LX

Beinahe zwei Stunden waren vergangen, seit der neugewählte Papst Leo XIV. den Saal durch die kleine Tür verlassen und sich in die Kammer der Tränen zurückgezogen hatte. Die anwesenden Bischöfe und etwa die Hälfte der Kardinäle waren noch nie bei einem Konklave anwesend gewesen und konnten daher nicht einschätzen, was eine übliche Zeitspanne war, bis der neue Papst sein Ornat angelegt haben und wieder herauskommen würde. Dennoch sah man inzwischen zunehmend besorgte Mienen. Warum dauerte es so lange? Was geschah hinter dieser Tür? Und warum war vor etwa einer Dreiviertelstunde Bischof Spinola totenbleich und mit versteinerter Miene herausgetreten, hatte sich zu Großmeister van Hoogstraaten begeben, sich zu ihm hinuntergebeugt und ihm einen kurzen Satz ins Ohr geflüstert, woraufhin dieser sich schwerfällig erhoben hatte und mit Spinola in der kleinen Kammer verschwunden war?

Plötzlich ging ein Raunen durch die Menge, die Tür zur Kammer der Tränen hatte sich erneut geöffnet und Leo XIV. war in den Saal getreten. Das weiße päpstliche Ornat schien ihm nicht richtig zu passen, es war eindeutig zu lang und zu eng, aber das war es nicht, was allen sofort auffiel. Seine Heiligkeit war aschfahl und schien in den letzten zwei Stunden um zehn Jahre gealtert zu sein. Mit unsicheren Schritten begab er sich zu dem Thron, der für ihn bereitstand und von dem aus er die Treueschwüre der anwesenden Kardinäle entgegennehmen sollte. Doch er setzte sich nicht. Stattdessen blieb er vor dem Thron stehen und sah in die Menge. Glitzerten da Tränen in seinen Augen? Stockend, geradezu unbeholfen begann er zu sprechen: »Verehrte Brüder in Christo, schweren Herzens trete ich vor euch ...«