt, immer wieder bei null anzufangen.
Vielleicht hatte ich es deshalb nie zu etwas gebracht.
Genau das war die Definition von Nullsummenspiel.
Am nächsten Morgen erwachte ich, als es noch dunkel war, und auch, als ich aufstand, wurde es nicht hell. In der eisigen Wüstenluft fröstelnd, die nachts durch die Fenster drang, nahm ich meine Uniform vom Schreibtischstuhl neben dem Bett. Bei den Dreharbeiten trug ich schwarze Slacks, eine schwarze, langärmelige, geknöpfte Bluse, einen schwarzen Cashmereschal und Stiefel, dasselbe Outfit, das ich damals beim Mittagessen mit dem Mentor getragen hatte.
Ich eilte zum Auto. Die Kälte kroch mir in die Knochen. Ich stellte den Motor an, damit die Heizung warmlief, während ich meine Aktentasche nach dem Drehplan durchsuchte. Die Tasche war neu. Gwen hatte sie mir geschenkt, als wir zusammen in der City Hall offiziell meinen Namen hatten ändern lassen. Die Tasche war aus robustem goldbraunem Leder. Unterhalb der einklappbaren Griffe hatte Gwen meine Initialen einprägen lassen. Sie war der Meinung, ich würde damit immer gut organisiert sein, professionell, oder, wie sie es formulierte, »ein Profi«. Das war allerdings sehr weit hergeholt an diesem Morgen im Auto, als ich nervös die verschiedenen Fächer durchwühlte, die alles Mögliche enthielten, nur nicht den Plan mit dem genauen Drehort. Schließlich drehte ich die Aktentasche um und schüttete den gesamten Inhalt auf den Beifahrersitz. Pure Zeitverschwendung. Ich hatte den Drehplan nicht eingesteckt.
Ich stellte den Motor aus, rannte zurück zum Haus, fummelte mit dem Schlüssel am Türschloss herum, schnappte den Ordner mit den Ablaufplänen vom Schreibtisch und warf einen Blick auf die königsblaue Uhr. Die Panne hatte mich fast zehn Minuten gekostet. Wenn ich mich nicht beeilte, würde ich zum Arbeitsbeginn um 6:15 Uhr zu spät kommen, und nach mehreren Verwarnungen konnte ich mir das nicht mehr leisten.
Auf dem Freeway 405 schimmerte das erste Morgenlicht blutrot über den San Bernardino Mountains, und dieser Zauber am Horizont ließ meine neue, sinnlose Aufgabe »Schauspieler und Crew von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang mit Flüssigkeit zu versorgen« fast lohnenswert erscheinen. Für einen Moment machte ich mir keine Sorgen mehr, ob ich den richtigen Freeway erwischt hatte.
Schon als Josh mir gesagt hatte, ich solle bei Sonnenaufgang am Set sein, hatte ich gewusst, dass es keinen Sinn hatte, mich mit ihm anzulegen oder ihn darauf hinzuweisen, dass das Cateringteam für das leibliche Wohl des Teams zuständig war. Das wäre bloß wieder auf mich zurückgefallen. Mit Frida war es mir ähnlich gegangen. Ich hatte mit ihr über Joshs To-do-Listen lästern wollen, und sie hatte mich abblitzen lassen.
Ich war bei Frida gewesen, um Feigen, Zitronen und Lavendelblüten abzuholen, die sie gepflückt und mir angeboten hatte. Das Tor hatte weit offen gestanden, als ich zu ihr kam, die Sonne verschwand hinter der Blautanne. Frida trug ein weißes Männerhemd aus weicher Baumwolle, das ihr zu groß war, und Sandalen, die an ihren gebräunten Füßen sehr deutsch wirkten und mich an den Spitznamen erinnerten, den ihr der Mentor gegeben hatte: Valquiria. Er machte sich darüber lustig, dass sie jeden Tag »wie eine gute Deutsche« den Boden schrubbte. Auch jetzt war sie gerade dabei, den Patio im Innengarten abzuspritzen.
Das glitzernde Wasser, das in hohem Bogen in den Himmel schoss, wie kristallenes Feuerwerk auf die heißen Steine niederging und sich in kleinen Dampfwolken auflöste, beruhigte mich. Über dem Garten lag eine träumerische Stimmung. Selbst der Schlauch schien zu träumen, als er hinter Frida her die Treppen hinauf- und hinabglitt, sich mühelos um die Obstbäume und Rosmarinbüsche wand und sich kein einziges Mal verhedderte oder hängenblieb, nicht einmal auf den unebenen Stufen, auf denen ich saß. Beide bewegten sich wie aufeinander abgestimmt; ein Kolibri mit einer gigantischen Boa.
»Und warum solltest du seine Wäsche nicht aus der Reinigung holen?«, fragte Frida, und es war, als hätte sie den Schlauch auf mich gerichtet und mich mit eisigem Wasser übergossen.
Ich hatte keine passende Antwort. Joshs Aufgaben hatten nichts mit dem Film zu tun, aber das hatte ich ihr schon gesagt.
»Er weiß verdammt noch mal, dass ich Produzentin war! Er hat mich in meiner Produktionsfirma besucht.«
»Hätte ich einen deiner Filme gesehen haben sollen?«, fragte Frida.
»Glaub nicht«, murmelte ich und fügte sofort hinzu: »Ich erwarte keine Sonderbehandlung. Aufgrund unserer Verbindung oder so. Aber ich hatte mich nicht damit einverstanden erklärt, seine privaten Besorgungen zu machen.«
Ich erwähnte nicht, wie gut er sich in seiner neuen Rolle als mein »Vorgesetzter« gefiel und dass er keine Mühe scheute, mich vor dem gesamten Team herunterzuputzen. Vielleicht hatte man ihm signalisiert, es sei in Ordnung. Möglicherweise hatte der Mentor durchblicken lassen, es tue mir gut, meine Selbstgefälligkeit zu hinterfragen. Oder Frida hatte ihm gesagt, er solle mich behandeln wie jeden anderen Assistenten auch und sie über den Stand der Dinge auf dem Laufenden halten. Mir war nicht entgangen, dass Josh mich während des Drehs manchmal einfach nur anstarrte, ohne Groll, aber auch nicht freundlich. Sein Blick war nicht zu deuten. Es war, als verfasste er einen Bericht. Manchmal tippte er etwas in sein Blackberry, und wenn er fertig war, wartete er so lange, bis ich zu ihm hinüberschaute, ehe er demonstrativ auf Senden tippte.
Momentan mochte er am längeren Hebel sitzen. Aber das Blatt konnte sich ebenso schnell wenden. Jedenfalls redete ich mir das ein, während ich Frida beim Wässern des Gartens zuschaute.
»Womit hattest du dich denn einverstanden erklärt?«
»Wie bitte?«
»Du hast gerade gesagt, du hast dich nicht mit den Besorgungen einverstanden erklärt. Womit also warst du einverstanden?«
Zügig schritt sie über den kleinen Weg auf die Cabaña zu, trat auf die erhöhte Plattform und wischte fachkundig die glänzende Konsole am offenen Fenster ab.
»Es war eher eine unausgesprochene Einverständniserklärung.« Ich versuchte, die ganze Sache wegzulachen, aber meine Oberlippe blieb an den Zähnen kleben. »Ich meine, mal ehrlich: Wenn ich eine ›Tippse‹ hätte, wie Josh meine Position wohlgemerkt zu nennen pflegt, eine Tippse, die alle meine Besorgungen erledigt, würde ich im Regiestuhl sitzen, und er müsste meine Wäsche von der Reinigung holen. Da kannst du sicher sein!«
Frida sagte nichts.
Wahrscheinlich hatte sie mich über dem kräftigen Wasserstrahl nicht gehört. Sie ließ das Wasser laufen. Sie verplemperte es, als stünden davon unerschöpfliche Mengen zur Verfügung. Ich wurde wütend. Ich war in L. A. aufgewachsen. Ich war darauf trainiert, nie auch nur einen einzigen Tropfen zu verschwenden. Nicht einmal in Berlin, wo es ständig regnete, hatte ich das getan. Ich hatte Wasser immer als wertvolle Ressource betrachtet. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Frida weder die endlosen Dürren noch die Tatsache vor Augen hatte, dass von den Fluten des El Niño nicht einmal eine Lache in den Wasserreservoirs zurückgeblieben war, dass sie nicht daran dachte, wie stark der Boden austrocknete, so dass er das Regenwasser nicht mehr absorbieren konnte; es floss zurück ins Meer und wurde zu Lauge. Auch ihr musste aufgefallen sein, dass die Bataillone von Gärtnern, die jeden Morgen in ihren Pick-ups Richtung Westen fuhren, aufgrund der hohen Bußgelder für Wasserverschwendung gezwungen waren, ihre geliebten Schläuche, mit denen sie ganze Bäche in die Gullys auf den Gehwegen gespült hatten, gegen laute, benzinbetriebene Laubbläser einzutauschen, und jetzt die Luft wegen ein paar toter Blätter verschmutzten, die sie von einem Vorgarten in den nächsten bliesen.
»Er nennt mich ›Süße‹.«
Ich war schockiert, wie kleinlich sich das anhörte. Noch mehr schockierte mich, wie mühelos ich Josh verriet. Nicht, dass er mir nicht auch in den Rücken gefallen wäre; wenn man es genau nahm, hatte er das bereits getan.
»Ja und?« Frida sah mich skeptisch an, während sie den Schlauch sorgfältig um den Hahn rollte.
»Er nennt jedes weibliche Wesen am Set ›Süße‹«, sagte ich noch empörter. »Und er benutzt die ganze Zeit Wörter wie ›zart‹ und ›rührend‹. Und die Leute kaufen ihm das auch noch ab! Wie obszön.«
»Vielleicht nennt er dich ›Süße‹, weil er sich nicht an deinen Namen erinnern kann?«
Und dann nannte sie mich bei meinem alten Namen.
Auf dem Freeway 405 in Richtung Norden kam mir plötzlich der Gedanke, dass ich den 405 in Richtung Süden hätte nehmen sollen. Oder einen ganz anderen Freeway, den 10 Richtung Osten oder Richtung Westen. Ich fuhr rechts ran und hielt auf dem Standstreifen, um die Adresse und die Wegbeschreibung auf dem Drehplan zu überprüfen. Sobald ein LKW vorbeifuhr, erbebte das Auto, als würde es im nächsten Moment mitgeschleift werden.
Die Buchstaben verschwammen, und ich nahm die Sonnenbrille ab. Die Namen des Teams auf dem Plan sagten mir nichts. Auch den Titel der Produktion, der in Druckbuchstaben oben auf der Seite prangte, hatte ich noch nie gehört. In meiner Eile hatte ich den falschen Drehplan erwischt.
Um diese Zeit war noch niemand im Produktionsbüro.
Josh konnte ich nicht anrufen, um nach dem Weg zu fragen.
Ich setzte den Blinker und fädelte mich wieder auf dem Freeway ein, wo der Verkehr wegen der vielen Pendler mittlerweile dichter geworden war. Es war 7:18 Uhr, kurz vor der Rushhour. Bald würde ich im dicksten Stau stecken. Ich beschleunigte und wechselte die Spur. Zwei Autolängen vor mir fuhr ein metallicblaues Mustang-66-Cabriolet, das immer die schnellste Spur zu erwischen schien. Ich hängte mich dran und musste an die eisige Schicht zwischen Josh und mir denken. Ich versuchte mir den einen Moment ins Gedächtnis zu rufen, in dem sie entstanden war. Die Kühle war schon auf unserer dritten und letzten gemeinsamen Fahrt zum Kurs spürbar gewesen, als er gesagt hatte, er würde mich ab sofort nicht mehr mitnehmen. Vielleicht hatte er sich von mir fernhalten sollen. Oder er hatte die Geschichte mit den drei Trampern in der Wüste letztlich doch nie gehört. Vielleicht wusste er nichts von der Verbindung zwischen uns und davon, dass wir, wenn wir es auf die andere Seite hinüberschaffen wollten, zusammenhalten mussten.
Das Exit-Schild zum San Fernando Valley verschwand aus dem Rückspiegel, als mir schlagartig klar wurde, dass sich das Eis an jenem Abend gebildet hatte, als wir mit Frida im Dominick’s gewesen waren und sie mir vorgeschlagen hatte, ihm zu assistieren. Ich hatte einen harmlosen Witz über sein neues Tattoo auf dem Handrücken gemacht. Ich hatte ihn gefragt, ob er es sich hatte stechen lassen, nachdem er nicht zum Kurs eingeladen worden war und er hatte annehmen müssen, rausgeworfen oder durch mich ersetzt worden zu sein. Und das Einzige, was ihm blieb, seien diese ausgelatschten sechs Meilen gewesen. Aus Spaß hatte ich ihn einen ungezogenen Jungen genannt, weil er es gewagt hatte, am Telefon in die no go zone vorzudringen und zu fragen, ob ich im Kurs gewesen war. Fassungslos, als hätte ich ihm ins Gesicht geschlagen, sah er mich über den Tisch hinweg an. Ich ruderte zurück. Ich fing an, über die Beschaffenheit des Tattoos zu rätseln, auch das mit ironischem Unterton. Ich fragte ihn, ob ihn die Kindheit auf der falschen Seite der Gleise so traumatisiert hatte, dass er diese bescheuerten sechs Meilen immer im Blick behalten musste. Wohin er auch ging. Obwohl er sie noch nicht einmal verlassen hatte und die Karte, die in seine Haut gezeichnet war, eigentlich viel tiefer reichte.
Frida lachte. Aber ihr Blick war kalt.
Und dann überspielten Josh und ich das Ganze im nächsten Moment wie verrückt. Ich fühlte mich schuldig. Es war, als hätte ich eines seiner Geheimnisse verraten, dabei betraf es mich ganz genauso.
Freeways folgen einem ausgeklügelten System. So viel wusste ich. Dennoch stellen sie ein Risiko dar. Sie waren mir immer rätselhaft geblieben, so wie ein Kompass oder eine Straßenkarte. Mir fehlte das Verständnis für die Himmelsrichtungen, und ich hatte erst vor kurzem gelernt, dass man eine Straßenkarte auch drehen konnte, um einer Straße zu folgen. Navis halfen mir auch nicht weiter, sie verwirrten mich nur noch mehr. Abgesehen davon war ich eine exzellente Fahrerin, vor allem, wenn es ums Schnellfahren, ums Spurenwechseln oder darum ging, den Bullen zu entgehen.
Meistens nahm ich kleinere Straßen. Die beherrschte ich. Ich kannte jede geheime Abkürzung, jede Alley, solange sie sich innerhalb des vertrauten Radius befand. Außerhalb dessen war auch das riskant. Ich musste mich auf Fremde verlassen, die ich unterwegs nach dem Weg fragte, und darauf hoffen, dass das Schicksal es gut mit mir meinte und ich nicht auf einen Trickster traf, der mich in die falsche Richtung schickte.
Die Ausfahrt, die ich nahm, mündete in ein verlassenes Industriegelände. Die Straße führte an öden Plätzen und leeren Lagerhäusern vorbei und durch ein Labyrinth von Bürogebäuden aus billiger Pappe. Eine Baustelle tauchte auf, die nie fertiggestellt und von hässlichen schwarzen Graffiti überzogen war. Am Straßenrand stand hier und da ein verlassenes Auto. Nicht einmal ein Obdachloser war zu sehen, nur Trostlosigkeit, kilometerweit, alte Reifen links und rechts der Straße, an Stacheldrahtzäunen aufgespießte Plastiktüten, kein einziger Starbucks. Um einen besseren Überblick zu bekommen, fuhr ich auf einen Hügel. In der dunstigen Ferne lagen die Straßen, über die ich gekommen war, und ich stellte fest, dass ich im Kreis fuhr. Vom Hügel führte die Straße genau dort auf den Freeway zurück, wo ich gerade abgefahren war.
Aus welcher Tiefe auch immer der heisere Schrei kam, den ich auf einmal hörte; er klang dunkel und höllisch und verursachte Halsschmerzen. Als ich auf das Lenkrad schlug, war ich sicher, mir soeben das Handgelenk gebrochen zu haben.
Noch einmal musste ich am Straßenrand halten und darauf warten, dass die Panik nachließ. Dann tauchte aus dem Tränenschleier vor mir wie ein Trugbild in der Wüste eine Tankstelle auf. Ich trat aufs Gaspedal.
Der Tankstellenwärter hinter dem kugelsicheren Glas sprach nur Spanisch.
Ich hatte Wegbeschreibungen schon immer nur schlecht folgen können. Das Spanische machte die Sache nicht besser. Aber wir gaben nicht auf, wiederholten wieder und wieder, was wir jeweils gesagt hatten, und wie durch ein Wunder begriff ich, dass ich auf dem richtigen Weg in Richtung Westen nach Hollywood war. Aber so sehr mich das auch erleichterte, löste es nicht das Rätsel, wo wir an diesem Tag drehten.
Die Sonne war aufgegangen. Auf dem Freeway war Stau.
Ich hielt bei Peet’s, um zwei Cappuccino zu besorgen, einen für mich und einen für Josh, und während ich auf meine Bestellung wartete, rief ich die Assistentin des Produktionsleiters an. Sie sagte, der Dreh finde in der Nähe von Pasadena in einer ehemaligen psychiatrischen Klinik aus den Zwanzigern statt, mit einem ausgedehnten Parkgelände drumherum. Sie sagte, es handele sich um einen Ort, an dem »schöne Menschen filmreife Nervenzusammenbrüche hatten«, und, wie durch ein weiteres Wunder, war die Klinik nur eine halbe Autostunde entfernt und ich würde lediglich anderthalb Stunden zu spät sein.
Mit etwas Glück würde von meiner Verspätung niemand etwas mitbekommen.
Dann sagte sie: »Ach, übrigens, Joshie hat grad nach dir gefragt.«