Borders

Mehrere Wochen vergingen, in denen die Kurse immer seltener stattfanden. Schließlich lud man uns gar nicht mehr ein. Schon lange hatte es keinen gemeinsamen Abend mehr auf dem Grundstück des Mentors an der Thayer Avenue gegeben. Niemand informierte uns, niemand sprach mit uns, selbst Claudine hatte aufgehört, mit Lola und mir zu reden.

Mittlerweile war mir klar, dass der Mentor sehr krank war. Es wurde nicht viel darüber gesprochen, aber es war offensichtlich. Lola erzählte ich nichts von meinen Befürchtungen. Ich verschwieg ihr auch, was ich eines Nachmittags beobachtet hatte. Auf dem Rückweg von den Mülltonnen hatte ich einen schwarzen Wagen langsam durch die Alley fahren sehen, er näherte sich Claudines Bungalow. Ich hörte Kies und Glas unter den Reifen knirschen und stellte mich instinktiv hinter eine der Hecken. Der Wagen hielt vor dem hohen Palisadenzaun, der Claudines kleinen Hinterhof abschottete. Auf dem Rücksitz saßen Frida und der Mentor. Er war bis zum Kinn in eine dicke Decke gewickelt und trug eine dunkle Sonnenbrille. Bevor der Wagen zum Stehen kam, trat Claudine aus dem Tor. Sie musste hinter dem weißen Zaun gewartet haben. Aus Angst, entdeckt zu werden, bewegte ich mich nicht. Ich war auch viel zu neugierig. Wenn ich schon keinen von ihnen mehr zu Gesicht bekam, wollte ich wenigstens wissen, was los war.

Alles ging wortlos vonstatten und so, als geschähe es nicht zum ersten Mal. Die hintere Tür des Wagens öffnete sich, und Frida setzte sich auf den Beifahrersitz. Claudine beugte sich zur hinteren Tür und murmelte etwas beim Einsteigen. Es klang wie ein Gurren, das Kosen eines Babys oder eines kleinen Tiers. Nachdem sie auf den Rücksitz geglitten war, legte sie sanft die Arme um ihren Wohltäter, nicht wie ein Mädchen, das seinen Vater umarmt, sondern wie eine Mutter, die ein kleines Kind wiegt. Er legte seinen Kopf an ihre Schulter, und sie streichelte sein Gesicht, ließ ihren Kopf zärtlich auf seinem ruhen.

Der Moment war schnell vorüber.

Als Claudine wieder ausstieg, hielt sie den Blick unverwandt auf ihren Wohltäter gerichtet. Er küsste seine Fingerspitzen und schickte ihr Luftküsse durchs offene Fenster, die sie ihm pantomimisch zurückwarf, bevor der Wagen langsam anfuhr. Dann glitt das Rückfenster hoch, und der Wagen fuhr mit normaler Geschwindigkeit durch die Alley davon. Claudine winkte, bis das Auto außer Sichtweite war, und verschwand dann schnell durch den Hinterhof in ihrem Bungalow.

Sie sah aus, als könnte der leichteste Hauch sie umwehen.

Die Alley war leer und still bis auf das Bellen eines Hundes in der Ferne. Die untergehende Sonne überzog sie mit einem langen Schatten.

Ich ging durch das Gebüsch zum Hofeingang, der noch halb in der Sonne lag. Eigentlich hatte ich zurück in meine Wohnung gehen wollen, klopfte aber sacht an ihre Tür.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte ich, als sie öffnete.

»Geh nach Hause, chola, es ist alles in Ordnung.«

Sie wirkte benommen.

»Ich hab den Mentor gerade vorbeifahren sehen.«

»Er kommt jeden Tag um diese Zeit vorbei«, sagte sie wie zu sich selbst. »Er kommt und sagt: ›Es ist ein prächtiger Tag gewesen‹, und wenn er wegfährt, sagt er: ›Ich küsse meinen Daddy, die Sonne.‹ Und dann schickt er mir Luftküsse, und der Sonne schickt er Küsse, und dann fährt er weg. Das ist alles.«

»Lass mich dir helfen«, sagte ich. »Wir machen ein bisschen Hokuspokus, und alles ist wieder gut.«

Normalerweise lachte sie, wenn ich so etwas sagte.

Jetzt war sie im Begriff, die Tür zuzumachen.

»Warte …«

»Geh nach Hause, chola, ich muss jetzt schlafen.«

Danach sah ich sie längere Zeit nicht mehr, auch nicht zufällig, obwohl wir so nah beieinander wohnten. Die Gardinen vor ihrem Fenster blieben auch tagsüber zugezogen. Claudine war schon öfter angewiesen worden, mich nicht mehr zu kontaktieren. Aber normalerweise war es nur eine Frage von Tagen gewesen, bis sie das Schweigen brach. Diesmal schien sie sich gefügt zu haben.

Eines Abends trafen Lola und ich sie bei Borders an der Kasse. Wir waren in einer merkwürdigen Stimmung, die auch die Straße und die gesamte Umgebung zu durchdringen schien. Zunächst führte ich es auf die Furcht vor the big one zurück, die in der Luft lag, einem starken Erdbeben, das Los Angeles demnächst verschlingen sollte. Aber vielleicht hatte es auch mit uns zu tun, damit, dass wir an der Welt des Mentors nur noch indirekt teilhatten.

Claudine legte Lajos Egris Dramatisches Schreiben und Syd Fields Drehbuch auf den Kassentisch. Ich war schockiert, dass sie ausgerechnet diese Bücher kaufen wollte. Es waren Bücher aus meinem früheren Leben. Damals beim Umzug hatten Claudine und der Mentor mich angewiesen, nichts zu behalten, nicht einmal die wenigen allernotwendigsten Sachen, die wir zunächst auf den Pick-up des Mentors geladen hatten.

Die Idee, neu anzufangen, hatte mir gefallen. Ich war schon immer mit wenig Gepäck unterwegs gewesen. Aber von diesen beiden Büchern hatte ich mich nicht trennen können, und ich hatte sie zusammen mit ein paar anderen wertvollen Dingen in einen Umzugskarton geschmuggelt: mit einem dunkelbraunen zerkratzten Holzkasten, der mit königsblauem Samt ausgeschlagen war und ein Besteckset meiner Großeltern enthielt, einigen Porzellantassen und Untertassen von meiner Tante und meiner Mutter, die meisten von Limoges, einem antiken, diamantbesetzten Platinring, der leicht verbogen war, einer kaputten antiken Taschenuhr, einer kleinen ledernen Geldbörse mit etwa sieben Silberdollar-Münzen aus den neunziger Jahren des vorletzten Jahrhunderts, von denen ich immer eine bekommen hatte, wenn mein Vater pleite aus Las Vegas zurückgekommen war und mich mit zu seinem Vater geschleppt hatte, um ihn um Geld anzubetteln, dem Polaroidfoto, das David Seidner von mir im Laurel Canyon aufgenommen hatte, und einigen Super-8-Filmen, die ich gedreht hatte, bevor man mich aus der Filmschule warf.

Am Ende stellte ich die Sachen, die ich gerettet hatte, in die Badewanne des Mentors, die er zum »Reinigen« benutzte, und trennte mich von allem. Er sagte, wenn sie gereinigt seien, würden sie ins Unendliche verschwinden. Das hieß, sie würden nur dann verschwinden, wenn ich das Vergangene tatsächlich hinter mir gelassen hätte.

Später sah ich einige der Dinge wieder, allerdings neu zusammengestellt: die Tassen und Untertassen hatten sich in Fridas und Gwens Porzellansammlung eingefunden, der Besteckkasten tauchte zu fiestas und in numeritos auf, und der Ring, oder zumindest das goldene Platinband, war recycelt und zu einem beeindruckenden Ring für Claudine umgearbeitet worden. Aber die Bücher sah ich nie wieder. Sie standen auch nicht in Fridas und Gwens riesigem Bücherschrank.

Wenn Claudine ausgerechnet diese Bücher kaufte, mussten sie tatsächlich verschwunden sein, wie der Mentor es versprochen hatte. Vielleicht hatte Claudine vor, ihre Geschichte aufzuschreiben.

Nachdem sie bezahlt hatte, begleiteten wir sie über die Straße zu ihrem Bungalow.

Drinnen überkam mich ein ungewohntes Gefühl. Es war, als wäre ich nie zuvor hier gewesen. Ich kam mir vor wie in der Geisterstadt mit der verlassenen Goldmine in der Nähe des Joshua Tree Parks, die wir einmal zusammen besucht hatten. Ihre Wohnung war wie immer. Möbel und Kleidung waren nicht verschwunden, sie waren nicht einmal umgeräumt worden. Es lag an etwas Tieferem, etwas auf der Mikroebene, als wären die Atome, die ihre Welt zusammenhielten, woandershin verlagert worden. Ich fühlte mich fremd in ihrem Zimmer, als würde ich sie kaum kennen, als hätte ich sie nie wirklich kennengelernt. Es war, als wäre ein großer Teil von ihr schon nicht mehr da.

Wir setzten uns aufs Bett, das neben dem Fenster zum Garten stand. Auf dem Bett verstreut lagen große Buchstaben aus Gummi in den Grundfarben, ein Kinderalphabet. Wir spielten damit, versuchten aber nicht, irgendetwas auszubuchstabieren. Ich kann mich nicht erinnern, worüber wir redeten. Claudine saß zwischen ihren beiden Plüschtieren Pouncer und Henri, von denen jedes eines ihrer Schmuckstücke trug. Pouncer, der plumpe, sitzende Tiger mit großen Augen, hatte ein riesiges Medaillon mit einem echten Juwel um den Hals hängen, mit dem er aussah wie ein König. Henri, ein kleiner Bär, trug eine Fliege und einen Parisienne-Schmetterling aus Emaille aus den zwanziger Jahren. An seinem Revers war eine erlesene antike Nadel in Form einer Vase befestigt, in der eine frische Lavendelblüte im Wasser stand, wie sie Inspector Poirot in der Fernsehserie trug.

Nachdem wir eine Weile auf ihrem Bett gesessen und mit den Buchstaben gespielt hatten, aus denen keine Worte wurden, sagte Claudine, es wäre langsam Zeit zu gehen, und wiederholte beinahe wortwörtlich, was sie an jenem Spätnachmittag zu mir gesagt hatte.

»Ich muss jetzt schlafen. Ich werde zu ihm gehen, und dann werden wir einschlafen.«

Lola und ich standen auf. Ich starrte die Buchstaben auf dem Bett an in der Hoffnung, ein Wort oder eine versteckte Botschaft zu entziffern, etwas, das uns helfen würde, zu sagen, was gesagt werden musste, bevor wir sie an diesem Abend alleinließen.