KAPITEL 4

VERLORENES MÄDCHEN

Vignette

Chandra – vor 250 Jahren

Solaris war eine hässliche Stadt. Das war der Gedanke, der ihr bei ihrem ersten Besuch der Hauptstadt durch den Kopf geschossen war. Und auch nun, einige Jahre später, hatte sich an ihrer Meinung nichts geändert. Alles hier war prunkvoll, aber oberflächlich. Die Gebäude ebenso wie die Menschen. Chandra hasste einfach alles an dieser Stadt.

»Was schlagt ihr also vor, Mylady?«, war die Frage des Admirals, die Chandra aus ihren Gedanken riss.

Sie sah den älteren Mann an, der sie mit zusammengekniffenen Augen betrachtete. Er mochte sie nicht. Und sie mochte ihn nicht. Und ihre gegenseitige Abneigung war dem Umstand geschuldet, dass sie eine Frau war. Eine Frau, die laut dem Admiral nicht das Wort erheben durfte. Doch Chandra war nicht irgendeine eine Frau. Sie war eine Priesterin.

»Majestät«, wandte sie sich daher direkt an den König und spürte sofort den bösen Blick von Seiten des Admirals.

»Die Piraterie in den Gewässern zwischen Sohalia und Sirena betrifft uns alle. Wenn ich jedes Mal zuerst um die königliche Flotte und Eure Erlaubnis bitten muss, um eingreifen zu können, ist es immer zu spät.«

König Juri sah sie mit gerunzelter Stirn an. Chandra erfasste die Hoffnung, er würde über ihren Vorschlag nachdenken. Sie war keine große Strategin, hatte kaum Kenntnis über militärische Belange, aber sie kannte ihre Insel und das umliegende Gewässer. Es war ihre Heimat.

Doch zu ihrem Bedauern schüttelte der König den Kopf. »Ich nehme die Piraten, die ihr Unwesen auf dem Meer treiben, sehr ernst. Jedoch kann ich einer Priesterin nicht die Verantwortung über königliche Streitkräfte zusprechen.«

Chandra hatte es gewusst. Noch bevor sie einen Fuß in die Hauptstadt gesetzt hatte, war ihr klar gewesen, dass man sie nicht ernst nehmen würde. Warum gab sie sich überhaupt die Mühe?

»Denkt über meine Bitte nach, Majestät. Ich verlange nicht, die Flotte zu befehligen, das könnte ich gar nicht. Aber vielleicht erlaubt ihr Admiral Nero sich dieser Sache mit mehr Dringlichkeit anzunehmen.« Sie sagte das, ohne den Admiral auch nur eines Blickes zu würdigen. Ihr Augenmerk galt dem König, denn ihn würde sie eher erweichen können als den Admiral. Und er war schließlich auch der, der entscheiden würde.

Was der Oberbefehlshaber der königlichen Flotte im Herzen des Landes tat, war ihr ohnehin ein Rätsel. Ihrer Meinung nach war sein Platz an der Küste, um die Meere Sirions zu verteidigen. Sie selbst wäre beinahe einer Meute Piraten zum Opfer gefallen auf dem Weg hierher.

»Ich werde mich mit meinen Beratern über Euren Vorschlag austauschen, Priesterin. Morgen habt Ihr meine Antwort«, teilte Juri ihr mit. Doch der Blick, den er mit Admiral Nero tauschte, verriet ihr, dass sie diese Schlacht bereits verloren hatte. Sohalia war erneut auf sich allein gestellt. Ihre Brüder und Schwestern vom Festland würden ihnen nicht zu Hilfe kommen.

Missmutig verließ Chandra den königlichen Palast. Am liebsten wäre sie von Anfang an zu Hause geblieben. Hätte auf ihrer Insel den Möwen gelauscht und den Wellen dabei zugesehen, wie sie gegen die Klippen brachen. Aber ihre Ordensschwestern hatten sie gebeten, Rat beim König zu suchen. Und als Priesterin von Sohalia war der Schutz ihres Volkes ihr oberstes Gebot.

Chandra seufzte frustriert. Sie fuhr sich unwillkürlich mit der Hand über die Brust. Direkt unterhalb des Schlüsselbeins befand sich die geschwungene Triskele, das Zeichen der Götter. Jenes Mal, das sie zu einer Priesterin dieses Landes machte. Zu einem Amt berief, das sie nie hatte innehaben wollen.

Seit sie alt genug war, um die Tragweite dieses Mals zu verstehen, hatte sie Nachforschungen angestellt, warum die Mondgöttin Selinda ausgerechnet sie berufen hatte. Doch bis heute hatte sie keine Antwort auf diese Frage gefunden. Die Götter und ihre Entscheidungen blieben ihr ein Rätsel.

Mit der Kutsche fuhr sie zurück in die Stadt. Wenn sie schon einmal den Weg nach Solaris angetreten hatte, wollte sie auch die Götter ehren. Ihr Ziel war die große Septe von Isaahn. Das wohl schönste Gebäude der Stadt. Denn die Septe war aus weißem Marmor gefertigt, der nur in Samara und auf Sohalia abgebaut wurde. Alle Gebäude auf ihrer Insel waren aus besagtem edlem Gestein erbaut und erstrahlten so in einem herrlichen, beinahe blendenden Weiß.

Als Chandra bei der Septe ankam, fiel ihr Blick auf die fünf Statuen, die das Dach des Gebäudes trugen. Die fünf Götter von Sirion. Die Statue von Selinda war am linken Rand postiert. Ihre Göttin und Mutter. Das Gestein war makellos und Chandra war von Herzen froh, dass man die Abbilder der Götter nicht mit Gold verschandelt hatte.

Der oberste Septon von Solaris empfing sie mit ausgebreiteten Armen. »Es ist mir eine wahre Freude, die Tochter des Mondes hier begrüßen zu dürfen.« Er verbeugte sich demutsvoll vor ihr und Chandra neigte dankbar den Kopf. Dabei fielen einige ihrer dunklen Haarsträhnen über die Schulter nach vorn.

»Wie kann ich Euch dienen, Priesterin?«, wollte der Septon wissen. Die Ordensanhänger waren offenbar die einzigen Menschen des Landes, die ihr den Respekt erwiesen, den sie ihrem Amt nach verdiente. Sie musste allerdings zugeben: Auch in ihren eigenen Augen sah sie sich lediglich als eine ganz normale Frau an. Doch eine Frau hatte laut den Sitten Sirions zu dienen. Nicht zu herrschen. Ein Prinzip, das Chandra nicht verstand.

»Habt Dank, aber ich komme nur zum Gebet.«

Sie war noch nicht oft in der Hauptstadt gewesen und doch kannte sie sich in der Septe beinahe so gut aus wie in ihrem heimischen Tempel. Die Septe war der einzige Ort in Solaris, den sie mochte. Hier verbrachte sie während ihrer Aufenthalte die meiste Zeit.

Der Septon ließ sie allein, wofür Chandra dankbar war. Sie betrat den Flügel, der der Mondgöttin gewidmet war, und lief zielstrebig auf den Altar zu. An den Wänden waren silberne Kerzenhalter befestigt, deren Kerzen den Raum angenehm atmosphärisch erhellten, und sie waren mit Gravierungen der Mondphasen verziert. Vor dem Altar fiel die Priesterin auf die Knie. Sie hob den Blick zu der silbernen Mondsichel, die darauf stand.

»Manchmal frage ich mich, warum du ausgerechnet mich erwählt hast. Was unterscheidet mich von meinen Schwestern?«

Chandra wusste es nicht. Es wäre ihr lieber gewesen, man hätte nicht sie, sondern ein anderes Mädchen berufen. So läge nicht die Last auf ihren Schultern. Tief in sich glaubte sie, dass irgendwann der Tag kommen würde, an dem sie die Entscheidung der Götter verstehen würde. An dem alles einen Sinn ergab.

Doch bis dieser Tag kam, war das starke Gefühl, das sich in ihrem Inneren breitgemacht hatte, weder Stolz, dass sie die Tochter einer Göttin war, noch Demut, die man von Frauen ihren Alters erwartete. Chandra fühlte sich verloren. Egal, wohin sie kam, sie passte nicht dazu.

Zuhause war das Gefühl vom Verlorensein nicht so schlimm wie hier in der Hauptstadt. In Solaris sah man sie zwar als Priesterin an mit ihren aufwendigen Kleidern und hübsch gemachten Haaren, aber man wollte ihre Stimme nicht hören. Ihre Mentorin hatte früh versucht, ihr zu erklären, dass man eine Frau lieber ansah, als ihr zuzuhören. Nicht einmal einer Priesterin. Das Regieren und Herrschen sollte sie König Juri überlassen.

Chandra hatte versucht, sich an diesen Ratschlag zu halten. Doch mit jedem Jahr, mit dem sie älter wurde, missfiel ihr diese Lebensweise mehr und mehr. Sie war die Tochter des Mondes. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass die Göttin sie berufen hatte, um zu schweigen. Sie war der Mond. Herrscherin über die Gezeiten und Bezwingerin der Sonne.

»Priesterin?«, drang plötzlich die Stimme des hohen Septons an Chandras Ohr und riss sie aus ihren Gedanken. »Verzeiht, ich wollte Euch nicht beim Gebet stören. Aber ich habe Neuigkeiten, die Euch interessieren dürften.«

Erwartungsvoll hob Chandra eine Augenbraue. Hatte König Juri bereits über ihren Vorschlag nachgedacht und schickte den Admiral womöglich doch mit ihr zurück nach Sohalia?

»Es tut mir leid, dass Ihr die Feierlichkeiten zum Tag der Sonne nicht in Eurer Heimat verbringen konntet. Doch der neue Sohn der Sonne ist gestern berufen worden und wir haben Kunde, um welchen jungen Mann es sich handelt.«

Zögernd nickte Chandra. Die Stimme des Septons war von Mitgefühl geprägt, das die Priesterin nicht brauchte. Der Tag der Sonne war der Gedenktag des Sonnengottes Ilias. Es war nicht ihre Göttin, die gefeiert wurde. Und nur weil Ilias gestern einen neuen Sohn und damit den zukünftigen König berufen hatte, war der Tag für sie nicht anders als jeder andere Tag.

»Und wer ist der Auserwählte?«, fragte sie höflichkeitshalber nach, obwohl es sie kaum interessierte. Als würde sie etwas mit dem Namen anfangen können. In Sirion gab es tausende von jungen Männern, die infrage kämen. Und sie kannte vielleicht eine Handvoll von ihnen. Die Männer, mit denen sie üblicherweise zu tun hatte, waren alt und weise. Zumindest behaupteten sie Letzteres von sich.

»Ihr werdet bestimmt sehr stolz sein, denn der junge Mann stammt von Sohalia«, verkündete der Septon aufgeregt.

Chandras Augen wurden groß. Der neue Sohn der Sonne kam von der Mondsichelinsel? Das war zuletzt vor mehreren hundert Jahren geschehen. Die Priesterin hatte immer geglaubt, dass Ilias als Sonnengott die Kinder des Mondes nicht besonders mochte und sie darum nicht erwählte. Doch sie hatte sich offenbar geirrt.

»Wer ist es?« Ihre Stimme klang tonlos. Wenn der Mann von Sohalia stammte, war es sehr gut möglich, dass sie ihm schon einmal begegnet war. Auch wenn sie sich kaum für die jungen Männer auf ihrer Insel interessierte. Ihr Herz war bereits seit frühester Kindheit vergeben. Als kleines Mädchen hatte sie sich in ihren besten Freund verliebt. Und auch mit zunehmendem Alter hatte sich nichts an ihren Gefühlen für ihn geändert. Nur dass er nichts davon wusste. Sie waren einfach Freunde, außerdem machte ihm beinahe jedes Mädchen von Sohalia schöne Augen, weil er sie mit seinem Charme und seinem guten Aussehen verzauberte. Und als Priesterin hatte Chandra ohnehin keine Chance, mit ihm glücklich zu werden. Nicht zumindest, solange sie eine mögliche Braut des Königs war.

»Er trägt wohl den Beinamen ›Sternenkind‹, mehr weiß ich leider nicht. Sagt Euch das etwas?« Der Septon sah sie neugierig an.

Chandras Herzschlag setzte einen Augenblick lang aus. Das konnte nicht wahr sein. Ihr Blick fiel wieder zu der Mondsichel auf dem Altar und ihre Gedanken gingen auf Wanderschaft.

»Du lächelst schon wieder«, stellte sie skeptisch fest.

Sein Lachen drang zu ihr herüber.

»Ist Lächeln denn ein Verbrechen?«

Sie saßen auf der Wiese vor dem Tempel der Mondgöttin.

Chandra schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich verstehe oft den Grund dafür nicht.« Immer wenn sie ihn sah, lächelte er. Immer. Chandra verstand es nicht. Ihr war so häufig zum Weinen zumute, dass ihr einfach unverständlich war, wie jemand immer glücklich und zufrieden sein konnte.

»Ich brauche keinen. Oder nimm diesen: Deine Gegenwart reicht aus.« Er zwinkerte ihr zu und jetzt schlich sich auch ein Lächeln auf ihr Gesicht. Sie schüttelte dabei den Kopf.

»Spar dir deinen Charme für jemand anderen.« An sie war er verschwendet. Sie würde niemals mehr für ihn sein als seine beste Freundin. Die Götter hatten andere Pläne für sie.

»Aber er ist das Einzige, was ich meiner Priesterin schenken kann.« Chandras Herz schlug im doppelten Takt weiter. Wenn er lächelte, zog sich ihre Brust zusammen, Schmetterlinge tanzten in ihrem Bauch und ihre Wangen wurden heiß.

»Warum schaust du mich so an?«

Ertappt bei dieser Frage schüttelte Chandra nur wieder den Kopf. »Dein Lächeln. Es erstrahlt so hell wie die Sterne in der tiefsten Nacht.«

»Nichts leuchtet heller als die Sonne«, hielt er dagegen. Doch Chandra teilte seine Meinung nicht. »Die Sonne blendet. Sie ist zu grell, um sie anzusehen, und sie duldet niemanden neben sich. Die Sterne sind anders. Sie entfachen ihre Kraft erst gemeinsam. Du strahlst wie die Sterne«, wiederholte sie überzeugt.

Mit großen Augen sah er sie an. Staunen lag darin. Seine dunkelblauen Augen waren wie der Himmel. Chandra lächelte ihn an. »Sternenkind«, sagte sie dann leise.

»Was?«, fragte er verwirrt und strich sich eine der dunklen Strähnen aus dem Gesicht.

»Sternenkind. Das wird ab heute dein Beiname sein«, verkündete sie nun lauter. Es passte zu ihm. Niemand war freundlicher und mitfühlender als er. Keiner leuchtete heller von innen heraus. Nicht einmal sie. Chandra mochte die Tochter des Mondes sein. Aber sie wusste, dass der Mond nicht von sich aus schien. Er wurde von der Sonne angestrahlt. Doch ihr Gegenüber brauchte niemanden, um zu strahlen. Er tat es einfach.

»Priesterin? Kennt ihr diesen Mann?«, holte die Stimme des Septons sie aus ihren Erinnerungen zurück.

Chandra nickte stockend. »Ja«, hauchte sie. Doch glauben konnte sie es noch nicht. Wie konnte ihr Sternenkind der Sohn der Sonne werden? Dieses reine Wesen sollte zu einem Geschöpf von Arroganz und Eitelkeit werden? Niemals.

»Das ist ja wunderbar«, sagte der Septon freudig. »Wie ist sein Name?«

In ihrem Kopf drehte sich alles. Er würde hierherkommen. Nach Solaris. Er würde nicht mehr ihr bester Freund sein, nicht mehr ihr Sternenkind. Er würde der Prinz von Sirion sein. Der nächste König und der Sohn der Sonne.

Ihre Stimme klang kehlig, als sie dem Septon antwortete. »Sein Name ist Lucian. Lucian Sternenkind.«

***

So schnell ihre Beine sie trugen, rannte Chandra hinunter in die Eingangshalle. Eine Woche war vergangen und sie hatte sehnsüchtig auf die Ankunft ihres besten Freundes gewartet. Endlich hatte das Warten ein Ende. Die Reise von Sohalia in die Hauptstadt war weit, das wusste sie nur zu gut. Doch das hinderte Chandra nicht daran, täglich ihre Zeit damit zu verbringen, aus dem Fenster zu starren und zu warten.

Lucian würde auch von einigen Ordensschwestern von Sohalia begleiten werden, darunter Chandras Mentorin Stella. Doch ihre Ordensschwestern interessierten sie nicht. Chandra war eine Einzelgängerin. Die einzige Person, die sie jemals an sich herangelassen hatte, war Lucian.

Vor einigen Tagen waren auch die drei anderen Priesterinnen in Solaris angekommen. Die Tochter des Waldes hatte gleich versucht, auf sie zuzugehen, doch Chandra hatte sich dagegen verwehrt. Sie hatte einen Freund und brauchte keine weiteren.

Zuletzt hatte sie Lucian in der Nacht vor ihrer Abreise gesehen. Sie hatten auf den Wiesen vor dem Tempel gesessen und gemeinsam die Sterne betrachtet. Jedes einzelne Sternbild hatten sie aufgesagt und sich Geschichten dazu ausgedacht. Es kam Chandra so vor, als wäre es eine halbe Ewigkeit her, dabei waren es gerade einmal drei Wochen. Vor drei Wochen hatte sie sich auf ihrer Überfahrt hierher gegen Piraten behaupten müssen, nur, um dann an König Juri zu scheitern. Er hatte letztendlich ihre Bitte, die Flotte unter dem Kommando des Admirals nach Sohalia zu schicken, abgelehnt.

Vertraute Stimmen drangen an Chandras Ohr. Es waren die Stimmen ihrer Ordensschwestern, die vermutlich gerade ihr Quartier bezogen. Als sie gerade eine weitere Treppe nahm, erblickte sie Lucian an ihrem Fuße. Ihr Herz schlug bei seinem Anblick schneller und sie wollte bereits auf ihn zueilen, da erkannte sie, dass er in ein Gespräch vertieft war. In seidene Gewänder gehüllt stand die Tochter des Waldes vor ihm. Rasch zog sie sich ein Stück hinter den Pfeiler der Treppe zurück.

Lucian hatte sein für ihn typisches Lächeln auf den Lippen und küsste gerade den Handrücken der Priesterin. Bei dieser Geste zog sich Chandras Brust zusammen. Ihr gefiel es nicht, dass er anderen Frauen Aufmerksamkeit schenkte. Auf Sohalia hatte er keinem der Mädchen, die ihm scharenweise hinterhergelaufen waren, eine Chance gegeben.

»Ihr seid also der Sohn der Sonne«, hörte Chandra die sanfte Stimme der anderen Priesterin. Missmutig stellte die Tochter des Mondes fest, dass sie von ihrer Position am Rande der Treppe aus jedes Wort hören konnte. Und dieses Gespräch gefiel ihr ganz und gar nicht. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass die Waldtochter wunderschön war. Ihr langes, hellblondes Haar war zum Teil geflochten und um ihren Kopf drapiert.

Lucians Lachen drang zu Chandra empor. »Scheint so. Und Ihr müsst die Tochter des Waldes sein, habe ich recht?« Chandra betrachtete ihn mit Adleraugen. Er hatte sich in den vergangenen Wochen nicht verändert. Sein dunkles Haar fiel ihm lose in die Stirn, die blauen Augen strahlten wie der Himmel, kurz bevor sich die Nacht senkte. Er sah fantastisch aus.

»Alissa, Majestät. Hoch erfreut. Ich bin die Priesterin von Silvina.« Sie lächelte Lucian an und Chandra biss die Zähne zusammen. Kurz überlegte sie, ob sie einfach die Treppe hinuntergehen und Lucian um den Hals fallen sollte. Doch sie verwarf den Gedanken wieder, als sie das Strahlen in den Augen ihres besten Freundes sah. Mitten in der Bewegung hielt sie inne.

»Das ist ein schöner Name«, sagte Lucian. »Auf den Klippen rund um Sohalia blühen viele Steinkräuter.« Bei seinen Worten breitete sich ein beklemmendes Gefühl in Chandras Brust aus. Sie musste an ihre Heimat denken, an die Steinkräuter, denen Alissa ihren Namen verdankte. Die trugen auf Sohalia weiße bis hellblaue Blüten und bedeckten fast die gesamten Klippen.

»Wirklich?«, wollte Alissa wissen, sie klang erfreut. »In Silvina gehen sie leider neben Rosen, Lilien oder Orchideen gänzlich unter.«

Chandra hob eine Augenbraue. Was hatte die Priesterin vor? Gerade schob sie sich eine der blonden Haarsträhnen hinters Ohr, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatte. Aus gesenkten Lidern sah Alissa zu Lucian auf.

Dieser schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich kann Euch versichern, dass Ihr nirgendwo untergeht. Nicht mit diesem Lächeln.« Die Art, wie er das sagte, ließ Chandra den Atem anhalten. Ihr missfiel dieses Gespräch über alle Maßen. Was war los mit Lucian? Wieso stand er hier herum und machte dieser Priesterin schöne Augen? Wollte er sie gar nicht suchen kommen?

Alissas glockengelles Lachen hallte im Treppenhaus wider. »Ihr seid ein Charmeur«, stellte die Priesterin fest und Chandra ballte die Hände zu Fäusten.

»Das sagt auch Chandra immer über mich. Dabei bin ich nur ehrlich.« Chandra hielt inne. Sie nannte ihn in der Tat einen Charmeur, aber auch nur, weil er zu ihr charmant war. Er war freundlich, liebevoll und, ja, dabei immer ehrlich. Sie kannte ihn nicht anders.

Chandra betrachtete das Paar, das auf der Treppe stand. Alissa biss sich gerade auf die Unterlippe. »Ihr beide kennt euch bereits?«, fragte sie zaghaft.

Chandra trat von einem Fuß auf den anderen und wartete gespannt auf Lucians Antwort.

»Ja, wir sind Freunde, wieso fragt Ihr?« In der Tat, die Antwort auf diese Frage interessierte Chandra ebenfalls.

Die Priesterin von Silvina hob abwehrend die Hände. »Ich bin ihr noch nicht oft begegnet, aber sie hat hier am Hofe einen etwas fragwürdigen Ruf«, sagte sie leise.

Chandra zuckte bei diesen Worten zusammen.

»Was, wieso?« Lucian klang aufgebracht, was Chandra erleichterte. Als würde er sie gegen jeden, der etwas gegen sie zu sagen hatte, verteidigen wollen. Für gewöhnlich brauchte Chandra keinen Schutz. In ihrer Heimat musste sie sich niemandem gegenüber beweisen oder behaupten.

»Sie hinterfragt die Entscheidungen des Königs, stellt ungewöhnliche Bitten. Sie scheint nie mit dem zufrieden zu sein, was sie hat«, sprach Alissa weiter. Chandra presste ihre Lippen fest aufeinander, damit ihr kein Ton daraus entfleuchte. Wie konnte eine Frau, die sie gar nicht kannte, so etwas über sie sagen?

»Das klingt so gar nicht nach Chandra«, stellte Lucian nachdenklich fest. »Sie ist freundlich, wissbegierig und meistens in ihre eigene Welt versunken.«

Bei Lucians Beschreibung musste Chandra lächeln. Er beschrieb sie gut. Ihre eigene Welt war bei Weitem besser als diese hier. Dort gab es keine Priesterinnen oder Könige. Sie musste niemandem gerecht werden außer sich selbst.

»Ja, sie lebt fern jeder Realität«, erwiderte Alissa. Doch bei ihr klang es alles andere als nach einer guten Eigenschaft. Beinahe wäre Chandra ein Schnauben entfahren. Doch sie hielt sich gerade noch zurück. Wie sie es verabscheute, wenn jemand über sie urteilte.

»Was meint Ihr damit?«, wollte ihr bester Freund wissen.

Chandra sah Alissa dabei zu, wie sie mit den Schultern zuckte.

»Sie ist eine Priesterin. Ihr steht es schlicht nicht zu, die Anordnungen des Königs infrage zu stellen.« Alissa war eine Priesterin wie sie und bekleidete somit dasselbe Amt, nur für eine andere Provinz des Landes. Doch Chandra war bewusst, dass sie sich anders verhielt als alle Gotteskinder neben und auch vor ihr. Sie hatte nie verstanden, warum sie als Priesterin unter dem König stehen sollte. Er war von einem Gott berufen worden, gut. Aber war sie das nicht auch? Warum also sollte er mehr wert sein als sie?

»Wer sagt das?«, fragte Lucian nun lachend.

Chandra hob irritiert den Kopf.

Alissa legte verständnislos den Kopf schräg. »Was meint Ihr?«

Lucian atmete tief durch und strich sich dann mit beiden Händen durch die dunklen Haare. »Wer hat gesagt, dass sie den König nicht anzweifeln darf? Auch er ist nur ein Mensch. Wenn ihr Priesterinnen ihn nicht infrage stellen dürft, wer dann? Ihr könnt Einfluss auf ihn nehmen, auch zu seinem eigenen Schutz.«

Chandras Herz wurde weich. Das trübe Gefühl, das zuvor von ihr Besitz ergriffen hatte, verschwand. Lucian war ihr Sternenkind. Das Licht in ihrer Dunkelheit. Nur er schaffte es, sie zum Lächeln zu bringen, wenn sie lieber weinen wollte.

»Darüber habe ich noch nie nachgedacht«, gestand Alissa zögerlich. Chandra hatte den Eindruck, dass sie von Lucians Worten berührt war.

Lucian grinste über beide Ohren. »Chandra mag fern von Eurer Realität leben. Doch das bedeutet nicht, dass diese Welt besser ist als die ihre. Mir scheint sogar, dass das Gegenteil der Fall ist.« Aber er sagte das mit viel Freundlichkeit in der Stimme.

Er zwinkerte Alissa zu, was Chandra mit zusammengekniffenen Augen quittierte.

Der neue Sohn der Sonne verabschiedete sich von der Tochter des Waldes und machte Anstalten, die Treppe hinaufzugehen. Chandra eilte zurück auf ihr Zimmer, ohne dass er sie bemerkte.

Als sie hinter sich leise die Tür ins Schloss zog, lächelte sie. Jetzt, wo Lucian hier war, hatte sie einen Verbündeten an ihrer Seite. Endlich fühlte sie sich weniger verloren.