Blau

Lola saß auf der Ottomane, das Katzenbuch im Schoß. Der Fernseher lief, und ich öffnete meine Tüte Popcorn.

Kaum hatte es laut geraschelt, kam Sophie durchs offene Fenster ins Zimmer gesprungen.

»Sophie!«, schrie Lola.

Ich schrak zusammen, dann sah ich ebenfalls, dass Sophie sich auf seltsame Weise an der Wand entlangdrückte. Lola versuchte, sie einzufangen, aber Sophie war zu schnell, selbst als trächtige Katze. Schließlich blieb sie in einer Ecke sitzen. Zwischen ihren Lippen bewegten sich panisch dünne, haarige Beinchen.

»Lola!«

»Mommy!«

»Sophie!«

Sophie ließ das, was sie im Schnäuzchen hielt, zu Boden fallen und sah mich an. Die glänzende braune Kakerlake war ein Geschenk.

»Ich kann das nicht, Lola, mach was!«

»Du bist meine Mommy!«

»Sophie ist dein Kätzchen!«

»Wir sind wie die alte Dame im Zeichentrickfilm!«, brüllte Lola, und dann lachten wir beide, bis das Popcorn aus den Tüten fiel.

Sophie schaute uns ratlos an.

Ich würgte, holte einen großen Abwaschlappen, stülpte ihn über das Tier und warf es aus dem Fenster, mit Lappen und allem.

»Das ist meine Mommy«, sagte Lola.

»Jawoll«, sagte ich, »keine Frage, Gätzchen.«

Inzwischen hatte Sophie sich über das verschüttete Popcorn hergemacht.

»Hey, nicht so schnell, du!«, rief Lola und rettete unsere Tüten, bevor Sophie den gesamten Inhalt verschlingen konnte.

Das Ausfüllen des Katzen-Fragebogens gab Lola und mir die Möglichkeit, uns über Sophies Erziehung zu verständigen. Bei den meisten Dingen, die die Fürsorge für unsere Katze betrafen, waren wir uns einig, und wenn wir verschiedener Ansicht waren, beruhte das eher auf unserem jeweiligen Verhältnis zu Sophie als auf unserer Lebenseinstellung. Meine Tochter übernahm die autoritäre Rolle eines strengen Elternteils mit kritischer Haltung ihrem Schützling gegenüber, und ich wechselte zwischen vernarrter Großmutter, Ersatzvater und Enkelin hin und her.

»Warum hast du eine Katze«, las Lola laut vor und beantwortete die Frage im nächsten Atemzug gleich selbst. Weil sie uns gefunden hat, schrieb sie, ohne sich mit mir zu beraten. »Das war einfach.«

»Oder«, sagte ich gebieterisch, »sie hat uns ausgewählt. Das hebt ihre Handlungsmacht hervor.«

»Zu kompliziert, Mom«, sagte Lola. »Sie brauchte uns, und wir brauchten sie, fertig.«

»Jawoll! Schreib’s auf«, sagte ich.

Lola blätterte um, hielt inne, blätterte weiter.

»Hey, keine Zensur, Gätzchen. Wie lautet die nächste Frage?«

»Was ist deine Katze von Beruf?« Lola begann wieder zu schreiben.

»Nicht so schnell! Wir wollten uns doch abwechseln.«

»Aber das wissen wir doch: Erst sollte sie in Homeland mitspielen, aber dann hat Claire Danes die Rolle bekommen, und sie wurde engste Beraterin von Präsident Bush und Geheimdienstchefin, blablabla. Und jetzt muss ich Hausaufgaben machen«, sagte Lola und packte ihre Bücher zusammen.

»Dafür ist es sowieso zu spät, mach sie morgen früh.«

Ich zog den Fragebogen zu mir heran und las die nächste Frage vor. »Welche außerschulischen Aktivitäten betreibt deine Katze?«

»Okay, aber das ist die letzte, Mom. Also, schreib!«, ordnete sie an und wartete, bis ich den Kugelschreiber aufs Papier gesetzt hatte. »Forschen und Insektenjagd mit einer Vorliebe für eklige Kakerlaken und manchmal ein paar Eidechsen, Vögel und junge Beutelratten. Böse Sophie!«

Lola kitzelte Sophies Pfoten, und Sophie blinzelte sie träge an.

»Lässt du deine Katze am Tisch essen?«, fragte ich.

»Wir haben keinen Tisch, Mom.«

»Aber wenn wir einen hätten, würden wir sie lassen«, sagte ich.

»Wenn wir jemals wie normale Menschen Abendbrot essen würden, schon«, murmelte Lola.

Vor Jahren hatte Lola einmal eine Zeichnung angefertigt, auf der eine Mutter in einer Küchenschürze abgebildet war, die ihrer Tochter selbstgemachte Schokokekse und Milch servierte, wenn sie aus der Schule kam.

»Weitere Namen!«, rief ich, als wären wir auf einer Auktion.

»Schnurrbärtchen, Bubba, Bubbalina, Schofie!«

»Wir haben Wurm-Katze vergessen!«

»Wie ist das möglich?«, fragte Lola ernsthaft erstaunt.

»Wurm-Katze« ging auf das erste Buch zurück, das Claudine für Lola bei Borders gekauft hatte. Es war ein Ratgeber nach Art eines Bauernkalenders, allerdings für Kinder. Kinder lernten, wie man eigenes Spielzeug herstellte und nähte oder kochte. Als erste Aufgabe sollten sie aus mehrfarbigem Garn eine Katze basteln. Auf der Abbildung im Buch sah die Katze großartig aus, plüschig. Lolas sah aus wie ein dürres Würmchen, aber wir liebten sie trotzdem und nannten sie Wurm-Katze. Bei seltenen Gelegenheiten nannte Lola auch Sophie so.

»Weißt du noch, als Claudine unsere Gesichter so angemalt hat, dass wir aussahen wie Tiger?«

»Ihr habt wild ausgesehen.«

»Ich vermisse Claudie, Mommy.«

»Ich auch, Gätzlein.«

»Was meinst du, wo sie jetzt sind?«

»Das habe ich dir doch schon so oft gesagt: Sie segeln mit einem großen Schiff über die Ozeane. Und wenn es Zeit für al fresco ist, ziehen wir los und treffen sie in einem Hafen.«

Mittlerweile waren sie seit fast drei Jahren weg. Seitdem hatten sie nichts von sich hören lassen. Meine Zweifel, auch nur einen von ihnen wiederzusehen, verbarg ich vor Lola, aber nicht einmal die Marias machten sich noch die Mühe, uns vorzugaukeln, sie wären mit ihnen in Kontakt.