Das äußere Gartentor wurde laut zugeschlagen. Ich warf einen Blick aus dem Fenster und sah Lola geradewegs auf das Haus zustapfen. Sie trug ihre Brille, den Seidenschal und über der Schulter die Aktentasche. Ihr Klemmbrett für die Notizen drückte sie fest an die Brust.
»Zeit für Colette!«, rief sie durch das Fenster und kramte in der Aktentasche nach dem Schlüssel. Sie wirkte geschäftig, wie immer, seit Sophie und ihre Jungen sich in meinem Schrank niedergelassen hatten.
»Colette ist beschwipst«, rief ich zurück, ohne aufzustehen, um ihr die Tür zu öffnen. »Zu viel vin rouge!«
»Dann gib ihr ein bisschen Katerbier«, sagte Lola und ließ sich auf die harte Ottomane fallen.
»Na?«, sagte sie dann. »Wo ist die große, alte, haarige Verräterin?«
So nannte sie Sophie seit neuestem, die jetzt aus dem Schrank getappt kam, ihren Hintern in die Luft reckte, die Vorderpfoten lang ausstreckte und Lola angähnte.
»Ach, Sophie, ich habe dich doch auch vermisst. Komm her, du kleine Göre.«
Kaum war Sophie nah genug, nahm Lola sie am Schlafittchen und hielt sich die Katze vors Gesicht. Sie machte das gern, und jedes Mal nahm Sophie zärtlich Lolas Nase zwischen die Zähne und gab ihr einen Liebesbiss.
»Du solltest sie nicht so hart vom Boden hochreißen, Gätzchen. Sie kommt schon zu dir, wenn sie es will. Sie macht das aus freien Stücken. Sie ist genauso ein autonomes Wesen wie du.«
»Böse Sophie«, sagte Lola, ignorierte mich und drückte die Katze fest an die Brust.
Sophie versuchte, sich ihrem Griff zu entwinden, aber Lola schob sie in ihren Schoß und hielt sie dort fest. Kaum hatte sie die Hand gelockert, sprang Sophie auf den Boden.
»Warum ist sie böse?«, fragte ich. »Sie ist eine Vorzeigemutter. Ich habe noch nie eine Mutter gesehen, die so gut zu ihren Kindern ist.«
»Ich auch nicht«, sagte Lola etwas zu heftig und starrte mich mit großen Augen an. Ihr Blick sollte ernst sein, aber mit ihrer Brille sah sie wie eine siamesische Katze mit verschmierten Gläsern aus.
»Diese Bemerkung wird aus dem Protokoll gestrichen«, sagte ich.
»Niemand hier ist eine Vorzeigemutter.« Lola zog ein übertriebenes Schmollgesicht.
Sophie sah verwirrt aus. Lola war ihr nicht wie sonst hinterhergelaufen. Also legte sie sich, statt zu entwischen, auf den Boden und schaute uns mit trägen Lidern wie betrunken an.
»Sag mir, was du weißt, und nur dafür werde ich mich entschuldigen.«
Aber Lola hatte keine Lust auf die alten Spielchen.
»Du musst sagen: ›Ich weiß alles!‹«
Lola rollte sich auf der Ottomane zusammen. So hatte ich sie schon öfter erlebt. Der Mentor hatte mir gesagt, sie leide unter einer »ontologischen Traurigkeit«, die seiner sehr ähnlich sei und nichts mit der Bockigkeit kleiner Kinder zu tun habe oder mit der Psychologie des »Ich, ich, ich, was ist mit mir?«, die die Menschheit plage. »Ihre Traurigkeit«, sagte er, »hat andere Ursachen und entsteht wie eine Welle, die dem Kosmos entströmt.« Er sagte, ich solle sie in Ruhe lassen, wenn sie von dieser Welle überrollt werde, und wenn ich etwas daran wiederzuerkennen glaube, dann nur, weil sie das »Arme-Würstchen-Verhalten« der Leute um sie herum imitiere. Er sagte, Lola habe etwas an sich, das ich nie würde ergründen können, auch wenn sie noch so sehr versuche, sich wie ein normales Kind zu verhalten.
»Du hast Sophie, und Sophie hat dich, und ihr beide habt die Jungen«, sagte Lola. »Wer braucht mich da noch? Die Kleinen erkennen mich nicht mal.«
Damals war es mir leichtgefallen, dem Mentor zu glauben, vor allem wenn ich daran dachte, was Lola mir anfangs gesagt hatte: Sie sei ein vierundachtzigjähriger Chinese. Jetzt sah ich nur ein wütendes, verletztes Kind.
»Aber die Kleinen erkennen doch sowieso niemanden«, sagte ich. »Die können noch nicht einmal ihre Augen öffnen.«
»Sophie hat mich verlassen, wie alle anderen. Und du hilfst mir auch nicht.«
Sophie sprang auf die Ottomane und lief über Lolas zusammengerollten Körper.
»Wer hat dich verlassen? Ich? Ich bin hier. Sophie? Sie steht gerade auf dir drauf.«
»Ach egal«, sagte sie und murmelte dann halbverständlich: »Du weißt schon.«
Lolas Brille hing schief, weil sie mit dem Kopf auf der Seite lag, die Gläser beschlugen, und auf dem roten Leder unter ihrer rechten Schläfe bildete sich ein dunkler Tränenfleck.
»Hörst du, wie Sophie schnurrt? Das macht sie bei mir nie. Sie ist ganz vernarrt in dich.«
»Ach, Ma …«
»Wirklich. Das sind wir beide.«
Ich zwängte mich neben sie auf die Ottomane, so dass Lola wie der Belag auf einem Sandwich zwischen mir und der Katze steckte. Nachdem wir eine Weile so umschlungen gelegen hatten, miaute eines der Jungen mit hoher Stimme im Schrank. Sofort sprang Sophie hinunter. Kurz vor der Schranktür wurde sie langsamer, schlenderte lässig darauf zu.
»Zigarettenpause ist vorbei«, sagte ich.
»Du verwöhnst deine Kätzchen!«, rief Lola ihr mit verstopfter Nase hinterher.
»Siehst du, nena? Sie kommt höchstens mal für eine Sekunde raus, und dann heißt es sofort wieder zurück an die Arbeit. Ich sehe sie kaum noch. Sie verschwindet stundenlang im Schrank. Manchmal vergesse ich sogar, dass sie da ist.«
»Wenn du mich nicht mehr sehen würdest, würdest du dann auch vergessen, dass ich da bin?«
»Das war jetzt aber eine seltsame Überleitung, Gätzchen.«
»Glaubst du wirklich, dass Claudie und Simon um die Welt segeln und zu uns zurückkommen?«, fragte sie und sprach den Namen, unter dem sie den Mentor kannte, mit dem leichten spanischen Akzent aus, der sich manchmal noch bemerkbar machte.
»Natürlich.«
Ich hatte gewusst, dass diese Frage eines Tages kommen würde, und mich davor gefürchtet. Lola besuchte mittlerweile die Highschool. Aber seit vor einigen Jahren alle gegangen waren, war mir keine einzige Antwort darauf eingefallen, nur immer neue Fragen.
»Warum hast du Claudine nie gesucht?«, fragte Lola.
»Ich weiß nicht, Lola …«
»Hast du dich nicht gefragt, wo sie ist?«
»Doch.«
»Wirklich?«
»Aber ja!«
»Und warum hast du sie dann nicht gesucht?«, fragte sie noch mal, drängender als zuvor.
»Ich hatte nie das Gefühl, dass sie wirklich weg ist.«
»Lahme Ausrede! Du hättest sie suchen müssen.«
»So einfach ist das nicht, Gätzchen, so hat das hier nicht funktioniert.«
»Manche Sachen sind aber einfach, Mom. Du musst nicht aus allem ein Geheimnis machen.«
Lola entwirrte ihren Körper von der unbequemen Ottomane und folgte Sophie zum Schrank.
»Sobald ich Auto fahren darf, gehe ich weg von hier und finde sie.«
Seit Lola aus dem Blauen heraus Teil meines Lebens geworden war, war es mir unmöglich, mich daran zu erinnern, wie es ohne sie gewesen war, ich konnte es mir nicht einmal vorstellen. Es war, als wären wir immer schon zusammen gewesen, als hätte ich sie immer schon an meiner Seite gehabt. Die Möglichkeit, dass sie mein Leben eines Tages ebenso plötzlich wieder verlassen könnte, wie sie aufgetaucht war, kam mir nie in den Sinn. Aber mit Claudine und dem Mentor und der Welt, die sie mir eröffnet hatten, war es mir ebenso ergangen. Und jetzt gab es nicht einmal mehr die Orte, an denen wir gemeinsam gewesen waren.
Nach ihrem Verschwinden waren viele unserer Lieblingsplätze innerhalb von Monaten abgerissen worden. Auch die Rochester Bungalows, das letzte Bollwerk gegen die Verhochhausung Westwoods, standen nicht mehr. Ein gigantischer Wolkenkratzer hatte alles ausradiert, was einmal dort gewesen war.
Den Sisterhood Bookstore gab es nicht mehr. Borders auch nicht.
Allerdings hatte man mich gewarnt.
»Ich gehe weg«, hatte der Mentor gesagt und die Worte wie bei einer Verkündigung übertrieben betont.
Er hatte mir das oft gesagt. Er hatte gesagt, dass er gehen werde. Aber nur einmal, ganz am Anfang, hatte er das mit einer Zahl von Jahren verbunden. »Wir haben höchstens sieben Jahre, aber das muss reichen.«
Später sagte er: »Mir bleibt keine Zeit mehr« oder: »Uns bleibt keine Zeit mehr« oder, was erfreulicher klang: »Wir haben keine Zeit, aber alle Zeit der Welt.«
Seine Worte waren von großer Dringlichkeit. Aber so, wie ich gelernt hatte, die Horrorszenarien meiner Mutter von Überschwemmungen und Tsunamis und ihre jederzeit drohende Abwesenheit von mir fernzuhalten, betrachtete ich auch seine Warnungen als eine Masche oder bestenfalls als Metapher.
Schließlich war er Tag für Tag da.
Auch in Bezug auf Lola hatte er mich gewarnt.
»Glaub nicht für eine Sekunde, dass das dein Kind ist. Lass es uns glauben, lass es die Welt glauben, deine Professoren, deine Kollegen, aber nicht dich selbst. Glaub das ja nicht. Was konstruiert werden kann, kann auch dekonstruiert werden, einfach so, und manchmal passiert es über Nacht.«
Obwohl ein warmer, milder Wind zum Fenster hereinwehte, wurde mir auf der Ottomane kühl, und ich zog die Decke über Lola und mich. Ich konnte ihr nicht erklären, warum ich Claudine an jenem letzten entscheidenden Tag nicht hinterhergerannt war oder warum ich nicht versucht hatte, ihr zu folgen. Aber als ich jetzt darüber nachdachte, wusste ich, dass das alles mit meinem Kind zu tun hatte.
Wir brauchten mehr Zeit.
»Du kannst nicht gehen, Gätzchen«, sagte ich und hielt sie fest in meinem Arm. »Und wenn, dann komme ich mit. Und glaub keine Sekunde lang, ich würde nicht nach dir suchen, denn ich bin auf derselben Straße direkt hinter dir. Ich werde dich nicht aus den Augen lassen.«
»Ach, Ma, ich kann doch gar nicht weggehen. Wie denn?«, sagte Lola und sah mich über die Schulter hinweg durch ihre verschmierten Brillengläser an. »Du bist doch nur ein kleines Mädchen. Wer soll denn dann auf dich aufpassen?«
»Wir sind beide Kinder«, flüsterte ich. »Gemeinsam.«
»Und Sophie ist unsere Mommy«, murmelte sie, bevor sie einschlief.