Tanz mit mir

Am Nachmittag, als die letzte Aufführung des Wölfischen Theaters stattfand, lag fast der gesamte innere Garten im Schatten. Zitternde Lichtsprenkel verblassten auf der dichten Wand aus Zitronen- und Loquatbäumen vor dem geöffneten Fenster, Spuren der untergehenden Sonne. Zwanzig Klappstühle standen in Halbkreisen auf dem Holzboden für ein Publikum, das aus Mitspielern bestand, die soeben in numeritos aufgetreten und noch ganz aufgedreht waren, und aus dem Mentor, Frida und Gwen, die nur zuschauten.

Ein provisorischer weißer Vorhang teilte den ansonsten leeren Raum in zwei Hälften. Vor dem Vorhang befand sich ein Plattenspieler.

Der letzte numerito stand noch bevor, und eine unruhige Stille trat ein. Claudines Stimme drang aus dem Halbdunkel.

»Der Tango ist als vertikale Einsamkeit bezeichnet worden …«

Eine schmale Gestalt trat in die Mitte der improvisierten Bühne. Sie trug schwarze Hosen und ein raffiniert aussehendes schwarzes Hemd mit Rüschen entlang des V-Ausschnitts. Extravagante Emaillemanschetten in Form langer Pfeilspitzen hielten die Ärmel zusammen, die in Rüschen über die Handgelenke fielen.

Eine Hand streckte sich durch den Vorhang, um den Arm des Plattenspielers auf die Platte zu setzen, und verschwand, Staub und Kratzer, zuerst ein Bandoneon, dann die Melodie eines alten argentinischen Tangos.

Die Tänzerin, in die Claudine sich verwandelt hatte, machte ein paar Schritte. Es sah aus, als würde sie sie einstudieren. Sie hielt ein kleines Notizbuch in den Händen und schien Figuren zu folgen, die sie darin aufgezeichnet hatte. Ihr Rücken war gerade, aber nicht steif, und wie von einer unsichtbaren Kraft getrieben, schien sie über die Bühne zu gleiten. Sie machte Vor- und Rückwärtsschritte, die die Form einer Acht beschrieben, mal kleiner, mal größer, und hielt dabei die Arme wie zu einer Umarmung erhoben. Sie drehte den Oberkörper halb um die eigene Achse, machte einen Rückwärtsschritt, richtete Oberkörper und Arme wieder in Laufrichtung aus, folgte der Vorwärtsacht und blieb dabei die ganze Zeit locker in den Knien und fest auf dem Boden. Sie wiederholte die Schritte. Aber diesmal beschritt sie die Achten rückwärts, als folgte sie einer unsichtbaren Führung, wurde langsamer und blieb dann im Einklang mit dem Licht, das schwächer wurde und verlosch, stehen.

Der Mentor legte Daumen und Zeigefinger zwischen die Lippen und stieß laute Pfiffe aus. Die anderen stimmten ein, klatschten und verlangten eine Zugabe.

»Tanz mit mir!«, forderte Claudines Silhouette aus dem Dunkel.

Der Mentor beugte sich zu mir. »Schau gut zu. Das wirst du nie wieder zu sehen bekommen«, flüsterte er.

Er musste gemerkt haben, dass ich mit dem Ring spielte, den Claudine mir geschenkt hatte. Ich hatte Smaragd, Rubin und Saphir im letzten Licht der Sonne funkeln lassen.

Die Musik setzte wieder ein.

»Schau genau hin«, wiederholte der Mentor streng, und der Ring rutschte mir vom Finger und fiel klappernd zu Boden. Als ein gelber Scheinwerfer aufleuchtete, bückte ich mich eilig und schob ihn auf den Finger zurück.

Claudine wurde jetzt von einer jungen Partnerin begleitet. Sie trug das gleiche Outfit wie sie, allerdings bedeckte eine elegante, doppelreihige Weste den Ausschnitt. Die junge Tänzerin, die unergründlicher und wilder wirkte, als ich Lola je erlebt hatte, bekam von Claudine das Zeichen, dieselben Schritte nachzuvollziehen, die sie selbst im ersten Tableau einstudiert hatte. Es waren Schritte, die auch einmal mit mir geprobt worden waren, in ebendiesem Raum, in dem wir jetzt saßen, bevor Lola zu mir gekommen war.

Der Mentor hatte damals versucht, mir und Claudine einen Tango beizubringen. Jede seiner Unterrichtsstunden, die hinter einer der Türen seines Flurs stattfanden, hatte einen anderen Schwerpunkt. Begonnen hatte er mit der Grundhaltung, die ich nie ganz beherrschen lernte. Nach einigen Stolperern hielt er schließlich mit beiden Händen meine Hüfte fest und drückte mich mit Kraft in Richtung Boden. Er war nicht zufrieden. Claudine kniete sich hin und drückte meine Füße fest auf die Erde. Aber sobald sie ihren Griff lockerte, hob ich wieder ab. Es war, als könnte ich nicht stehen bleiben, keinen Halt finden. Wenn Claudine führte, fiel es mir schwer, zu folgen, und es gelang mir nicht, selbst die Führung zu übernehmen. Sobald ich zu einem Schritt ansetzte, war ich schon beim nächsten, ohne den ersten vollständig ausgeführt und mein Gleichgewicht gefunden zu haben. Sie beschwerten sich, dass ich zu steif war und gleichzeitig zu schlaff, um den notwendigen Widerstand zu bieten, damit wir eine bestimmte Richtung einschlagen konnten. Weil ich nicht fest genug auf dem Boden stand, konnte ich bei einer Richtungsänderung nicht schnell genug reagieren. Ich ähnelte einer leeren Plastiktüte, die der Wind hierhin oder dorthin blies.

»Lass es«, hatte der Mentor schließlich zu Claudine gesagt. »Sie ist es nicht. Du verplemperst deine Zeit. Die Richtige wird noch kommen … das dunkle Pferd!«

Auf dem Weg zur Tür sagte er zu mir: »Wenn du nicht zurückbleiben willst, sobald Claudines Partnerin auftaucht, musst du ankommen. Mit Schuhen und allem.«

Er hatte die Tür leise hinter mir zugemacht.

Die junge Tänzerin auf der improvisierten Bühne probte die Schritte pflichtbewusst. Dann fing sie an, den schlichten Figuren eigenmächtig Verzierungen hinzuzufügen, einen koketten Kick mit der Ferse nach hinten, einen kühnen Schritt zwischen die Beine ihrer Tanzlehrerin, als wollte sie ihr den Raum streitig machen. Nach einer Weile ließ sich kaum noch sagen, wer wen führte. Die Tänzerinnen hatten angefangen, spontan die Rollen zu tauschen. Sie schienen auf Signale zu reagieren, die so subtil waren, dass sie für Außenstehende unsichtbar blieben. Beide schienen sich in beiden Rollen gleichermaßen heimisch zu fühlen.

Während sie sich umeinander drehten, fiel ein greller Lichtstrahl ins Publikum und tauchte die Stuhlreihen in eine Explosion von Blitzen. Als meine Augen sich an das Stroboskoplicht gewöhnt hatten, hatten sich die Tänzerinnen voneinander gelöst und standen am jeweils anderen Ende der Bühne einander gegenüber. Das Licht wurde wieder gedimmt. Ein neuer Tango begann, schneller jetzt fast wie ein Walzer, nur aggressiver, treibend.

Lola zog ein Messer aus der Weste.

Claudine wartete nur eine Sekunde, ehe sie unter ihrem Ärmel ebenfalls ein Messer hervorzog.

Die Schritte, die folgten, sahen kompliziert aus. Nur große Präzision konnte verhindern, dass die Tänzerinnen ins Straucheln kamen, sobald sie versuchten, der anderen den Raum streitig zu machen. Ihre Beine schnellten hinter und vor dem Körper hoch und zwischen den Beinen der anderen hindurch, sie kickten in die Luft, und die Messer blitzten. Sie konnten jeden Moment zustoßen. Dabei waren sie anmutig, kokett und furchteinflößend.

Ehe der Raum ins Dunkel fiel, bildete ich mir ein, dass sie mich anschauten.

Ich hörte, wie Frida dem Mentor zuflüsterte: »Sie haben es getan, mi vida …«

»Was haben sie getan?«, fragte ich den Mentor später.

»Sie sind angekommen. Du kannst dich nicht länger hinter ihnen verstecken. Sie sind nicht mehr da.«