Celeste
Auch drei Tage später dachte Celeste noch über Zahiras Worte nach. Sie hatte Selena in den vergangenen Tagen kaum aus den Augen gelassen und jedes Wort von ihr auf die Goldwaage gelegt. Inzwischen hatte Celeste den Eindruck, dass sie paranoid wurde. Zugegeben: Vertraut hatte sie der Tochter des Mondes noch nie, dafür hatten Selenas Gefühle für Nate ihr zu sehr missfallen. Doch Zahiras Anspielung hatte ihr Misstrauen ins Unermessliche gesteigert.
Celeste hütete sich aber davor, der Septa zu viel Vertrauen zu schenken oder sie gar einzuweihen in ihre schlechte Ahnung. Zahira kannte sie kaum und hätte ebenso wenig einen Grund gehabt, ihren Worten zu vertrauen. Celeste hatte darum auch sie ein wenig beobachtet. Doch bisher hatte sich keine der beiden Frauen verdächtig verhalten.
In diesem Moment beäugte Celeste die Tochter des Mondes missmutig, die lachend mit einigen Ordensanhängern in ihrem Alter zusammensaß. Obwohl noch recht kühle Temperaturen herrschten, hatten sie sich alle an den Kiesstrand der Insel verzogen, wo das Wasser seicht ans Ufer spülte. Nur ein wenig von ihr entfernt stand Malia trotz der Kälte knöcheltief im Wasser, ebenso Elio und Noah, die sich nicht die Blöße geben wollten, am Ufer zurückzubleiben, während eine Frau mutig ins kalte Nass voranschritt.
Celeste selbst saß neben Linnéa auf einer Decke, beide hielten eine Tasse Tee in den Händen, auch wenn die Himmelstocher diese Temperaturen nicht annähernd als kalt bezeichnen würde. Dennoch hatten sie zur Sicherheit ein paar Decken dabei. Aber Celeste hatte selbst den warmen Mantel von ihren Schultern geschoben.
Obwohl Celeste nicht die beste Laune hatte, genoss sie die Zeit, die sie mit ihren Freunden verbringen konnte. Sie alle hatten viel durchgestanden in letzter Zeit und ein bisschen Ruhe und Frieden taten ihnen gut.
Auf der Decke neben ihnen wurde laut geflucht. Celeste hob den Kopf und sah Nate, der wütend das Schachbrett, das vor ihm auf dem Boden lag, wegstieß. Ayla, die ihm gegenübersaß, lachte leise.
»Du bist ein schlechter Verlierer, Nate«, bemerkte sie schmunzelnd und taxierte den König, der sich wütend durch die Haare fuhr.
»Ich verlange eine Revanche«, verkündete Nate und sah die Zofe böse an. »Und dieses Mal spiele ich Schwarz.«
Ayla hob eine Augenbraue. »Glaubst du etwa, dass es an der Farbe lag? Vielleicht bist du auch einfach nicht mehr so gut in dem Spiel, wie du glaubst.«
Celestes Mundwinkel hoben sich bei dieser Aussage und sie biss sich auf die Unterlippe, um nicht zu lachen. Nate hatte zu Beginn groß verkündet, dass er Ayla schlagen würde. Daher hatte er diese Niederlage mehr als verdient. Und es war nicht seine erste. Wie lange die beiden schon dort saßen und Schach spielten, wusste sie nicht. Sie hatte aufgehört mitzuzählen. Doch es hatte bisher jedes Mal auf dieselbe Art und Weise geendet: mit einer belustigten Ayla und einem brummenden Nate.
»Na, Sonnenschein? Willst du dich auch mal an einer Partie versuchen?« Kiah setzte sich auf Celestes andere Seite und grinste sie an.
Die Priesterin schüttelte den Kopf.
»Adrian hat mir das Spiel als Kind zwar beigebracht, aber ich habe mir immer lieber Gedanken über echte Kriegsstrategien gemacht, als bloß auf einem Brett mit Spielfiguren zu planen.«
Kiah lachte leise. »Wieso wundert mich das nicht?«
Als Antwort zuckte Celeste nur mit den Schultern. Sie besaß kein musisches oder künstlerisches Talent wie Malia und Linnéa. Auch das Interesse am Nähen oder Sticken, wie es offenbar Selena hatte, fehlte Celeste. Sie liebte Bücher. Und wenn sie zu Hause nicht ihren Pflichten als Priesterin nachkommen musste oder die Nase in ein Buch steckte, verbrachte sie ihre Zeit mit Makena und Laila.
»Du hast einen Schatten«, wisperte Kiah plötzlich. Celeste sah auf und folgte seinem Blick. Espen stand neben Nike etwas abseits vom Geschehen und beobachtete sie. Die Priesterin verzog das Gesicht und nickte. Auch wenn sie Espen mochte – falls man das überhaupt sagen konnte, immerhin kannte sie den Leibwächter kaum, gefiel es ihr noch immer nicht, dass er ihr auf Schritt und Tritt folgte. Er sprach sie nie an und hielt sich dezent im Hintergrund, aber Celeste war das schon zu viel. Sie wusste, dass er immer da war.
»Habt ihr euch schon angefreundet?« Kiah schien ihren Gesichtsausdruck richtig gedeutet zu haben, denn er versuchte sie aufzuziehen.
Celeste rümpfte die Nase. »Natürlich, wir tauschen uns regelmäßig über den neuesten Klatsch und Trasch bei Hofe aus.«
Ein Lachen war die Antwort. »Vermutlich zieht ihr eher über Nate her, immerhin ist er für diese Misere verantwortlich.« Kiah blickte zwischen Espen und Celeste hin und her. »Ich würde mich nie trauen, ihm das ins Gesicht zu sagen. Irgendwie finde ich ihn unheimlich. Er sagt nie etwas.«
Es stimmte, man sah Espen nie lächeln. Auf andere mochte das unnahbar und kalt wirken, aber Celeste wusste es besser. Espen hatte sich ihr anvertraut. Er hatte mit ihr über Estelle gesprochen und Celeste eine andere Seite ihrer Mutter gezeigt. Eine Seite, die weit entfernt lag von der, die sie als Kriegerin der Atheos an den Tag gelegt hatte – kalt und unbarmherzig – und die Celeste kennenlernen musste. Und dafür war sie ihm von Herzen dankbar.
Doch das änderte nichts an der Tatsache, dass sie keinen Beschützer wollte.
»Was tust du?«, fragte Kiah, als Celeste sich mit einem Mal erhob. Sie verzog das Gesicht.
»Mein Fuß ist eingeschlafen und er kribbelt unangenehm. Ich gehe mir etwas die Beine vertreten.«
Celeste ließ das Deckenlager hinter sich, die Schachpartie, die noch immer im Gange war, und lief gemächlich am Strand entlang. Der Kies knirschte unter ihren Stiefeln. Celeste blickte aufs Meer hinaus. Das Festland war mit dem bloßen Auge nicht mehr zu erkennen und die Priesterin stellte sich ein ums andere Mal die Frage, was dort gerade vor sich ging. Sie waren dem Krieg mit den Atheos entflohen, hatten ihren Alltag wieder aufgenommen. Doch für wie lange?
Das helle Lachen von Selena weckte Celestes Aufmerksamkeit. Sie schaute zur Mondtochter zurück, die mit den anderen Mädchen des Ordens spielte. Celeste wunderte es nicht, dass weder eine der anderen Priesterinnen noch Nates Höflinge sich an dem Spiel beteiligten. Selena hatte den Anschluss zu ihnen nie gesucht. Für sie hatte von Anfang an einzig und allein Nathaniel gezählt.
»Ihr seht aus, als würdet Ihr sie in diesem Moment gedanklich töten«, ertönte eine tiefe Stimme hinter ihr. Celeste entfuhr ein Keuchen. Erschrocken drehte sie sich um und blickte in die grauen Augen von Espen. Ihr Herz raste und sie sah ihn mit großen Augen an.
»Verzeiht, ich wollte Euch nicht erschrecken.«
Celeste legte die Hand auf ihre Brust und versuchte so, ihr viel zu schnell schlagendes Herz zu beruhigen. Dann zwang sie sich zu einem Lächeln.
»Schon in Ordnung, ich habe Euch nicht gehört.«
Espens Augen funkelten. »Das ist der Sinn hinter einer Leibwache: Man hört uns nicht kommen – bis es zu spät ist.«
Die Priesterin nickte. Auch wenn sie Espens Aussage keinesfalls beruhigte. Vielmehr fühlte sie sich nun erst recht beobachtet.
»Ihr habt Euch an meine Anwesenheit noch nicht gewöhnt, habe ich recht?« Er hatte den Kopf schräg gelegt und sah sie abwartend an. Celeste nickte ehrlicherweise.
»Und das werde ich vermutlich auch nie.« Sie biss sich auf die Unterlippe und sah entschuldigend zu ihm auf. Er erfüllte nur die Aufgabe, die Nate ihm zugeteilt hatte. Dass es ohne Celestes Zustimmung passiert war, dafür konnte er nichts.
»Er will Euch nur beschützen«, stimmte Espen einen versöhnlichen Ton an und sah kurz zu Nate, der in das Schachspiel mit Ayla versunken war. Celeste folgte seinem Blick.
»Ich weiß«, gestand sie leise. Sie erinnerte sich noch genau, wie schlecht es Nathaniel ergangen war, als man versucht hatte, sie zu töten. Als man ihr Badewasser vergiftet hatte und Celeste bewusstlos beinahe ertrunken wäre. Noch nie hatte sie Nate so erlebt. Er war abwesend, reizbar und paranoid gewesen. So wollte sie ihn niemals wieder erleben.
»Warum habt Ihr die Mondpriesterin so misstrauisch angesehen, wenn ich fragen darf?«, erkundigte sich Espen und Celeste bemerkte, dass er Selena mit zusammengekniffenen Augen beobachtete. Als würde er sich bereit machen, gegen sie vorzugehen.
Celeste biss sich auf die Innenseite ihrer Wange. Sie hatte bisher mit niemandem über Zahiras Worte gesprochen. War Selena wirklich von Dunkelheit erfüllt? Celeste wusste es nicht.
»Ihr misstraut ihr. Warum?« Espen war nun ihr Leibwächter und Celeste überlegte, ob sie ihn ins Vertrauen ziehen sollte. Wenn sie begründete Argumente gegen Selena hatte, würde Espen dem vielleicht nachgehen. Aber genau da lag das Problem. Sie hatte keinerlei Beweise dafür, dass Selena nicht auf ihrer Seite stand oder gar einen Schlag gegen sie plante.
»Sie ist der Meinung, ich würde Nathaniel verraten. Ihre Gabe hat es ihr verraten«, antwortete Celeste daher ausweichend. Selena hatte von den Göttern die Fähigkeit erhalten, von der Zukunft zu träumen. Es war eine mächtige Gabe. Doch ebenso wie Celeste hatte sie keine Kontrolle darüber, was sie sah.
»Sie irrt sich. Ihr steht treu zu unserem König, das kann jeder sehen.«
Celeste nickte langsam. Sie hatte sich gefragt, ob die Befreiung von Marco bereits der Verrat gewesen war, von dem Selena geträumt hatte. In ihren eigenen Augen hatte sie Nathaniel damit einen Gefallen getan. Hatte ihn vor seinen eigenen Dämonen beschützt. Doch Nate hatte es natürlich nicht so gesehen.
»Auch Ihr besitzt eine sehr mächtige Gabe, die Euch in Zukunft noch hilfreich sein wird.« Ein beinahe freundliches Lächeln umspielte die schmalen Lippen des Leibwächters. Ein so seltener Anblick, den Celeste zu schätzen wusste.
Celeste wich seinem Blick aus. »Ich benutze sie nur sehr ungern. Menschen fühlen sich in meiner Gegenwart nicht wohl, wenn sie wissen, dass ich jederzeit ihre wahre Natur sehen kann.« In ihrer Kindheit hatte Celeste die Erfahrung gemacht, dass Menschen sie mieden. Niemand mochte es, wenn man in seine Privatsphäre eindrang.
Espen sah sie eindringlich an. »Ihr besitzt von allen Gotteskindern wohl die mächtigste Gabe, Celeste. Ihr solltet anfangen, sie mit Stolz und Bestimmtheit zu benutzen.« Sein Blick wanderte zu Selena und Celeste wusste, was er ihr damit sagen wollte.
Erst ein einziges Mal war es ihr gelungen, die Aura eines anderen Gotteskindes zu lesen. Damals bei Linnéa, die niedergeschlagen im Damensalon des samarischen Palastes gesessen hatte. Es war nur für einen Wimpernschlag gewesen, doch Celeste hatte deutlich die Aura der Waldtochter sehen können. Noch nie zuvor war ihr das gelungen und Celeste hatte die Vermutung, dass es daran lag, dass ihr die Anwendung ihrer eigene Gabe bis jetzt unangenehm gewesen war. Ihre Kindheit über hatte sie sie regelrecht gehasst, weil ihre Fähigkeit, andere Menschen zu lesen, sie zu einer Außenseiterin gemacht hatte. Doch allmählich lernte sie, ihre göttlichen Fähigkeiten zu akzeptieren und zu schätzen und sie selbstbewusst und klug einzusetzen.
Sie schluckte schwer und fuhr sich mit der Hand über den Nacken. Über die Triskele, die dort ihre Haut zierte.
»Ich kann meine Gabe nicht kontrollieren«, gestand sie leise. Manchmal gelang es ihr, doch das war selten der Fall. Woran das lag, konnte Celeste nicht sagen. Vielleicht sträubte sie sich zu sehr gegen ihre Fähigkeit, vielleicht war sie aber auch einfach nicht stark genug, um sich dieser mächtigen Gabe richtig zu bedienen.
»Dann solltet Ihr es schleunigst lernen.« Espens Stimme war leise, doch seine Worte wirkten beinahe bedrohlich. Ebenso wie der Blick aus seinen Augen, der voller Misstrauen auf Selena lag. Ob er die Priesterin nur so ansah, weil Celeste ihr kein Vertrauen schenkte?
Celeste kniff die Augen zusammen. Es stimmte: Sie vertraute Selena nicht. Das hatte sie von Anfang an nicht getan. Und ihr wachsendes Misstrauen war nun der Grund, weshalb Celeste das wahre Wesen der Mondtochter sehen wollte. Doch Selenas Aura blieb ihr verborgen. Und Celeste hatte keine Ahnung, wie sie daran etwas ändern sollte.
***
Nathaniel
»Was genau machen wir im Wald?«, kam es brummend von Nike, die sich skeptisch umsah. Doch Nate antwortete nicht. Er brauchte die Abgeschiedenheit, um nachzudenken.
Er hatte sich noch nicht daran gewöhnt, dass er nun König war. Geschweige denn, dass er die Regierung während seiner Reise nach Sohalia in den Händen der Minister hatte lassen müssen. Lady Marin, die für die sozialen Angelegenheiten in Sirion verantwortlich war, mochte ihn nicht und bei Nate verhielt es sich andersrum ähnlich. Der Wirtschaftsminister war ein sehr eigensinniger Mensch, mit dem Nate wohl niemals auf einen grünen Zweig kommen würde. Pim und Venn, die Minister für Justiz und Verteidigung, hatten derzeit alle Hände voll zu tun, doch Nate vertraute ihnen. Und dann war da noch Lord Edwin, Miros ältester Freund, der seit dem Tod des Königs nur noch ein Schatten seiner selbst war. Nate tat der alte Mann leid, der sich von seinem Freund nicht einmal hatte verabschieden können.
Er musste sich immer wieder ins Bewusstsein rufen, dass er nicht der Einzige war, der unter Miros Tod litt. Der ehemalige König war für ihn ein Mentor gewesen, für andere ein Freund, für wieder andere ein Vorbild. Nike hatte ihm einst erzählt, dass Miro ein Vaterersatz für sie sei, da Lord Lamont diese Rolle nicht ausfüllen könne.
»Auch wenn du jetzt König bist, erwarte ich dennoch eine Antwort, Freundchen.«
Mit hochgezogener Augenbraue drehte sich Nate zu Nike herum. Seine Leibwächterin hatte die Hände in die Hüften gestemmt und sah ihn entnervt an.
»Ich habe das Gefühl, etwas zu übersehen«, gestand er. Und Nate hasste dieses Gefühl. Er konnte es sich selbst nicht erklären. Aber seit er einen Fuß auf diese Insel gesetzt hatte, fühlte es sich so an, als würde sein Verstand nicht mehr richtig arbeiten. Wichtige Details schienen wie im Nebel zu verschwinden.
»In Bezug worauf? Die Atheos?«, fragte Nike misstrauisch und sofort huschte ihr Blick zu den Bäumen, als würde sie ihre Feinde hinter jedem Stamm vermuten.
Langsam schüttelte Nate den Kopf. »Das weiß ich noch nicht genau. Vielmehr in Bezug auf die Götter, besonders Selinda. Wir wollen herausfinden, ob es einen Zusammenhang zwischen der Mondgöttin und den Atheos gibt.« Die Mondgöttin war ihm suspekt. Allein, dass sie Selena als ihre Tochter berufen hatte. Er konnte das nicht verstehen. Aber wenn Nate ehrlich war, hatte er seine eigene Berufung schon nicht verstanden.
»Du meinst, wegen des höchst ungewöhnlichen Zufalls? Es ist schon seltsam, dass sowohl die Atheos als auch die Göttin durch ihre erwählte Mondtochter fast zur selben Zeit wiederauftauchen«, bemerkte Nike trocken und Nate nickte als Antwort.
Er lief weiter in den Wald hinein, folgte dem schmalen Trampelpfad, der sie auf die Ostseite der Insel bringen würde. Zurück zu der Gruft, die Selena ihm gezeigt hatte. Nachdem er von Noah und Linnéa die Geschichte über die letzte Mondtochter erfahren hatte, die so widersprüchlich erzählt wurde, wollte er ihr auf den Grund gehen.
Als die Gruft aus weißem Marmor in Sicht kam, rümpfte Nike die Nase. »Und dazu müssen wir alte Gräber aufsuchen?«
»Hast du etwa Angst, dass uns die Geister der Verstorbenen begegnen?«, zog Nate sie auf. Doch Nike schien seinen Scherz nicht halb so lustig zu finden wie er selbst.
»Die Menschen auf dieser Insel haben seltsame Traditionen. Wir auf dem Festland verbrennen unsere Toten, damit ihre Seelen zurück zu den Göttern finden können. Werden die Körper begraben, bindet sie immer etwas an ihr irdisches Dasein. Als wären sie in ihrem Grab gefangen. Für immer.« Die letzten Worte waren so leise, dass Nate sich sehr anstrengen musste, um sie zu verstehen. Ihm lief ein Schauer über den Rücken. So hatte er es noch nie gesehen. Auf dem Festland begrub man lediglich die Asche, die nach dem Verbrennen übrig blieb. Miros Asche stand noch immer in einer verzierten Urne in der Septe von Isaahn. Nate hatte nicht gewusst, was er damit tun sollte, wo Miro seine Überreste hätte haben wollen. Die seiner Mutter hatte Nate nach ihrer Beerdigung verstreut. In alle Himmelsrichtungen. Er hatte gewollt, dass Caras Asche bis in die hintersten Ecken von Sirion wehen konnte.
»Willst du draußen Wache schieben?«, bot Nate seiner Leibwächterin an, um ihr entgegenzukommen. Er würde in der Gruft nach dem Grab von Chandra, der letzten Tochter des Mondes, suchen. Allzu lang würde diese Suche ohnehin nicht dauern, bei gerade mal zwanzig Mondpriesterinnen.
Nike nickte dankbar, dass sie ihre Schwäche nicht offen zugeben musste. Sie sah sich um und deutete auf einen größeren Stein, auf dem sie sich niederließ.
»Ich warte hier auf dich. Falls etwas sein sollte, ruf nach mir.«
Mit einem heiseren Lachen betrat Nate kopfschüttelnd die Gruft. Kerzen erhellten wieder den kleinen Raum und Wildblumen standen in kleinen Vasen auf dem Boden verteilt. Nate las dieses Mal jede einzelne Gedenktafel sorgfältig, um ja nichts zu übersehen. Doch seine Suche blieb erfolgslos. Keine der Frauen hieß Chandra. Missmutig verzog er das Gesicht. Das konnte doch nicht sein.
Linnéa und Noah hatten nichts über diese Priesterin in Erfahrung bringen können. Und auch hier fehlte jede Spur von ihr. Wieso erzählte man ihnen die Geschichte von einer Frau, die scheinbar gar nicht existiert hatte? Da war doch etwas faul. Nate biss die Zähne zusammen. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Egal, welchem Hinweis sie nachgingen, jeder schien im Sand zu verrinnen. Nichts führte zu einem Ziel, sondern brachte nur noch mehr Fragen an die Oberfläche.
Kopfschüttelnd verließ er die Grabstätte. Seine Laune war gesunken. Als er ins Freie trat, kniff er die Augen zusammen. Das Sonnenlicht blendete ihn.
»Bist du fündig geworden?«, wollte Nike wissen, die noch immer auf dem Stein saß. Nate stieß ein Knurren aus.
»Ich interpretiere das als ›Nein‹.«
Sie stand auf und trat auf ihn zu. »Wonach hast du überhaupt gesucht?« Ihre langen blonden Haare wurden von einer sanften Briese um ihr Gesicht geweht. Sie trug ihre dunkelbraune Lederrüstung. Anders kannte Nate sie nicht. Seit seine Leibwächterin Theo, ihren kleinen Sohn, im samarischen Palast zurückgelassen hatte, war sie wieder ganz die Soldatin. Keine Spur der liebenden Mutter. Der Kleine hatte sich so gut mit Laila und den anderen Kindern im Palast verstanden, dass Celeste Nike angeboten hatte, ihn dort zu lassen. Ein Kind mit auf die Reise zu nehmen, kam ohnehin nicht in Frage. Nike hatte hier eine bedeutsame Aufgabe zu erfüllen: den Schutz des Königs zu gewährleisten. Theo würde ihr dabei im Weg stehen, denn als Mutter war ihr oberstes Ziel der Schutz ihres Kindes.
»Ich habe nach dem Grab von Chandra gesucht, der letzten Tochter des Mondes.« Doch er hatte versagt. Wie sollte er jemals Licht ins Dunkel bringen, wenn er keine Antworten auf seine Fragen fand? Es war zum Haareraufen.
»Oh«, erwiderte Nike. Ein seltsamer Laut für eine erfahrene Soldatin.
»Oh?« Nate sah sie stirnrunzelnd an. Seine Leibwache zeigte auf den Stein, auf dem sie eben noch gesessen hatte.
»Der Name, den du suchst, ist dort eingeritzt.« Nikes Augen wurden schmal, doch Nate sah trotzdem die Neugierde darin aufblitzen. Er blickte hinab zu dem schlichten Stein. Er war frei von Unkraut und Efeu und doch natürlich nicht ansatzweise vergleichbar mit den marmornen Gedenktafeln in der Gruft. Nate ging in die Knie und fuhr mit den Fingern über das kühle Gestein.
»Chandra« stand in einfachen Buchstaben darauf. Die Schrift war etwas unsauber, als hätte es viel Mühe erfordert, den Namen in diesen Stein zu ritzen.
Wieso war die Priesterin nicht im Kreise ihrer Vorgängerinnen bestattet worden? Was war an ihr so Besonderes, dass sie außerhalb der Gruft begraben worden war? Nate runzelte die Stirn.
»Du scheinst nicht zufrieden zu sein, dass du sie gefunden hast«, bemerkte Nike und verschränkte die Arme vor der Brust.
Nate knurrte missmutig. »Das bin ich auch nicht. Ich hatte gehofft, zu erfahren, was es mit der Geschichte um Chandra auf sich hat. Doch jetzt verstehe ich noch weniger als vorher. Warum ist sie nicht bei den anderen beigesetzt worden?« Das Gefühl der Ahnungslosigkeit plagte ihn. Es gab nichts, was er dagegen unternehmen konnte, und das störte Nate.
»Wenn es hier nichts zu finden gibt, musst du an einem anderen Ort suchen. Eine gewisse Priesterin hat ein Auge auf dich geworfen, vielleicht gestattet sie dir, einen Blick ins Archiv der Insel zu werfen.«
Die Idee war nicht schlecht. Und doch behagte es ihm ganz und gar nicht, Selena um diesen Gefallen zu bitten. Linnéa war dieser Wunsch verwehrt worden, aber würden Selindas Ordensanhänger so weit gehen und dem König diese Bitte ausschlagen? Eigentlich hatten sie kein Recht dazu. Denn auch wenn Sohalia jahrhundertelang für sich gelebt hatte, gehörte es zu Sirion. Und Sirion gehörte Nate. Er war der König.
»Du hast recht«, gab Nate zu. »Ich werde Selena danach fragen. Lass uns zurückgehen.« Der Gang zur Gruft war ein Reinfall gewesen. Absolute Zeitverschwendung.
Der Rückweg zu der Ortschaft verlief schneller als der Hinweg. Nate wollte so schnell wie möglich mit Selena sprechen. Nike lief schweigend neben ihm her.
»Soll ich nach Selena schicken lassen oder gehst du sie suchen?«, wollte seine Leibwächterin wissen, als sie wieder an ihrem Ausgangspunkt angelangt waren.
»Ich gehe sie gleich selbst suchen, doch zuerst will ich diesen Unsinn ausziehen.« Er zupfte demonstrativ an der bestickten Weste, die ihm Yanis heute Morgen rausgelegt hatte. Schon da hatte Nate sie nicht anziehen wollen, doch der Blick aus Yanis’ braunen Rehaugen hatte ihn eines Besseren belehrt.
Nike neben ihm lachte leise, was Nate mit einem finsteren Blick quittierte. Er stieß die Tür zu dem Haus auf, das er mit seinem Hofstaat bewohnte. Es war leer. Wo sich Kiah, Elio und Noah aufhielten, wusste er nicht. Yanis war vermutlich dabei, den Ordensanhängern beim Zubereiten des Abendbrots zur Hand zu gehen.
Nate betrat sein Zimmer und warf die Weste achtlos aufs Bett. Dabei fiel ihm ein brauner Umschlag ins Auge. Mit hochgezogener Augenbraue trat er auf sein Bett zu. Er griff nach dem Umschlag. Nate stieß ein Zischen aus und ließ den Brief fallen, als hätte er sich daran verbrannt.
»Was ist?« Bei dem Laut war Nike ins Zimmer gestürmt gekommen und sah sich sofort nach allen Seiten um.
Ohne ihr zu antworten, nahm Nate den Umschlag wieder in die Hand. Es stand kein Empfänger und auch kein Absender darauf. Lediglich ein Symbol war auf der Vorderseite des Briefes abgebildet: eine schwarze Spirale.
Nate bemerkte, wie Nike neben ihm zischend ausatmete.
»Wie kommt der hier rein?«
Als Antwort zuckte Nate mit den Schultern. Seine Finger zitterten leicht, als er den Umschlag öffnete. Nur wenige Zeilen standen auf einem schlichten Stück Papier.
Du willst wissen, wer deine Feinde sind? Triff mich heute Nacht in der Gruft der Mondtöchter, wenn der Mond den Zenit erreicht hat. Komm allein oder du wirst es bereuen.
Nate hatte die Worte laut vorgelesen, seine Stimme klang seltsam belegt. Wieder und wieder las er die Zeilen. Das war eine Falle, so viel stand fest. Doch das bereitete ihm weniger Sorgen, als er erwartete hatte. Vielmehr schockierte es ihn, dass ihre Feinde längst hier waren. Wer sonst deponierte einen Brief mit der Spirale auf seinem Bett? Es war das Symbol der Atheos.
»Du wirst auf keinen Fall allein dort hingehen, hast du mich verstanden?« Nike sah ihn eindringlich an. »Wir sollten sofort zu Admiral Emir gehen und ihm von dem Brief erzählen.« Ihre Stimme ließ keine Widerworte zu, doch so stur Nike auch war, Nate war schlimmer.
»Du hast recht«, gab er augenscheinlich nach und nahm das zufriedene Nicken von Nike zur Kenntnis. Doch seine Leibwächterin täuschte sich, wenn sie dachte, dass Nate tatsächlich zu Emir gehen würde.
»Ich werde nicht allein gehen, weil du mich begleiten wirst«, fügte er an. In seine grünen Augen trat ein entschlossenes Funkeln. Endlich würde er herausfinden, wer die Atheos waren. Wer es auf sie abgesehen hatte. Würde ihm heute Nacht Sadik gegenübertreten? Der Mann, der vor all den Jahren Malia entführt hatte. Oder jemand, mit dem Nate bisher nicht gerechnet hatte? Heute Nacht würde er es endlich wissen.
***
Vielleicht war es leichtsinnig gewesen, Admiral Emir nicht einzuweihen. Nate hatte auch niemand anderen in sein Vertrauen gezogen. Nur Nike wusste von dem Brief und der gefährlichen Aufforderung darin. Und die war bereits aufgebrochen, um sich einen optimalen Beobachtungsposten zu sichern. Bewaffnet mit einer Armbrust, um einen möglichen Hinterhalt schon von Weitem im Keim zu ersticken.
Nate hatte lange darüber nachgedacht, ob er der Einladung des Briefes folgen sollte oder nicht. Aber im Grunde war ihm gar nichts anderes übrig geblieben. Hätte er Alarm geschlagen, würde er niemals herausfinden, wer ihm diesen Brief geschrieben hatte. Ob es sich wirklich um ein Mitglied der Atheos handelte oder ob sich nur jemand einen üblen Scherz mit ihm erlaubte. Dieses Treffen war seine einzige Chance, Klarheit zu bekommen.
Und doch war er nervös wie lange nicht mehr. So aufgeregt war er weder bei seiner Berufung noch bei seiner Krönung gewesen, stellte er fest. Nicht mal, als er indirekt um Celestes Hand angehalten hatte. Nichts davon war vergleichbar mit seinen jetzigen Gefühlen. Von all den Emotionen, die durch seinen Körper rauschten, war die größte unter ihnen Angst. Nicht vor den Atheos, einem möglichen Hinterhalt oder dem Tod. Nein. Nate hatte Angst vor einem Verrat. Er wusste nicht, wer ihm so nah war, diesen Brief positioniert zu haben, wusste nicht, wer in seinen eigenen Reihen offenbar hinter den Atheos stand. Sollte es jemand sein, der ihm nahestand, würde ein Teil von ihm zerbrechen. Ganz ähnlich wie damals bei Marco. Ein zweites Mal würde Nate einen solchen Treuebruch nicht verkraften.
Er war nicht mehr weit von der Gruft entfernt und seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Obwohl es tiefste Nacht war, spendete der Mond ein angenehmes Licht, an das sich Nates Augen schnell gewöhnt hatten. Der kleine Wald auf der östlichen Seite der Insel lag ruhig vor ihm. Ab und an hörte er einen Uhu und das Rascheln von Laub, wenn kleinere Tiere durch das Unterholz krochen. Doch mehr war da nicht.
Bis ein Ast neben ihm knackte. Das Geräusch war zu laut, als dass es von einem Tier hätte stammen können, und Nate drehte sich erschrocken zu der Quelle um.
Aus der Richtung, in der die Gruft lag, trat eine Gestalt hinter den Bäumen hervor. Mit einem fragenden Ausdruck im Gesicht musterte sie den König.
»Nate? Bist du das?«
Bei dem Klang der vertrauten Stimme beruhigte sich Nates viel zu schnell schlagendes Herz. Doch was tat sie hier?
»Ayla?«
Die Zofe und Schwester der Mondtochter sah ihn mit schräg gelegenem Kopf an. Sie trug einen warmen Mantel, an dessen Gürtel zwei Messer hingen. Die langen schwarzen Haare waren zu einem Zopf geflochten.
Ein zaghaftes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus und die blauen Augen, die denen ihrer Schwester so ähnlich waren, leuchteten im Mondlicht.
»Ja. Was tust du hier mitten in der Nacht?«
Nate hob eine Augenbraue und sah sich um. Außer ihnen war niemand hier. Zumindest nahm er keine weitere Gestalt wahr.
»Dasselbe könnte ich dich fragen.«
Ayla schmunzelte und deutete auf die Messer an ihrem Gürtel.
»Ich bin eingeteilt für die nächtliche Patrouille. Und du? Sag bloß nicht, du triffst dich hier heimlich mit Lady Celeste?« Ein amüsiertes Grinsen umspielte ihre Lippen und sie sah sich neugierig um, als würde sie erwarten, den Rotschopf jeden Moment aus dem Gebüsch kommen zu sehen.
»Wie kommst du darauf?«, wollte Nate irgendwie ertappt wissen. Zwar hatte er heute Abend wirklich etwas gänzlich anderes vor, aber so abwegig war die Vermutung an sich nicht.
Ein wissender Ausdruck trat in Aylas Augen und sie kam einige Schritte auf ihn zu.
»Ich sehe doch, wie vertraut ihr miteinander umgeht. Jeder sieht das«, fügte sie dann leise hinzu. Ihre Stimme klang plötzlich belegt, als würde sie diese Tatsache nur sehr ungern zugeben.
»Und auch wenn es meiner Schwester das Herz bricht, tief in ihrem Inneren weiß auch sie, dass dein Herz bereits vergeben ist.«
Die Ehrlichkeit ihrer Worte versetzte Nate einen Stich. Er war nicht gekommen, um über seine Gefühle zu sprechen. Sein Ziel heute Nacht war ein anderes. Und Ayla stand ihm dabei im Weg. Dennoch drückte nun ein Gewicht auf seine Brust. Unruhig fuhr er sich mit den Fingern übers Gesicht.
»Ich will ihr nicht wehtun. Das war nie meine Absicht.«
Die dunkelhaarige Zofe nickte verständnisvoll und obwohl Nate gerade zugegeben hatte, dass er ihrer Schwester das Herz brechen würde, sah sie nicht aus, als würde sie ihm diese Entscheidung nachtragen. Nate kannte Ayla nur als liebende und beschützende große Schwester. Dass sie ihn nicht dafür hasste, dass er Celeste Selena vorzog, hatte er nicht erwartet.
»Ich weiß«, sagte Ayla mit ruhiger und etwas trauriger Stimme. Dann schüttelte sie kurz ihren Kopf, als wolle sie ihre Gedanken neu sortieren. »Also, was willst du hier mitten in der Nacht?« Ihre Stimme hatte wieder einen heiteren Klang angenommen.
Unsicher sah Nate sich um. Er rechnete damit, dass man sie bereits beobachtete. Ayla schien die lauernde Gefahr jedoch nicht zu bemerken.
Nate biss sich auf die Innenseite seiner Wange.
»Ich … ich warte auf jemanden. Aber keine Sorge, es ist nicht Lady Celeste.« Er hob die Hände, als erwartete er eine Schimpftriade von Ayla, doch diese lachte nur leise.
»Ich bin mir nicht sicher, ob mich diese Aussage beruhigen oder eher stutzig machen sollte. Es ist etwas verdächtig, dich bei der Gruft vorzufinden, um heimliche Treffen abzuhalten.« Sie runzelte die Stirn und Nate konnte ihr Misstrauen mehr als verstehen. Doch er durfte ihr unter keinen Umständen sagen, was er wirklich vorhatte. Wer hier auf ihn warten würde.
Also lächelte er nur.
»Das muss in der Tat seltsam auf dich wirken. Aber vertrau mir einfach und geh zurück ins Dorf.«
Aylas Augen wurden groß, dann legte sich ihre Stirn in Falten.
»Das kann ich nicht.«
Dass sie eine verantwortungsvolle Ordensschwester war, wusste Nate. Doch es war möglich, dass es hier bald gefährlich werden würde. Und dann durfte Ayla nicht mehr in der Nähe sein. Er überlegte fieberhaft, wie er sie aus der Gefahrenzone bekommen konnte.
»Ich weiß, dass du Wachdienst hast, Ayla. Aber glaube mir, es wäre sicherer für dich, heimzugehen.« Sie trennten nur wenige Schritte und Nate sah sie eindringlich an, damit sie den Ernst der Lage verstand. Am liebsten hätte er sie an den Schultern gepackt und geschüttelt, um ihr begreiflich zu machen, dass sie gehen musste.
Doch da schüttelte Ayla langsam den Kopf. Ihre Augen waren dabei geschlossen.
»Und für dich wäre es sicherer gewesen, allein zu kommen.«
Verwirrt hielt Nate inne und sah sie an.
»Was meinst du?«
Sie öffnete urplötzlich die Augen und ihr Hellblau hatte einen eigenartigen Glanz angenommen. Es wirkte, als zögen sich kleine Eiskristalle durch ihre Iriden. Nate erschauerte bei diesem Anblick.
Die Zofe schnalzte mit der Zunge.
»Noch hadere ich mit mir, ob ich Sadik sofort den Befehl geben soll, deine kleine Leibwächterin zu töten, oder doch erst noch abwarte. Warum sitzt sie überhaupt in einem Baum? Ist sie etwa ein Äffchen?« Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah ihn amüsiert an. Doch die Kälte hatte ihre Augen nicht verlassen.
Bei dem genannten Namen wurde Nate hellhörig. Was ging hier vor sich? Und wovon sprach Ayla?
»Sadik? Ich verstehe nicht.«
Ayla hob eine Augenbraue, als zweifle sie an Nates Gehirnleistung.
»O Nate, denk doch mal nach! Du wolltest dich hier mit jemandem treffen, schon vergessen? Und ich bin hier.«
Seine Gedanken klärten sich, doch die Bedeutung von Aylas Worten wollte sich ihm nicht wirklich erschließen. Er war gekommen, um sich mit den Atheos zu treffen. Und Ayla war erschienen. Doch das musste ein Missverständnis sein. Das ergab doch keinen Sinn.
»Du? Aber das ist unmöglich. Du bist keine Atheos!« Das konnte nicht sein.
Ihr rechter Mundwinkel zuckte.
»Wer sagt das?«
Kopfschüttelnd sah Nate dabei zu, wie Ayla eines der Messer aus ihrem Gürtel zog. Das Mondlicht spiegelte sich in dem glatt polierten Stahl. Er wollte es nicht wahrhaben. Warum sollte Ayla auf der Seite der Atheos stehen?
»Welchen Grund solltest du haben, diesen Verrätern beizutreten?«, sprach er seine Gedanken laut aus. »Deine Schwester ist eine Priesterin!«
Und Selena stand sicher nicht auf der Seite dieser Hundesöhne. Er persönlich hatte es von ihr erfahren. Zu einer Zeit, als seine göttliche Fähigkeit noch funktioniert hatte. Als Ilias, der Gott der Sonne, ihn noch nicht verlassen hatte.
»Das ist mir durchaus bewusst. Beinahe wäre ich schließlich selbst zu Zahiras Auserwählter geworden. Aber eben nur beinahe.« Sie zuckte mit den Schultern, ein harter Zug lag um ihren Mund. »Es muss wohl Schicksal gewesen sein.«
Auch Selena hatte vor ihm erwähnt, dass Zahira eigentlich Ayla als Priesterin hatte berufen wollen. Doch die Septa dieser Insel hatte sich letztendlich dagegen entschieden. Warum wusste Nate noch immer nicht. Doch er erkannte immerhin, was die Folge daraus war: Zahira hatte mit ihrer Wahl, oder besser: Nichtwahl, eine Dunkelheit in Ayla heraufbeschworen, die vorher nicht dort gewesen war.
Traurig sah Nate die Frau vor sich an. Sie war nicht mehr das Mädchen, das er aus seiner Kindheit kannte. Die Ayla von damals hätte sich niemals den Atheos angeschlossen.
»Weiß sie es?«, fragte er leise.
»Von wem sprichst du?«
Ein Knurren entkam seiner Kehle. »Selena. Weiß sie, was du bist?«
Wen hatte Ayla getäuscht? Sie alle oder hatte sie doch ihre Schwester ins Vertrauen gezogen? Hatte auch die Mondtochter ihm etwas vorgemacht?
»Natürlich nicht.« Aylas Augen wurden dunkel und sie sah ihn abschätzig an. »Sie liebt dich und sie würde nie etwas tun, was dir schaden würde. Und da du sie auch noch von Anfang an verdächtigt hast, musste ich sie im Ungewissen lassen, sonst hätte sie alles zunichte gemacht.«
Also hatte Ayla nicht nur ihn, sondern auch ihre eigene Schwester hintergangen. Aber wofür? Was erhoffte sie sich von alldem? Wut flammte in Nate auf und erfasste jede Zelle seines Körpers.
»Ich werde dich damit nicht durchkommen lassen, Ayla. Du bist eine Verräterin der Krone! Dafür wirst du bezahlen.«
Die Zofe drehte das Messer in ihrer Hand. Sie schien sich ihrer Sache mehr als sicher zu sein. Eine solche Ruhe hatte Nate bisher selten bei Menschen erlebt, die einen Verrat gestanden hatten.
»So edle und noble Worte aus deinem Mund zu hören, ist wirklich ungewohnt. Aber mach dir nichts vor. Du wirst rein gar nichts gegen mich unternehmen«, sagte sie entschieden. Sie klang dabei absolut überzeugt von ihren eigenen Worten.
Nate lachte hart auf.
»Und wieso nicht? Was hindert mich daran, dich hier und jetzt zu töten?« Es juckte ihn in den Fingern, endlich seine Rache zu bekommen. Die Gerechtigkeit einzufordern. Er wusste nicht, wie weit oben Ayla in den Rängen der Atheos stand und für welche schändlichen Taten sie verantwortlich war, aber sie war eine von ihnen. Eine Verräterin. Das Wissen reichte ihm. Und Nate wollte Blut sehen.
Aus ihrem Mund drang ein glockenhelles Lachen. Nates Augen wurden bei diesem Laut schmal.
»Ich bin nicht mehr das kleine Mädchen, das du damals gekannt hast. Ich weiß, wozu du in der Lage bist, Nate. Wessen Blut an deinen Händen klebt. Doch du weißt nichts über mich. Auch wenn du vielleicht gegen mich bestehen könntest, deine Leibwache hat gegen Sadik keine Chance.« Sie hielt in ihrer Ansprache inne. Ein Grinsen schlich sich auf ihr Gesicht, das Nate einen kalten Schauer über den Rücken trieb.
»Und die Atheos, die in diesem Moment das Haus der Priesterinnen umstellen, dürften auch sehr leichtes Spiel haben.«
Eis floss durch seine Adern, als er begriff, was Ayla da gerade gesagt hatte. Die Priesterinnen befanden sich in Gefahr. Vielleicht in Lebensgefahr. Und niemand ahnte etwas davon. Keiner war dort, um sie zu beschützen. »Was sagst du da?«, hauchte er beinahe tonlos.
Ayla schüttelte den Kopf, als tadele sie ein kleines Kind.
»Du hast die Regeln dieses Spiels noch immer nicht verstanden. Es ist wie beim Schach, Nate. Plane mindestens vier Züge voraus. Du denkst doch nicht wirklich, dass ich allein gekommen bin? Das wäre töricht von mir.«
Mit zusammengekniffenen Augen musterte Nate die Frau vor sich. Trotz des Messers in ihrer Hand wirkte sie alles andere als bedrohlich auf ihn. Ruhig und selbstsicher, das ja. Doch von Bedrohung keine Spur.
»Du bluffst.« Wie hätte es ihr gelingen sollen, Mitglieder der Atheos ungesehen auf die Insel zu schleusen? Immerhin lagen im Hafen von Sohalia Schiffe der königlichen Flotte vor Anker.
»Das musste ich gar nicht« Ayla zuckte mit den Schultern. »Wusstest du, dass die ersten Atheos Piraten waren, die diese Insel tyrannisiert haben? Sohalia ist längst von uns umstellt. Für euch gibt es kein Entkommen.«
Nate sah sich um. Wenn Aylas Worte der Wahrheit entsprachen, dann wurde Nike in diesem Moment von einem der gefährlichsten Männer des Landes beobachtet und würde vielleicht sogar von ihm getötet werden, sollte Nate nicht Aylas Anweisungen Folge leisten. Dem Verbrecher Sadik, der skrupellos mordete, wenn ihm jemand in den Weg kam. An die Atheos, die sich angeblich im Dorf aufhielten, wollte Nate gar nicht erst denken. Denn dort gab es kaum jemanden, der in der Lage war, sich bewaffneten Soldaten in den Weg zu stellen.
»Was willst du, Ayla?«, knurrte Nate.
Ein dunkler Schatten trat in ihre blauen Augen.
»Ich will alles«, zischte sie und zum ersten Mal wirkte sie bedrohlich auf Nate. Es war dieser Ausdruck in ihren Augen, der sie gefährlich wirken ließ. Beinahe wahnsinnig.
»Alles, was man mir verwehrt hat. Alles, was ich niemals haben konnte, weil ich als Ausgestoßene am unteren Ende der Nahrungskette stehe.«
Mit diesen Worten hatte Nate nicht gerechnet. Er verstand ihre Beweggründe nicht. Was erhoffte sie sich von alldem? Wohin sollten all das Leid und der Tod am Ende führen? Er schnaubte und sah sie herablassend an.
»Das ist lächerlich. Du willst sämtliche Gotteskinder töten, weil du angeblich unfair behandelt worden bist?«
Verwirrt hob Ayla eine Augenbraue.
»Ich will dich nicht töten, Nate. Darin sehe ich keinen Sinn. Zumindest nicht zum jetzigen Zeitpunkt.«
»Was willst du dann von mir?«
Im Wald rührte sich nichts. Nur ihre Stimmen durchbrachen die Stille. Es war, als hielte die Welt den Atem an.
»Um die Pläne der Atheos voranzubringen, brauchen wir die Macht des Königs. Nur du kannst über das Volk herrschen, ohne dass sofort ein Krieg ausbricht.«
Hörte er recht? Sie wollte einen Krieg verhindern? Dass er nicht lachte! Die Handlungen der Atheos hatten bisher eine andere Sprache gesprochen.
Jedoch: Was führte Ayla wirklich im Schilde? Nate konnte nicht auf seine göttliche Gabe zurückgreifen. Er wusste nicht, ob sie die Wahrheit sagte oder nicht, wusste nicht, ob er ihren Worten Glauben schenken sollte. Doch er war sich im Klaren darüber, dass er nicht mit diesen Verrätern zusammenarbeiten würde. Lieber würde er sterben. Oder besser noch: Ayla hier und jetzt töten.
»Wie kommst du darauf, dass ich dir helfen werde?«, fragte er mit zusammengebissenen Zähnen. Und gleichzeitig beschlich ihn bereits ein ungutes Gefühl. Er hatte etwas übersehen in seinem Eifer.
Ein siegessicheres Grinsen umspielte ihre vollen Lippen. Einzelne Strähnen ihres schwarzen Haares umspielten ihr Gesicht, das ebenso weiß wirkte wie der Mond am Himmel. Das eisige Blau ihrer Augen strahlte. Und noch bevor sie die unheilvollen Worte aussprach, wusste er es bereits und dieses Wissen traf ihn wie ein Schlag mitten ins Gesicht.
»Weil Celeste sonst die Erste sein wird, die heute Nacht stirbt.«