Nach dem Essen waren Cavelli und Vera am Wasser entlang spaziert und hatten weiter überlegt, oder eigentlich mehr wild spekuliert, was auf der Malta-Synode , wie Vera es immer noch nannte, Geheimes vor sich ging. Keiner von ihnen hatte eine wirklich überzeugende Erklärung gefunden, aber dafür einige ziemlich abstruse, und sie hatten viel gelacht. Dann hatten sie ein Taxi genommen und sich in Rabat, das direkt an Mdina angrenzte, ein paar hundert Meter vor dem großen Tor absetzen lassen. Es war vielleicht besser, wenn man sie nicht im Taxi ankommen sah. Es dämmerte bereits, als sie die steinerne Brücke betraten, die zum Portal der Stillen Stadt führte. Cavelli hatte inzwischen im Internet ein bisschen über die Stadt nachgelesen. Ihre Ursprünge lagen in der Bronzezeit, in der sie als Wohnort diente. Von den Phöniziern wurde sie später wegen ihrer erhöhten Lage als Festung ausgebaut. Die Römer umgaben sie später mit einer starken und hohen Festungsmauer. Im Jahre 870 gaben ihr arabische Eroberer den Namen Mdina. Im dreizehnten Jahrhundert wurde die Stadtmauer von den Normannen weiter verstärkt und ausgebaut. 1530 machten die Johanniter sie für einige Jahrzehnte zu ihrer Residenz. Als später zunächst Birgu und dann Valletta zur Hauptstadt ernannt wurde, lebten in Mdina fast nur noch maltesische Adelige. Ihren Beinamen die Stille Stadt trug sie, weil es eine reine Wohnstadt mit nur ein paar Hundert Einwohnern war, die abends, wenn die Touristen sich verzogen hatten, beinahe menschenleer zurückblieb.
Kaum hatten sie das Tor passiert, konnte sich Cavelli der Faszination dieses Ortes nicht erwehren. In der winzigen Stadt (Cavelli hatte festgestellt, dass sie ziemlich genau doppelt so groß wie der Vatikan war) gab es nichts Modernes und doch war alles in einem nahezu perfekten Zustand. Sämtliche Gebäude – es gab neben den Häusern auch Paläste und Kirchen – waren in dem für Malta typischen sandfarbenen Kalkstein errichtet, viele schlicht, aber auch viele prächtig und reich verziert. Autos gab es hier nicht. Die meisten der oft gekrümmten Gassen (nach früherer Festungsbaustrategie durfte man immer nur so weit geradeaus sehen können, wie ein Pfeil fliegen konnte) wären ohnehin zu schmal dafür gewesen. Man fühlte sich sofort in frühere Jahrhunderte zurückversetzt. Es hatte etwas ganz und gar Unwirkliches an sich.
Langsam durchwanderten Vera und Cavelli die Gassen. Vera hatte recht gehabt. Abgesehen von den langsam spärlicher werdenden Touristenmengen liefen hier sehr viele Bischöfe herum. Einige schienen sich bereits gut hier auszukennen und strebten zielsicher auf den hinteren Teil der Stadt zu, andere wurde von jungen Männern in schwarzen T-Shirts in dieselbe Richtung geleitet. Weitere dieser T-Shirt-Männer blockierten verschiedene Straßeneingänge und ließen nur Männer mit einem speziellen Ausweis durch, während alle Touristen rigoros zurückgewiesen wurden. Cavelli fand, dass Vera auch in Bezug auf sie recht gehabt hatte. Diese Männer hatten durch die Bank etwas an sich, das er als auf unangenehme Weise seltsam empfand. Cavelli und Vera näherten sich entschlossenen Schrittes und ernsten Blickes einem dieser Männer. Cavelli hielt beiläufig seinen magischen Türöffner hoch, der sich in solchen und ähnlichen Situationen schon unzählige Male bewährt hatte, seinen grünen Vatikanischen Pass, so dass man das Wappen und die goldene Aufschrift Stato della Citta del Vaticano auf der Vorderseite gut sehen konnte, und lächelte dem Mann im Gehen knapp zu, Cavelli bemerkte fast im selben Moment, dass dies ein Fehler gewesen war. Er hätte nicht lächeln dürfen. Der Posten wirkte für eine Sekunde irritiert, dann vertrat er ihnen den Weg.
»Zutritt nur mit Ausweis!«, schnarrte er.
Cavelli nickte verständnisvoll und hielt ihm den Pass hin. Der Wachmann musterte Cavelli und Vera forschend und wirkte einen Moment unschlüssig. Ihm war klar, dass es sich nicht um Touristen handelte. Der Mann vor ihm kam vom Vatikan und hatte daher wahrscheinlich etwas mehr Respekt verdient. »Nicht diesen Ausweis, Signore«, sagte er geduldig. »Ich muss Ihren Sonderausweis für Zone 2 sehen.«
Cavelli regierte geistesgegenwärtig. »Selbstverständlich.« Er griff in die Innentasche seines Jacketts, dann in alle anderen. »Haben Sie meinen Ausweis eingesteckt?«, wandte er sich an Vera, die nun ihrerseits die Handtasche durchsuchte. »Leider nein«, verkündete sie.
»Dann tut es mir sehr leid«, stellte der Posten bedauernd fest.
»Können Sie nicht eine Ausnahme machen? Wir werden erwartet«, fragte Vera charmant lächelnd.
Dem Mann im schwarzen T-Shirt war die Sache sichtlich unangenehm. »Ich glaube Ihnen ja. Aber wir haben Direktive, dass wir absolut keine Ausnahme machen dürfen. Tut mir leid.«
»Wer ist Ihr Vorgesetzter?«, verlangte Cavelli in strengem Ton zu wissen. »Ich werde mich beschweren.«
Der Mann im schwarzen T-Shirt war darauf gedrillt, auf autoritäres Verhalten zu reagieren. »Das ist Signor Rezza, aber der ist nicht hier und zurzeit auch nicht erreichbar.«
Cavelli starrte ihn einige Momente an und tat so, als ob er sich langsam beruhigte. »Schon gut«, sagte er schließlich und klopfte ihm auf die Schulter. »Sie handeln völlig korrekt. Ich werde zurückfahren und meinen Ausweis holen.«
Dann entfernte er sich mit Vera. Nach etwa fünfzig Metern bogen sie um eine Ecke und der Posten war nicht mehr zu sehen.
»Den Vorgesetzten zu sprechen hab ich in solchen Situationen auch schon oft verlangt«, meinte Vera. »Das hat noch nie funktioniert.«
»Und ob es funktioniert hat, jetzt kennen wir nämlich dessen Namen: Signor Rezza. Also: zweiter Versuch!« Cavelli machte eine Kopfbewegung zu einem weiteren Posten, der etwa sechzig Meter entfernt stand und einen anderen Zugang zum inneren Gürtel der Stadt bewachte. »Was ist dein strengstes Gesicht?« Vera kniff die Lippen zusammen und runzelte die Stirn, so dass eine bedrohliche Zornesfalte über ihrer Nase erschien. Cavelli nickte zufrieden. »Perfekt.« Dann setzte er auch ein verärgertes Gesicht auf.
»Was hast du vor?«, fragte Vera mehr belustigt als beunruhigt.
»Mach einfach mit.« Mit entschlossenen Schritten näherten sie sich dem Posten, wobei ihn Cavelli dabei keinen Augenblick aus den Augen ließ. Der Mann hatte es inzwischen bemerkt, sein Gesichtsausdruck spannte sich an und er richtete sich noch etwas höher auf als ohnehin schon. Als sie noch etwa fünf Meter von ihm entfernt waren, begann Cavelli, ihn anzuschnauzen. »Was hat mir Signore Rezzo gerade gemeldet? Sie haben zwei Touristen durchgelassen?« Cavelli hielt erneut für einen kurzen Moment seinen Vatikanischen Pass hoch. Der Mann im schwarzen T-Shirt wirkte verunsichert. Mit offenem Mund blickte er erst zu Cavelli und dann zu Vera, die ihn mit einem geradezu vernichtend vorwurfsvollen Blick anstarrte. »Nein, habe ich nicht. Ganz bestimmt nicht«, stammelte er.
»Aber Signor Rezza denkt sich das doch nicht einfach so aus!«
Der Posten lief im Gesicht rot an. »Nein, das wollte ich nicht damit sagen, aber ich war’s wirklich nicht. Das muss an einem anderen Kontrollpunkt passiert sein.«
»An welchem?«
»Das weiß ich nicht, Cavaliere!« Offenbar hatte der Mann inzwischen so viel Angst, dass er Cavelli einen Titel zuerkannte, der ihm gar nicht zustand.
Cavelli durchbohrte ihn mit prüfenden Blicken. »Also gut«, sagte er schließlich widerstrebend. »Ich glaube Ihnen«, verkündete er im Ton eines Mannes, der gute Miene zum bösen Spiel machen muss, weil er seinen Verdacht leider nicht beweisen kann. »Ich verlass’ mich auf Sie. Keiner kommt hier ohne den Ausweis für Zone 2 durch. Niemand! Keine Ausnahmen, verstanden?«
»Jawohl!«
»In Ordnung.« Cavelli und Vera warfen ihm noch einen letzten bösen Blick zu, dann gingen sie an ihm vorbei. Sie waren drin.