Nathaniel
Ein neuer Morgen glich der Erlösung, dem Erwachen aus einem nächtlichen schlechten Traum. Die aufgehende Sonne war das Zeichen neuer Hoffnung und des Verdrängens der Schatten der Nacht. Doch dieser Morgen führte nicht zum ersehnten Erwachen. Keine Erlösung war in Sicht. Nate befand sich mitten in einem Albtraum und es gab keinen Weg, daraus zu entfliehen.
Er hatte nach seinem Treffen mit Ayla kein Auge zugetan. Und ihre Worte saßen ihm noch tief in den Knochen. Schwirrten in seinem Kopf herum und erinnerten ihn in jedem Augenblick daran, dass ihre Feinde sie längst umstellt hatten.
Als er den Blick hob, begegnete er den eisigen Augen von Ayla. Doch sie lächelte ihn an. Beinahe freundlich. Als hätte sie ihm nicht erst vor wenigen Stunden offenbart, dass sie auf der Seite der Atheos stand. Ihr Lächeln war eine Warnung, so viel war Nate bewusst. Sollte er auch nur falsch atmen, würde nichts diese Frau davon abhalten, jeden der hier Anwesenden zu töten. Und sie würde mit Celeste beginnen.
Als Nate den Dorfplatz erreichte, suchten seine Augen den Rotschopf. Sie saß lachend mit Makena zusammen und genoss das aufgetischte Frühstück. Celeste hatte nicht die leiseste Ahnung von der Gefahr, die sie umgab. Oder in der sie gestern Nacht geschwebt hatte.
Niemand hatte das. Nicht einmal Nike, obwohl sie von dem Brief der Atheos wusste und Sadik gestern Nacht so nah gewesen war. Er hatte sich Nates Leibwache nicht genähert. In sicherer Entfernung hatte Sadik gelauert, um sie jederzeit töten zu können, falls Nate sich Ayla widersetzen würde. Doch so weit war es nicht gekommen.
Nate hatte Nike anschließend dreist ins Gesicht gelogen: Er hatte ihr erzählt, dass niemand aufgetaucht war. Ayla war clever. Sie hatte ihn nicht bei der Gruft in Empfang genommen, sondern schon auf dem Weg dorthin. So hatte Nike sie nicht sehen können.
Es war wieder wie früher. Als wäre er nie berufen worden. Seine Vergangenheit holte ihn ein. Er log, er betrog. Und das, ohne mit der Wimper zu zucken. Das Schlimmste war: Nate verspürte nicht den Hauch eines schlechten Gewissens. Wie zu seiner Glanzzeit bei Mic und den anderen Söldnern. Dieser Mann hatte ihn zu hassen gelehrt. Und dann, diesen Hass zu nutzen. Jede Lektion, die König Miro ihn über Vertrauen und Ehrlichkeit gelehrt hatte, war vergessen. Doch im Gegensatz zu früher ging es nicht mehr nur um sein eigenes Überleben. Es ging um Celeste und ihren Schutz. Und dafür würde er alles tun. Egal, wie hoch der Preis letztendlich sein mochte.
»Ist alles in Ordnung bei dir?«
Erschrocken sah Nate auf und schaute in die besorgten Karamellaugen von Celeste. Er hatte nicht einmal bemerkt, dass sie zu ihm herübergekommen war, so sehr war er in Gedanken versunken gewesen. Sein Blick huschte zu Ayla, die ihn beobachtete.
»Ja, alles gut. Ich habe nur schlecht geschlafen.« Es war eine weitere Lüge, die ihm spielend über die Lippen kam. Dabei wollte er Celeste nicht anlügen, gerade sie nicht. Doch welche Wahl hatte er?
Du bist meine Marionette, Nate. Von heute an, bis ich mich dazu entschließe, deine Fäden zu zerschneiden.
Das waren Aylas Worte gewesen. Er hatte sie über sich ergehen lassen müssen. Der König von Sirion hatte nichts dagegen tun können. Gut, er hätte Ayla töten können. Doch zu welchem Preis?
Sie hatte ihm nicht verraten, was sie mit ihm vorhatte. Welche Pläne sie genau verfolgte. Je weniger Nate wusste, umso weniger konnte er anderen verraten. Aber da Ayla ihn keine Sekunde aus den Augen ließ, bekam Nate ohnehin nicht die Gelegenheit, jemanden zu warnen oder zu informieren. Es sei denn, er schrie es laut hinaus und gefährdete damit vermutlich das Leben aller hier. Er wusste nicht, wie viele Atheos sich auf Sohalia herumtrieben. Doch er hatte Ayla geglaubt, als sie ihm offenbart hatte, dass sie die Insel bereits umstellt hatten. Auch ohne seine göttlichen Fähigkeiten hatte sie auf ihn in dem Moment leider nicht wie eine Lügnerin gewirkt.
»Hattest du wieder Albträume?«, drang wieder die leise Stimme von Celeste an sein Ohr. Die Sorge war deutlich auf ihrem Gesicht zu sehen und Nate biss sich auf die Innenseite seiner Wange. Er bereitete ihr Kummer. Wie sehr er das hasste!
Er stand auf und fuhr ihr federleicht mit den Fingern über die Wange. Sie lehnte sich seiner Berührung entgegen.
»Mach dir keine Sorgen um mich. Mir geht es gut, Kätzchen.« Nate musste sich so normal wie möglich verhalten, sonst würde er sich nur verdächtig machen. Nike war ohnehin in Alarmbereitschaft seit dem Brief. Gestern hatte sie ihm geglaubt, dass kein Atheos aufgetaucht war, doch wenn Nate sich heute seltsam verhielt, würde sie vielleicht Verdacht schöpfen.
Celeste sah ihn lange an. Ihre roten Locken waren zu einem einfachen Zopf zusammengebunden.
»Du weißt, dass du mit mir über alles reden kannst, oder?«
Ein Stich fuhr durch seine Brust. So liebevoll ihr Angebot auch war, Nate konnte es nicht annehmen. Er musste allein nach einer Möglichkeit suchen, Aylas Pläne zu durchkreuzen und sein Gefolge in Sicherheit zu bringen. Er musste die Atheos aufhalten.
Doch wie er das bewerkstelligen sollte, war ihm schleierhaft. Ayla war stets in seiner Nähe. Er konnte nicht agieren, ohne dass sie davon etwas mitbekam. Auch war ihm unbekannt, wo sich Sadik und die anderen Atheos aufhielten.
Nate raufte sich die Haare und erntete dafür einen skeptischen Blick von Celeste, die noch immer vor ihm stand.
»Vielleicht solltest du dich hinlegen und versuchen, ein bisschen zu schlafen.«
Zögernd nickte er. Auch wenn Schlaf das Letzte war, mit dem er Zeit verschwenden durfte. Während man schlief, war man verwundbar. Und das durfte Nate derzeit auf keinen Fall sein. So würde er niemanden beschützen können.
Sollte Celeste aber misstrauisch werden, würde ihre Neugier siegen und sie hätte ihn schneller durchschaut, als es Nate lieb war. Die Neugierde des Rotschopfs war eine Eigenschaft, die er an ihr bewunderte und gleichzeitig verfluchte. Sie war wissbegierig und das fand er mehr als faszinierend, doch wenn sie etwas herausfinden wollte, gerade wenn es ihn selbst betraf, war dieser Wesenszug geradezu nervtötend.
Er schenkte ihr ein gezwungenes Lächeln. Seine Augen ruhten dabei auf ihr und Nate hatte auf einmal das starke Bedürfnis, sich jedes Merkmal ihres Gesichts einzuprägen. Die helle Haut, die schmale, gerade Nase und die wunderbar vollen Lippen, die er nur zu gern küsste. Mit der Hand fuhr er über den Zopf aus kirschrotem Haar. Er war weich und glänzte im Sonnenlicht. Der Duft von Mandelblüten drang in seine Nase. Celestes liebstes Badeöl. Darunter lag ein zarter Hauch Zimt, als käme sie geradewegs aus einer Backstube. Manchmal glaubte Nate, dass sein Geruchssinn ihm einen Streich spielte, denn es war ihm schleierhaft, wie Celeste nach Zimt duften konnte, wenn sie gar nicht mit dem Gewürz in Berührung gekommen war. Vielleicht bildete er sich diesen Duft auch nur ein, weil er ihn so sehr mochte und daher einfach mit ihr in Verbindung bringen wollte. Wie auch immer. Hauptsache, sie würde diesen Duft niemals verlieren, zu sehr erinnerte er ihn an glückliche Zeiten.
Ohne darüber nachzudenken, zog er sie plötzlich an seine Brust und legte die Arme um sie. Sein Kinn ruhte auf ihrem Scheitel. Und er spürte ihre Wärme, die auf ihn überging.
»Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?«, fragte sie zögerlich. Nate verstand sie kaum, denn er hielt sie fest gegen seine Brust gepresst. Selten hatte er bisher Sorge oder Angst in der Stimme des Rotschopfs vernommen. Sie war so eine starke, mutige Frau. Zuletzt, als sie von den Atheos in Silvina entführt worden waren. Damals hatte sie verängstigt geklungen und Nate hatte diesen Ton in ihrer Stimme verabscheut, weil er es nicht ertragen konnte, wenn sie Angst haben musste. Und auch jetzt hatte sich in ihre Stimme ein Hauch von Furcht geschlichen. Sie ahnte etwas.
Nate musste sich zusammenreißen, um nicht noch mehr Misstrauen zu streuen. Also löste er sich von ihr, setzte ein Grinsen auf und schaute zu ihr hinab. Blitzschnell hatte er ihr Kinn umfasst und seine Lippen auf ihren Mund gepresst. Es geschah zu schnell, als dass Celeste sich hätte dagegen wehren können. Dafür hörte Nate empörtes und überraschtes Brummen, das vermutlich von den hiesigen Ordensanhängern kam, die sie beobachteten bei ihrer unziemlichen Tat.
Celeste wand sich aus seiner Umklammerung und funkelte ihn böse an.
»Hatten wir nicht ausgemacht, das in der Öffentlichkeit zu lassen?«, zischte sie und sah sich besorgt um. Nate folgte ihrem Blick und schaute in die weit aufgerissenen Augen von Ordensschwestern, die dabei waren, Essen zuzubereiten. Ihm war diese Reaktion egal. Vor allem hatte er Celeste genügend abgelenkt, dass sie keine weiteren Fragen mehr stellen würde.
»Ich muss noch etwas mit Karim und Emir besprechen«, flüsterte er Celeste ins Ohr und ignorierte dabei ihren empörten Blick. Schnell hauchte er ihr noch einen Kuss auf die Stirn, bevor er sich von ihr löste. Dabei begegnete er den stechend blauen Augen von Ayla, die ihn abschätzend musterte.
Nate erwiderte ihren Blick voller Kälte. Früher hatte er dieses Mädchen gemocht und gern Zeit mit ihr verbracht. Heute fragte er sich, was bloß geschehen war, dass sie die Seiten gewechselt hatte. Vielleicht sollte er doch noch einmal das Gespräch mit Selena suchen und sie dazu bringen, mehr über ihre Schwester zu erzählen. Eine Schwester, von der selbst Selena offenbar nicht so viel wusste, wie sie glaubte.
***
Celeste
Es hatte bereits zu dämmern begonnen, als Celeste der Einladung folgte. Sie hatte Nathaniel seit dem Morgen nicht mehr gesehen. Was er den Tag über getrieben hatte und warum er so dringend mit Karim und Emir hatte sprechen müssen, wusste sie nicht. Sie hatte versucht, daran nichts Verdächtiges zu finden. Es war ihr in Maßen gelungen.
Doch dann war die Einladung gekommen. Eine Einladung zu einem gemeinsamen Abend im Tempel. Und ausgerechnet Selena hatte sie ausgesprochen. Und so ungern Celeste dieser Aufforderung nachgekommen war, blieb ihr doch nichts anderes übrig. Denn nicht nur sie, sondern auch Malia und Linnéa waren geladen worden. Was Selena geplant hatte und warum nur die Priesterinnen diese Einladung erhalten hatten, wusste Celeste nicht. Aber sie würde es bald herausfinden.
Neben Malia und Linnéa betrat sie die heiligen Hallen des Tempels, der der Mondgöttin Selinda gewidmet war. Weiße Marmorsäulen trugen die Decke und der Boden war gefliest. Durch eine gläserne Kuppel drang das Mondlicht herein und das Kerzenlicht spiegelte sich in der glänzenden Oberfläche des Bodens.
»Was glaubt ihr, was uns erwartet? Eine Teeparty?«, durchbrach Malias Stimme die bedrückende Stille.
Celeste musste bei diesem Gedanken schmunzeln, doch sie glaubte nicht daran. Vielleicht wollte Selena die Wogen wirklich glätten. Doch seit Zahira Andeutungen gemacht hatte, dass Selena von Dunkelheit erfüllt war, vertraute Celeste dieser Frau noch weniger als vorher. Wenn selbst die eigene Mentorin ihr misstraute, wie sollte Celeste es dann nicht tun?
»Warten wir ab, vielleicht wird es ganz nett«, entschied Linnéa und lächelte sie an. Gutgläubig wie immer.
Sie durchquerten die Halle, wo ihnen niemand begegnete, und öffneten die Türen zu einem kleinen Nebenraum, der genau gegenüber vom Eingang des Tempels lag. Auch hier erhellten Kerzen das Zimmer und spendeten ein gemütliches Licht. Vor einem Altar kniete eine Frau. Schwarzes, langes Haar floss über ihren Rücken und sie war in dunkle Stoffe gekleidet. Vor ihr auf dem Altar stand eine metallene Mondsichel.
»Glaubst du, sie hat uns zum Beten eingeladen?«, flüsterte Malia Celeste zu.
Gerade als die Himmelstochter etwas erwidern wollte, kribbelte das Mal in ihrem Nacken. Die Triskele, das Zeichen der Götter, diente Celeste seit jeher als Warnung. Sie kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich auf die Person, die vor dem Altar kniete. Die Frau war noch einige Meter von ihnen entfernt und schien ihre Ankunft noch nicht bemerkt oder aber sich dazu entschieden zu haben, sie zu ignorieren.
Dann geschah es: Die Aura der Frau wurde sichtbar. Celeste hielt den Atem an, denn sie erkannte sofort, dass es nicht Selena war dort vor ihnen.
»Ihr müsst wissen, ich wollte mich wirklich an meine Abmachung mit Nathaniel halten«, erklang stattdessen Aylas Stimme, die durch den kleinen Raum hallte. »Sein Schweigen für Euer Leben. Aber scheinbar hat der junge König mich nicht richtig verstanden.«
Celeste schluckte. Sie hatte Aylas Aura schon einmal gesehen, doch was sie nun sah, unterschied sich so vehement von dem, was sie kannte, dass ihr eisige Schauer über den Rücken liefen.
Malia neben ihr legte den Kopf schief.
»Ayla? Was tust du hier, wir dachten, Selena erwartet uns.«
Ayla drehte sich nicht zu ihnen um.
»Sie wird nicht kommen.«
Celeste starrte weiterhin auf Aylas Rücken und auf ihre Aura, die zunehmend finsterer wurde. Was ging hier vor sich?
»Wird sie nicht? Aber warum nicht?«, wollte Linnéa verwirrt wissen.
»Und von welcher Abmachung mit Nathaniel hast du eben gesprochen?« Misstrauen schwang in Malias Stimme mit und sie sah Hilfe suchend zu Celeste. Doch die Himmelstochter war ebenso ratlos.
»Ich habe Nate gestern gesagt, dass er kein Aufsehen erregen solle und falls er jemanden warnen möchte, würde er es bereuen.« Aylas Worte klangen wie ein dunkles Omen, doch der Sinn dahinter blieb Celeste verborgen. Wovon sprach sie?
»Ich kann dir nicht folgen, Ayla. Was willst du uns damit sagen? Und wovor hätte Nathaniel wen warnen sollen?« Celeste erinnerte sich an Nathaniels seltsames Verhalten heute Morgen, doch sie begriff noch immer nicht, was das mit Ayla zu tun haben sollte.
Endlich erhob sich die schmale Gestalt, drehte sich um und Ayla blickte den Priesterinnen entgegen. Das dunkle Kleid, das sie trug, schmiegte sich eng an ihren Körper. Celeste entdeckte sofort die beiden Messer, die an ihrem Gürtel befestigt waren. Warum war sie bewaffnet?
Aylas Augen ruhten auf ihnen. Bisher hatte Celeste Selenas Augen für gletscherblau gehalten, weil sie eine solche Kälte versprühten, dass die Himmelstochter ihrem Blick nie lange Stand halten konnte. Aylas Augen hingegen waren ihr immer wärmer erschienen. Doch nun nicht mehr.
»Vor den Atheos, die bereits vor der Küste vor Anker liegen. Und vor denen, die längst in den Wäldern lauern.«
Celestes Augen weiteten sich und sie hörte Linnéa neben sich panisch nach Luft schnappen.
»Was? Die Atheos sind hier?«, fragte Malia entsetzt. »Warum sagst du das nicht gleich?!« Malia tauschte einen Blick mit Celeste und diese nickte.
»Wir müssen sofort Alarm schlagen!«, sprach Celeste aus, was die drei Priesterinnen dachten. Wenn die Atheos die Insel umstellt hatten, gab es für sie nur schwerlich ein Entkommen.
Langsam schüttelte Ayla den Kopf.
»Dafür ist es bereits zu spät.« Sie kam auf die Priesterinnen zu und ihre Schritte hallten von den Wänden wider. Dann sah sie Celeste eindringlich an.
»Mit der Zeit habe ich verstanden, wie Nathaniels und auch Eure Gabe funktioniert. Solange man Nate einen Teil der Wahrheit sagt, wird er nicht misstrauisch. Mit Eurer Gabe hingegen seid Ihr schwieriger zu täuschen. Ihr seht das wahre Ich eines Menschen. Doch glücklicherweise auch nur bruchstückhaft. Ihr seht nur das, was Euer Gegenüber in exakt diesem Moment empfindet. Aber da ich keinen Groll gegen Euch persönlich hege, scheint die Täuschung aufgegangen zu sein.«
Eisige Schauer liefen über Celestes Körper und sie war nicht imstande, sich zu bewegen. Noch nie war es jemandem gelungen, sie zu täuschen. Ihre göttliche Gabe verhinderte dies. Und doch war Aylas zufriedenes Lächeln Beweis genug, dass sie es geschafft hatte.
Jemand griff nach Celestes Hand und als sie aufsah, stand Linnéa neben ihr. Die Waldtochter zitterte leicht.
»Was hast du getan?«, fragte sie mit leiser Stimme, während sie Ayla anstarrte.
Aus Aylas Kehle drang ein heiseres Lachen.
»Was ich getan habe? Ihr solltet Euch alle lieber fragen, was Nathaniel getan hat.«
Auch Celeste starrte panisch zu Ayla. Sie wollte am liebsten wegrennen, sich selbst und ihre Freundinnen in Sicherheit bringen, doch als sie einen Blick zur Tür warf, entdeckte sie zwei dunkle Gestalten, die davorstanden. Waren es Atheos?
»Wovon sprichst du?« Malias Stimme glich einem Grollen. Sie schien furchtlos wie immer zu sein. Als Celeste sie ansah, entdeckte sie Zorn in Malias braunen Augen. Doch da war noch mehr: Verwirrung. Für Linnéa und Malia ergaben Aylas Worte keinerlei Sinn. Doch Celeste erging es nicht so.
»Die Einzige von Euch, die mich nicht absolut verständnislos ansieht, ist Lady Celeste. Ihr scheint doch mehr über die früheren Taten des Königs zu wissen, als ich dachte. Aber kennt Ihr auch jedes Detail seines früheren Lebens?« Aylas Augen funkelten. Sie erinnerte Celeste an eine Raubkatze, die mit ihrer Beute spielte.
Malia neben ihr schnaubte verächtlich.
»Das ist doch Unsinn! Ich werde jetzt gehen und Lord Emir alarmieren.« Die Tochter des Meeres hatte sich mit den letzten Worten bereits umgedreht und wollte zur Tür stürmen, da entdeckte auch sie die beiden vermummten Gestalten, die den Ausgang versperrten. Sie wirbelte wieder herum und sah Ayla fassungslos an. Diese lächelte beinahe freundlich.
»Nicht nötig. Der Admiral ist ohnehin bereits auf dem Weg. Er wurde von einem alten Freund abgeholt. Ihr dürftet ihn kennen, Malia. Sadik freut sich schon sehr darauf, Euch wiederzusehen.«
Im Raum wurde es totenstill. Man hätte eine Stecknadel fallen hören. Celeste starrte erst Ayla, dann Malia an. In den Augen der Meerestochter stand nun blanke Furcht geschrieben. Allein bei der bloßen Erwähnung dieses Namens war sie erstarrt.
»Was ist hier eigentlich los?«, wollte Linnéa wissen und rückte dabei näher an Celeste heran.
Celeste hatte sich getäuscht, als sie gemutmaßt hatte, wer ihr Feind war. Selena war keine Verräterin. Oder zumindest war sie nicht die Drahtzieherin.
Bei den nächsten Worten zog sich ihre Brust zusammen und ihre Lunge verkrampfte sich.
»Sie ist eine Atheos«, stieß Celeste hervor und bedachte Ayla mit einem vernichtenden Blick. Sie hatte sie alle getäuscht.
Die dunkelhaarige Frau lächelte zufrieden.
»Ihr seid wahrlich die Klügste unter den Priesterinnen. Nicht einmal meine eigene Schwester ahnte etwas von meiner Verbindung zu den Rebellen. Zumindest nicht bis heute Morgen, als ich sie eingeweiht habe.«
Selena hatte nie auf der Seite ihrer Feinde gestanden. Nathaniel hatte recht behalten, was seine einstige Kindheitsfreundin anging. Doch was Ayla betraf, hatte er sich getäuscht. Sie war die Verräterin.
»Was willst du von uns?«, fragte Malia beinahe gleichzeitig, als Celeste rief: »Und wo ist Nathaniel?«
Was hatte diese Wahnsinnige mit ihm gemacht? Und wo war Selena? Wo waren die Wachen? Celeste wurde das ungute Gefühl nicht los, dass das Spiel ihrer Feinde bereits lange im Gange war und sie dabei waren, zu verlieren, weil sie die Spielregeln nicht kannten.
»Er wird uns bald Gesellschaft leisten. Doch zuerst muss ich einigen hier die Augen öffnen über ihren neuen König.«
Die Türen zum Tempel wurden aufgestoßen und Kiah, Elio, Noah und Yanis wurden hereingebracht. Männer mit Rüstungen, auf denen die schwarze Spirale prangte, zogen sie grob hinter sich her. Ihre Gesichter waren verhüllt, doch in ihren Augen loderte der Hass. Es waren Atheos.
Ayla nickte. »Wir sind vorerst vollzählig.«
Die Männer stießen Nates Höflinge auf den Boden, direkt vor die Priesterinnen. Celeste griff nach Kiahs Hand und half ihm auf die Beine.
»Was zum Teufel geht hier vor sich?«, verlangte der blonde Höfling unwirsch zu wissen.
»Hat man euch wehgetan?« Elio wurde von Malia auf die Füße gezogen. Er betrachtete die Priesterinnen eingehend, bevor sein Blick zu Ayla wanderte. Verständnislosigkeit lag in seinen Augen.
Malia schüttelte den Kopf. »Nein, aber die Irre dort macht gemeinsame Sache mit den Atheos.«
Bei ihren Worten wurden Aylas Augen schmal.
»Ich bin gespannt, ob Ihr noch diese spitze Zunge haben werdet, wenn Sadik hier auftaucht.«
Malia verstummte sofort. Celeste verstand sie nur zu gut. Sadik war das Monster ihrer Kindheit. Er war die Schatten unter ihrem Bett und der Dämon ihrer Albträume. Und bald würde sie ihm erneut gegenüberstehen.
Ayla begann vor dem Altar auf und ab zu laufen. Die Arme hatte sie hinter dem Rücken verschränkt.
»Wie gesagt, Nate hat sich nicht an meine Anweisung gehalten. Er hat versucht, Admiral Emir und Lord Karim zu warnen. Das war gegen die Regeln und nun wird er den Preis dafür zahlen. Mein Vertrauen gegen das Eure.«
Celeste kniff die Augen zusammen. Ayla sprach von Vertrauen, doch von welchem? Hatte sie Nate vertraut oder war es gar umgekehrt gewesen?
Die Zofe erkannte die Verwirrung in Celestes Blick und schüttelte den Kopf.
»Keiner von Euch, nicht einmal Ihr«, ihr Blick ruhte auf Celeste, »kennt Nate wirklich.«
Ein Schnauben erklang und Kiah funkelte Ayla wütend an.
»Und du schon?« Seine Stimme klang herablassend, als würde er die Gefahr, die von Ayla ausging, nicht bemerken. Doch Celeste wusste es besser. Ayla mochte wie eine unschuldige Frau aussehen, doch ihre Aura sprach eine andere Sprache. Von ihr ging eine Bedrohung aus, wie Celeste sie bisher selten gesehen hatte.
»Ja, das tue ich. Aber lasst uns ein Spiel daraus machen.« Sie legte eine dramatische Pause ein und ein hässliches Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
»Wahrheit oder Lüge: Der König ist ein Dieb.«
Celeste erstarrte bei diesen Worten. Was hatte Ayla vor? Die Himmelstochter spürte den Blick aus den eisigen Augen direkt auf sich, als würde Ayla so viel mehr wissen, als sie bisher preisgegeben hatte.
»Was soll das werden?«, forderte Noah zu wissen. Er hielt eine verängstigte Linnéa im Arm.
Ayla ignorierte seine Frage und schnalzte verärgert mit der Zunge.
»Kennt niemand die Antwort? Lady Celeste, vielleicht möchtet Ihr darauf antworten. Immerhin habt Ihr diese Seite an ihm mit eigenen Augen gesehen.«
Für einen kurzen Moment schloss Celeste die Augen. Das durfte nicht passieren. Doch sie spürte noch immer die Blicke ihrer Freunde auf sich. Einige verwirrt, andere auffordernd.
»Wovon redet sie?«, fragte Malia besorgt.
Celeste hob den Blick und begegnete dem von Ayla. Die Zofe sah sie wissend an. Sie wusste genau, was damals zwischen Celeste und Nathaniel vorgefallen war, so viel war der Priesterin in diesem Moment bewusst. Ayla wusste alles. Und Celeste war nun auch klar, was Ayla mit Vertrauen gemeint hatte.
»Hört nicht auf sie. Sie will uns nur gegen Nate aufbringen.« Ayla würde das Vertrauen von ihnen allen in Nate zerstören. Und dafür benötigte es nicht mal Lügen, sondern lediglich die Wahrheit. Celeste war die Einzige, die von Nates zwielichtiger Vergangenheit wusste, und ihr war klar, dass das auch besser so bleiben sollte.
»Unsinn, dass muss ich gar nicht. Nate hat schon selbst dafür gesorgt. Also, wie ist Eure Antwort? Und ich verbitte mir Lügen oder Verharmlosungen.« Ayla sah Celeste eindringlich an. Die Priesterin schluckte. Was sollte sie tun? Wenn sie jetzt log, würde Ayla vielleicht noch schlimmere Details über Nate verraten. Aber auch wenn sie die Wahrheit sagte, würde Ayla gewinnen.
»Lele?«, drang Elios Stimme leise zu ihr herüber und Celeste sah ihn an. Alle Augen ruhten auf ihr. Sie musste eine Entscheidung treffen.
»Es ist wahr«, gestand sie endlich. »Nate hat versucht, mich zu bestehlen, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Aber er ist jetzt ein anderer Mensch.« So leise ihre Stimme war, bei ihrem letzten Satz wurde sie lauter und sie blickte zornig zu Ayla. Celeste würde nicht zulassen, dass sie Nate schlechtmachte. Er mochte schlimme Dinge getan haben, aber das war Vergangenheit.
Das Grinsen, das sich nun auf Aylas Gesicht ausbreitete, schnürte Celeste die Kehle zu. Als wäre sie direkt in Aylas Falle getappt.
»Und um Euch allen das Gegenteil davon zu beweisen, fahren wir mit dem Spiel fort. Wahrheit oder Lüge: Der König wollte einen seiner Getreuen hängen lassen, ohne einen triftigen Grund.«
»Was?«, erklang nun Yanis’ panische Stimme und er sah zu Celeste. Der Kammerdiener stand nah bei Kiah, der eine Hand auf seine Schulter gelegt hatte.
Celeste tauschte einen Blick mit Malia. In diesem Fall wussten sie beide genau, worauf Ayla anspielte. Und es war die Wahrheit.
»Malia, möchtet diesmal vielleicht Ihr auf die Frage antworten? Immerhin sprechen wir hier von Eurem Liebsten«, hallte Aylas Stimme zu ihnen herüber. Das Mondlicht ließ ihre blasse Haut unheilvoll schimmern.
»Sei still!«, zischte Malia und sah Hilfe suchend zu Celeste. Doch es gab nichts, was die Himmelstochter tun konnte. Sie wusste nicht, ob sie Aylas Worte abstreiten und damit ihre Freunde belügen oder ob sie Nathaniel ein zweites Mal mit der Wahrheit verraten sollte.
»Einige von Euch sehen mich verständnislos an. Dann möchte ich diese Geschichte aufklären: Nathaniel wollte Marco hinrichten lassen für eine Tat, die der Arme nicht begangen hat.« Aylas Stimme klang beinahe mitfühlend, als würde sie wirklich bedauern, was Marco widerfahren war.
»Aber Nate irrt sich nicht in Menschen, seine Gabe macht das unmöglich. Er sieht immer die Wahrheit«, widersprach Linnéa, doch dieser Satz löste bei Ayla nichts weiter als ein böses Lachen aus.
»Ich sehe schon, Ihr kommt selbst auf den Kern der Sache. Was ist schon ein König ohne Gottesgabe?«, fragte die Atheos höhnisch.
»Woher willst du wissen, dass Nate sich geirrt hat? Marco hatte das Gift bei sich, mit dem man Celeste vergiftet hat«, schrie Noah ihr entgegen. Er schien seinen Halbbruder verteidigen zu wollen. Nicht wissend, dass er es damit noch schlimmer machte.
»Oh, wenn das alles ist. Das ist schnell geklärt: Ich habe Celestes Badewasser vergiftet.«
Celeste erstarrte, während sie hörte, wie ihre Freunde scharf Luft holten. Das Blut in ihren Ohren rauschte und mit einem Mal war sie wieder unter Wasser. Spürte das Gift, das von ihrem Körper Besitz ergriff, und die Wassermassen, die über ihrem Kopf zusammenschlugen. Sie rang nach Atem, zwang ihre Lungen zu arbeiten. So lange hatte sie den Schuldigen finden wollen, hatte immer vermutet, dass es eine Handlung der Atheos war. Und sie hatte recht behalten. Doch nun zu erfahren, wer in Person hinter dem Attentat auf sie gesteckt hatte, riss ihr den Boden unter den Füßen weg.
»Du hast was?«, fragte Celeste mit zitternder Stimme.
Ayla zuckte mit den Schultern und sah die Priesterin entschuldigend an.
»Ihr standet meiner Schwester im Weg. Doch Ihr habt überlebt, also ist alles gut ausgegangen.«
Sollte das etwa eine Entschuldigung sein? Ayla hatte sie töten wollen und so, wie es schien, war das noch immer ihr Plan.
Da löste sich ein Brüllen aus Kiahs Brust und er trat einige Schritte auf Ayla zu.
»Du Miststück hast versucht, sie umzubringen!«
»Das kann ich nicht abstreiten.« Ayla betrachtete gelangweilt ihre Fingernägel und schenkte Kiah keinerlei Beachtung.
Celeste griff nach Yanis’ Hand, der nun direkt neben ihr stand. Er war die einzige Stütze, die sie davon abhielt, in die Knie zu gehen. Sie befanden sich erneut in der Gewalt ihrer Feinde. Blind waren sie in die Falle getappt. Schon wieder.
»Du bist wahnsinnig«, wisperte Malia.
Ayla schien sich davon nicht beirren zu lassen. »Ansichtssache, wenn Ihr mich fragt. Aber machen wir doch weiter. Wahrheit oder Lüge: Der König hat Schulden eingetrieben für einen Mann namens Mic und dabei ist er nicht sehr zimperlich gewesen.«
Woher wusste sie das alles? Celestes Augen weiteten sich bei der Erwähnung von Nates altem Arbeitgeber. Woher kannte Ayla Mic? Die Priesterin sah unsicher zu ihren Freunden. Sie wussten nicht, worauf Ayla hinauswollte. Celeste hingegen schon, aber sie schwieg.
»Kennt keiner von Euch die Antwort?«, wollte Ayla wissen und sah in die Runde.
»Schade, vermutlich hätte ich Lord Karim diese Frage stellen müssen. Er hat es am eigenen Leib erfahren.«
Ayla zog nun eines der Messer aus ihrem Gürtel und betrachtete die Klinge, die im Schein der Kerzen glänzte. Sie war scharf.
»Was hat mein Vater damit zu tun?«, verlangte Noah zu wissen. Ihm waren der Zorn und die Verwirrung anzusehen.
»Er hat Mics Dienste in Anspruch genommen und auch wenn Nate nicht persönlich bei deinem Vater war, er hätte es gewesen sein können. Die Methode bleibt dieselbe.« Demonstrativ strich sie mit den Fingern über die Klinge. Ein kleiner Blutstropfen rann aus ihrer Fingerkuppe und lief an der Schneide des Messers hinab.
Celeste wurde bei diesem Anblick schlecht. Wahnsinn lag in Aylas Augen und ihre Aura bestätigte das.
»Wo ist Nate?«, fragte sie erneut, diesmal zögernd. Sie betete zu allen Göttern, dass er in Sicherheit war.
Ayla bedachte sie mit einem grimmigen Gesichtsausdruck.
»Da, wo er hingehört: Bei meiner Schwester.«
Diese Worte waren wie ein Peitschenhieb, der Celeste durch und durch ging. Sie zuckte zusammen. Ayla grinste bei diesem Anblick.
»Kommen wir zur letzten Frage, bevor wir den Ehrengast zu uns bitten. Wahrheit oder Lüge: Der König von Sirion ist ein Mörder.«
Ein Keuchen ging durch den Raum. Ohne dass sie es wollte, begann ihre Gabe Celeste mit einem Mal die Auren ihrer Freunde zu offenbaren. Verwirrung, Angst, Zorn, Unsicherheit, Trauer – alles schoss auf Celeste ein. In ihrem Kopf drehte es sich, ihr wurde schwindelig, sie fühlte sich von den Informationen wie erschlagen. Der Druck auf ihrer Brust wurde stärker und hinter ihren Augen breiteten sich die ersten Anzeichen für stechende Kopfschmerzen aus. Bald wusste sie nicht mehr, welche ihre eigenen Gefühle waren und welche die ihrer Freunde. Aber sie musste doch einen kühlen Kopf bewahren!
Linnéa war die Erste, die die Stille durchbrach.
»Du bist nicht bei Trost, Ayla. Nate könnte niemals jemanden ermorden.« Malia, Kiah und Elio nickten zustimmend. Yanis wirkte wie in Trance und schien zu keiner Regung mehr fähig zu sein. Noah wirkte so, als würde er Ayla am liebsten an die Kehle gehen.
»Seid ihr Euch da so sicher?«, fragte Ayla und bedachte Linnéa mit einem amüsierten Ausdruck in den Augen.
»Natürlich!«, schrie die Tochter des Waldes ihr nun entgegen.
Ayla lachte leise. »Ihr vielleicht, aber in Euren Augen sehe ich den Zweifel.« Celeste musste den Blick nicht heben, um zu wissen, dass Ayla sie meinte. Sie spürte den Blick der eisblauen Augen auf sich ruhen.
Doch die Priesterin schüttelte langsam den Kopf.
»Er mag in seiner Vergangenheit schlimme Dinge getan haben, aber er ist kein Mörder.« Ihre Stimme klang nicht halb so entschlossen, wie Celeste es beabsichtigt hatte. Vielmehr glich der Ton einem Flehen, das nicht erhört werden würde.
Ayla strich sich durch die dunklen Haare. Sie schien die Ruhe selbst zu sein. Als hätte sie alles unter Kontrolle. Aber was sollten sie auch gegen sie ausrichten? Ayla war bewaffnet. Die Männer vor der Tür waren bewaffnet und keiner von ihnen wusste, wie viele Atheos sich noch im Tempel aufhielten.
»Habt Ihr Euch denn nie gefragt, was mit Mic passiert ist? Wieso hätte einer der meistgesuchten Verbrecher des Landes Nate einfach so ziehen lassen sollen?«
Celeste sah Ayla an. Ihre Kehle wurde eng und sie spürte die Tränen, sie sich in ihren Augen sammelten. Sie erinnerte sich genau an den Tag zurück, als sie mit Nate aus dem samarischen Palast in die Nacht hinaus geflohen war. Wie sie das Versteck der Verbrecher aufgesucht hatten. Nate hatte gewollt, dass Celeste auf ihn wartete, dass er allein ging, und sie hatte dieser Bitte nachgegeben. Die Sache mit Mic war in jener Nacht ein für alle Mal geklärt worden. Das hatte Nate ihr versichert. Doch Celeste hatte nie nachgefragt, auf welche Weise Nate es beendet hatte.
»Das ist nicht wahr«, hauchte Celeste. Weil sie selbst so unbedingt wollte, dass es nicht stimmte. Niemals hätte Nate einfach so einen Menschen töten können. Aylas Worte mussten eine Lüge sein!
Ayla lächelte. Dann schaute sie auf einen schwarzen Vorgang, der eine der Wände bedeckte.
»Fragen wir ihn doch selbst. Nathaniel, möchtest du uns vielleicht die Antwort darauf geben? Bist du ein Mörder, ja oder nein?«
Der Vorgang wurde wie auf Kommando beiseitegerissen und Nate von zwei Männern in den Raum geführt. Celeste entfuhr ein entsetzter Aufschrei. An Nates Stirn klebte Blut und er wehrte sich gegen die Griffe der Männer. Sein Blick wanderte wild und unstet umher und blieb dann an Ayla hängen.
»Du widerliches Miststück!«, fauchte Nate sie an. Er stemmte sich gegen die Männer, doch er hatte keine Chance. Beide waren kräftig und hielten ihn mit Leichtigkeit im Zaum.
»Das war die falsche Antwort«, betonte Ayla und ging dann auf Nate zu, der vor ihren Füßen auf die Knie gestoßen wurde. Sie griff in sein dunkelblondes Haar und zog seinen Kopf zu sich herauf. Dann schob sie seinen Kopf herum, sodass sein Blick auf Celeste und die anderen fiel.
»Erzähl deinen Freunden, wer du wirklich bist. Wenn ich dich ansehe, sehe ich keinen König. Ich sehe einen Dieb, einen Schläger, einen Verräter und einen Mörder. Oder willst du all diese Dinge leugnen, großer König?« Das letzte Wort spie sie ihm entgegen wie eine Beleidung.
Nate riss sich von ihrem Griff los. Purer Zorn schien in seinen Augen aufzulodern, doch Celeste wusste es besser. Sie erkannte dahinter die Panik in den grünen Iriden. Die Panik, dass sie die Wahrheit kannten.
»Rede keinen Unsinn, Ayla! Was bezweckst du damit?«
Die Zofe zuckte nur mit den Schultern.
»Leugne es ruhig. Doch wir wissen beide, dass ich recht habe. Und deine Freunde wissen es jetzt auch, glaube ich.« Ein diabolisches Lächeln umspielte ihre vollen Lippen.
Angsterfüllt sah Nate zu Celeste, die ihn einfach nur anstarrte. Sie war wie versteinert. Ihr Blick ruhte auf Nate, sie sah ihn kopfschüttelnd an.
»Halt endlich den Mund!«, zischte Nate Ayla zu. Doch sein Blick hielt weiterhin dem von Celeste stand. Die Priesterin wusste nicht, was sich Nate erhoffte, in ihren Augen zu finden. Sie wusste nur, dass er ihre Tränen sah.
»Warum denn so mürrisch?«, fragte Ayla amüsiert. »Es ist doch deine eigene Schuld, Nate. Geheimnisse sind nicht bloß Geheimnisse. Sie sind Waffen. Man verwahrt sie, bis der richtige Zeitpunkt gekommen ist, um sie einzusetzen. Und wie es das Schicksal will, kenne ich jedes deiner kleinen, schmutzigen Geheimnisse. Du bist in der Vergangenheit nicht sehr sorgfältig mit Mitwissern umgegangen. Das gerät dir nun zum Nachteil. Ich frage mich, was deine Freunde jetzt wohl von dir halten mögen. Werden sie immer noch an deiner Seite stehen?«
Stille erdrückte den Raum. Jeder schien den Atem anzuhalten. Es war wie ein Albtraum, aus dem man sehnlichst erwachen wollte. Doch man träumte immer weiter.
Plötzlich: von draußen ein Schrei. Laute, aggressive Geräusche ertönten. Der Klang von Stahl, der auf anderen Stahl traf. Rufe waren zu hören und die Ruhe fiel von Ayla ab.
»Was zum …?«, fragte sie und trat auf die Türen zu, vor denen sich die beiden Wachen in Angriffsposition begaben.
Celeste rührte sich nicht, sie spürte die Anwesenheit ihrer Freunde, doch sie konnte nur vor sich hinstarren.
»Was ist da draußen los?«, drang Malias leise Stimme an ihr Ohr.
»Klingt, als würde jemand kämpfen«, kam es von Noah.
Ayla holte auch das zweite Messer aus ihrem Gürtel hervor und schritt rasch an ihnen vorbei. Sie öffnete die Türen und wandte sich an die Soldaten davor:
»Bewacht den König, ich werde nachsehen.« Die beiden Wachposten betraten den Raum und flankierten die Priesterinnen und Höflinge.
Dann erklang ein lautes Poltern. Celeste und ihre Freunde sahen, wie die schweren Türen des Tempels aufgestoßen wurden und Nike mit einem Dutzend königlicher Soldaten den Tempel betrat. Sie alle hielten Schwerter in den Händen und stürmten auf den kleinen Raum zu, in dem sich die Priesterinnen, der König und seine Höflinge befanden.
»Lasst sofort die Gotteskinder und ihr Gefolge frei!«, erklang der Befehl der königlichen Leibwache.
Ayla zischte. »Ich hätte dich gestern Nacht schon töten lassen sollen.« Sie stellte sich Nike in den Weg und hob ihre Hände mit den beiden Messern. Ayla war bereit zu kämpfen, mit jeder Faser ihres Körpers, das konnte Celeste sehen.
Nike rümpfte die Nase und zielte mit der Spitze ihres Schwertes auf Ayla.
»Dasselbe wollte ich gerade zu Euch sagen. Habt Ihr wirklich geglaubt, wir hätten Euer Spiel nicht durchschaut?«
Aylas Augen wurden schmal. Doch bevor sie etwas erwidern konnte, musste sie bereits Nikes Angriff parieren. Die Frauen begangen zu kämpfen, während die beiden Wachen versuchten, sich gegen die königlichen Soldaten zu behaupten.
»Befreit die Höflinge und die Priesterinnen, ich kümmere mich um den König«, befahl Nike und drosch unaufhörlich auf Ayla ein, die jedoch jeden Schlag mit ihren Messern abfing.
Celeste beobachtete fassungslos das Schauspiel. Es gelang ihr nur schwer, ihren Kopf abzuwenden. Da entdeckte sie Karim und Adrian, die eilig auf sie zukamen, während die Soldaten der königlichen Armee die Wachposten in Schach hielten. Wie in Trance reichte Celeste ihnen ihre Hand und wurde aus dem Tempel gebracht. In ihren Ohren nur noch Stahl auf Stahl und ihr eigener rasender Herzschlag. Jetzt roch sie den Qualm, der von den umliegenden Häusern aufstieg. Es war wie damals. Im Palast von Silvina, als die Atheos sie angegriffen hatten.
Adrian zog sie erbarmungslos mit sich. Celeste konnte nur vermuten, dass ihre Freunde ihnen folgten. Sie war noch immer wie gelähmt. Wie eine Puppe, die willenlos mitgeschleift wurde.
»Stimmt es, dass sie die Insel umstellt haben?«, hörte Celeste Nathaniels Stimme hinter sich. Er war bei ihnen. Den Göttern sei Dank! Er war in Sicherheit. Falls man das behaupten konnte.
»Leider ja, Eure Majestät. Sie haben eine abgelegene und unbewachte Bucht aufgespürt, um anzulegen. Doch wir haben bereits nach Verstärkung vom Festland geschickt: Nike hat noch gestern Nacht einen Raben entsandt.« Es war Karim, der Nathaniels Frage beantwortete. Celeste war unfähig, etwas zu erwidern, sie hörte lediglich zu. Spürte den festen Griff von Adrians Händen um ihre Taille, der sie weitertrieb.
»Nike?« Das Erstaunen war aus Nates Stimme herauszuhören.
»Ihr seid nicht so gut im Täuschen, wie Ihr glaubt.« Celeste sah, wie Karim mit einem grimmigen Lächeln im Gesicht den Kopf schüttelte. Sie hatte keine Ahnung, worauf der Lord anspielte. Aber Nate schien ihn verstanden zu haben, denn er nickte bloß und sah zu Boden.
Sie ließen das Dorf hinter sich, das wie ausgestorben vor ihnen lag. Wo waren die Ordensanhänger von Sohalia? Wo waren Zahira und Selena? Und noch viel wichtiger: Wo waren Simea und Makena? Hatten die Atheos sie bereits in ihrer Gewalt?
»Wir haben Glück, dass ihre Schiffe keine Kriegsschiffe und daher nicht bewaffnet sind. Schaffen wir es ungehindert ans Deck unserer Schiffe, sind wir klar im Vorteil.« Adrians Worte sickerten langsam in Celestes Bewusstsein durch und sie fand endlich ihre Stimme wieder.
»Wo sind die Zofen und Septas? Wo ist das restliche Gefolge?« Ohne Makena und Simea würde sie diese Insel nicht verlassen. Sie musste wissen, dass die beiden wichtigsten Menschen in ihrem Leben in Sicherheit waren.
Karim sah sie an und half mit der freien Hand Linnéa, den steilen Pfad zu betreten, der hinab zum Hafen führte. Es war ein langer Weg, doch ohne Gepäck und weiteren Ballast würden sie schnell vorankommen.
»Emirs Neffe hat sie bereits sicher an Deck gebracht«, verkündete Lord Karim.
»Marco?«, ertönte Malias hoffnungsvolle, aber ungläubige Stimme.
Der Lord nickte. »Nike stand offenbar in Kontakt mit ihm.« Celeste spürte, wie Karim sie eindringlich ansah.
Es stimmte: Celeste war von Marcos Erscheinen keinesfalls überrascht. Schließlich hatte sie höchstpersönlich im Vorfeld dafür gesorgt, dass Nike Marco finden würde, sobald sie in Gefahr schwebten. Celestes Misstrauen gegenüber Selena war zwar unbegründet gewesen, doch sie hatte trotzdem recht behalten, misstrauisch gegenüber dem Mondvolk zu sein.
So hatte auf ihren Befehl hin Marco bei ihrem Aufbruch nach Sohalia seinen Unterschlupf in Nebula verlassen und sich an den Küsten Sirenas bereitgehalten. Die Priesterin hatte außerdem klug dafür gesorgt, dass Marco Hilfe würde schicken können und also nicht allein war. Dafür hatte sie Lord Emir in ihr Vertrauen ziehen müssen. Der Admiral hatte ihr nur zu gern geglaubt, was die Unschuld seines Neffen betraf, und sofort eine Legion seiner Armee, die dem Admiral blind vertraute, unter Marcos Kommando abgestellt.
Jetzt wurde es höchste Zeit, dass sie von dieser Insel verschwanden. Sie kannten die genauen Pläne der Atheos nicht, doch Celeste zweifelte keine Sekunde daran, dass Ayla sie töten würde, wenn sie sie wieder in ihre Finger bekäme.
***
Der Marsch zurück zum Hafen war über den schmalen, steinernen Weg tatsächlich nicht leicht zu bewältigen. Doch sie schafften es. Der Steg, der sie zu dem Schiff führen würde, mit dem sie hergekommen waren, lag leer vor ihnen, zu den Seiten brannten Fackeln. In der angrenzenden kleinen Bucht aber war das Aufeinandertreffen von Stahl zu hören. Ein Kanonenschuss durchbrach die Stille der Nacht. Die Atheos waren zur königlichen Flotte vorgedrungen und wollten verhindern, dass die Gotteskinder mit ihr die Insel verließen.
Kurz bevor sie den Steg betraten, hörten sie jemanden kommen. Die kleine Truppe versteckte sich rasch hinter einigen Bäumen und beobachtete erschreckt, wie eine Handvoll Atheos den Steg betrat. Nike und die Soldaten, die zu ihrer Befreiung beigetragen hatten, waren mittlerweile zu ihnen aufgeschlossen. Was mit Ayla und ihren Anhängern geschehen war, wusste Celeste nicht. Doch sie wagte zu bezweifeln, dass Ayla aufgegeben hatte und besiegt war.
Die Soldaten der königlichen Armee, die ihr Schiff bewachten, versuchten jetzt vehement, die Atheos davon abzuhalten, das Schiff zu betreten. Es würde nicht leicht sein, an Deck zu gelangen …
»Wartet hier, wir kümmern uns darum.« Nike gab einen stummen Befehl an die Soldaten, die sich ihr sofort anschlossen. Die Atheos, die nun den Steg bewachten, mussten aus dem Weg geräumt werden.
Celeste starrte auf ihre zitternden Hände. Sie hatte noch Schwierigkeiten zu sortieren, was in den letzten Stunden alles geschehen war. Wie schnell sich die Situation gewandelt hatte und zu diesem Albtraum geworden war. Sie sah die Atheos und hörte die Geräusche eines Kampfes, doch ihr Verstand weigerte sich, die Realität zu verstehen.
»Celeste …«, erklang eine Stimme neben ihr. Die Priesterin riss den Kopf hoch. Sie sah in Nates grünen Augen, die flehend auf ihr lagen.
Sie schüttelte den Kopf. Für ein klärendes Gespräch war sie nicht in der richtigen Verfassung.
»Ich will nichts davon hören.« Nicht, wenn aus seinem Mund weiterhin nur Lügen kamen.
Nate trat auf sie zu. Celeste konnte seinen Atem auf ihrem Gesicht spüren.
»Bitte, lass es mich erklären.« Seine Stimme war leise, sodass keiner außer Celeste sie hören konnte.
Celeste sah ihn an. Sie war mit ihrer Kraft am Ende.
»Was willst du mir erklären? Dass Ayla gelogen hat und du Mic nicht ermordet hast?« Das war das Einzige, was Celeste in diesem Moment von ihm hören wollte. Dass Ayla nur Lügen erzählt hatte. Aber Celeste wusste es besser. Sie hatte die Aura von Ayla gesehen. Sie wusste, dass sie keine Lügnerin war.
Nate biss sich auf die Unterlippe und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare.
»Doch, doch, das habe ich. Ich habe Mic getötet«, gestand er leise.
»Was?«, brachte Celeste gerade so heraus. Ihre Welt begann zu wanken. Eine unsichtbare Klinge stieß in ihr Herz und Kälte breitete sich in ihren Knochen aus. Sie war dabei gewesen. Gemeinsam mit Nathaniel hatte sie das Versteck von Mic und seinen Anhängern aufgesucht, um Nates Schulden zu begleichen. Damals hatte er ihr versichert, dass es keine Probleme gegeben habe. Doch das hatte nicht gestimmt.
»Du hast mich angelogen«, flüsterte sie tonlos. Diese Erkenntnis war beinahe schlimmer als die Tatsache, dass er gerade einen Mord gestanden hatte.
»Ich weiß. Aber du musst mir jetzt vertrauen, bitte. Ich habe einen Plan.« Eindringlich sah er zu ihr herab. Doch Celeste schüttelte nur den Kopf.
»Dir vertrauen? Wie soll das gehen? Ich habe das Gefühl, dich überhaupt nicht zu kennen. Alles, was ich wusste, war eine Lüge. Du hast von Anfang an gelogen.«
Sie sah ihn jetzt mit anderen Augen. Vor ihr stand wieder der Mann, der ihr in den Straßen von Samara aufgelauert hatte und sie bestehlen wollte. Celeste sah die Rücksichtslosigkeit und den Zorn in Nates grünen Augen. Es war genau wie damals.
Nate streckte die Hand nach ihr aus, doch Celeste wich zurück. Er biss die Zähne zusammen und ließ seine Hand wieder sinken.
»Ja, ich habe dich angelogen. Ich habe dich die ganze Zeit über angelogen, was Mic betraf, und ich verschweige dir immer noch Dinge aus meiner Vergangenheit. Aber ich lüge nur, weil ich weiß, dass du die Wahrheit nicht verkraften würdest. Ich bin nun ein anderer Mensch, ich habe das hinter mir gelassen. Meine Vergangenheit hat nichts mehr mit meinem Leben zu tun oder mit dir, mit uns.«
Seine Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht.
»Das ist nicht deine alleinige Entscheidung. Du hast kein Recht zu entscheiden, womit ich fertig werde und womit nicht. Diese Entscheidung habe einzig und allein ich zu treffen.« Ihre Stimme zitterte vor Wut und vor Schmerz. »Zudem siehst du gerade mit eigenen Augen, wie sehr deine Vergangenheit noch etwas mit der Gegenwart zu tun und wohin sie uns alle gebracht hat.«
Nate wollte etwas erwidern, doch da durchbrach ein weiterer Kanonenschuss die Nacht. Sein Kopf fuhr hoch und Celeste folgte seinem Blick. Weitere Atheos tauchten auf dem Steg auf. Sie mussten von der angrenzenden Bucht gekommen sein. Wie viele von ihnen waren hier?
Doch der Kampf auf dem Schiff schien wenigstens gewonnen zu sein, denn jetzt löste sich Espen mit einem kleinen Trupp Soldaten von Deck und kam auf den Steg gelaufen. Sie kämpften nun von zwei Fronten auf dem schmalen Steg gegen die Atheos. Nike und ihre Soldaten griffen von vorne an, Espen und sein Gefolge von hinten. Die Atheos hatten keine Chance.
Ein spitzer Schrei ertönte, bei dem Celeste zusammenzuckte. Es war der Schrei einer Frau, Aber wer genau geschrien hatte, wusste die Priesterin nicht. Adrian und Karim gaben ihnen zu verstehen, sich dem Steg zu nähern und damit dem rettenden Schiff. Von hier aus konnten sie einen Blick in die Bucht werfen. Celeste erkannte einige Ordensschwestern der Insel, die gegen die Atheos kämpften. Also waren nicht alle von ihnen auf Aylas Seite und den Göttern sei Dank im Kampf geübter als die Ordensschwestern vom Festland. Mit Entsetzen entdeckte sie plötzlich Mara, Malias Mentorin und Septa von Sirena, sowie Zahira unter den Kämpfenden. Sie schienen sich für den Moment gegen die Verräter behaupten zu können, aber lange würden sie gegen die Angreifer nicht bestehen können.
Celeste hörte Nate fluchen. Und sie hörte das Wimmern, das aus Malias Kehle drang, als auch sie Mara erblickt hatte.
Da tauchte Espen mit einigen Soldaten vor ihnen auf. Sein Blick glitt erst zu Celeste, dann zu Nate.
»Der Weg ist nun frei, mein König. Wir müssen Euch und die Priesterinnen sofort von hier wegbringen.«
Nate nickte. Celeste spürte, wie sich seine Finger um ihren Oberarm schlossen.
»Bring sie an Deck«, sagte er mit fester Stimme.
Verwirrt sah Espen Nate an und auch Celeste war irritiert. Was hatte Nate vor? Sie sah dabei zu, wie der König ein Schwert von einem der Soldaten entgegennahm.
»Aber mein König …«, setzte Espen an, der Nates Vorhaben zu durchschauen schien.
Mit einem Funkeln in den Augen fuhr Nate zu dem Leibwächter herum.
»Tut, was ich sage! Ihr seid für ihren Schutz verantwortlich.« Mit einer Kopfbewegung deutete Nate auf Celeste, die er daraufhin unsanft in Espens Arme schubste. Der Soldat fing sie auf.
»Wie Ihr wünscht.« Espen nickte Nate zu und gab den Befehl, die Priesterinnen und Höflinge an Deck zu bringen.
Als Espen Celeste Richtung Schiff führen wollte, stemmte sie sich gegen seinen Griff.
»Nein, ich gehe nicht ohne dich«, donnerte ihre Stimme über den Steg. Egal, wie enttäuscht sie von Nate war, egal, wie sehr er sie mit seinen Lügen verletzt und hintergangen hatte, egal, wie fremd er ihr gerade vorkam, Celeste würde nicht ohne ihn diese Insel verlassen. Würde ihn niemals verlassen. Sie liebte ihn.
Nate sah sie lange an. Bedauern lag in seinem Blick.
»Du musst mir noch dieses eine Mal vertrauen, Kätzchen. Ich weiß genau, was ich tue. Ich werden sie aufhalten und Zahira und Mara zu Hilfe eilen.« Er machte eine Pause, atmete einmal tief ein und fügte dann an: »Und danach werde ich mich Ayla ergeben.« Celeste entfuhr ein spitzer, wenn auch leiser Schrei. War er von allen guten Geistern verlassen?
»Nur so kann ich herausfinden, was sie vorhat. Ich verspreche dir: Mir wird nichts passieren.« Nate klang ganz ruhig und mehr als entschlossen. Celeste konnte diese Entschlossenheit nicht teilen. Sie waren mit Espen die Einzigen, die noch nicht an Deck waren. Espen hatte ihre Unterhaltung mit angehört.
»Das ist Wahnsinn«, widersprach Celeste und wollte auf Nate zugehen, doch Espen hinderte sie daran. Sein Griff war erbarmungslos.
»Sie wird dich umbringen«, stammelte Celeste, völlig wehrlos. Allein der Gedanke daran trieb ihr die Tränen in die Augen.
Doch Nate schüttelte den Kopf. Seine grünen Augen blitzten auf. »Das wird sie nicht.«
»Wieso bist du dir da so sicher?«
Ein zaghaftes Lächeln umspielte seine Lippen.
»Ich kenne sie. Sie ist wie ich. Und man tötet niemanden, der einem lebend mehr Nutzen bringt.«
Aus ihm sprach wieder der Verbrecher, der alles tat, um das zu bekommen, was er haben wollte. Doch vielleicht war es genau das, was Nate das Leben retten würde. Ein König konnte in dieser Situation nicht viel bewirken. Es benötigte die Rücksichtlosigkeit eines Söldners.
»Nate …«, setzte Celeste ein letztes Mal an und schüttelte den Kopf. Er durfte nicht hierbleiben. Sie durften sich nicht trennen. Das würde sie nicht ertragen.
»Kätzchen, bitte. Vertrau mir.«
Es klang wie eine harmlose Bitte. Doch nach all dem, was Celeste heute erfahren hatte, verlangte es ihr mehr ab, als sie geben konnte. Ihr Vertrauen in Nathaniel war in seinen Grundfesten erschüttert.
Ein Schluchzen drang aus ihrer Kehle, als sie die Entschlossenheit in seinen Augen sah. Egal, was sie sagen oder tun würde, Nate würde seine Meinung nicht ändern. Der König von Sirion würde sich in die Fänge der Feinde begeben, um sie von innen heraus zu bekämpfen.
Sie riss sich von Espen los, der sie aufhalten wollte, doch diesmal war Celeste schneller. Sie lief auf Nathaniel zu und warf sich in seine Arme. Er fing sie auf und zog sie dicht an sich heran. Celeste umfing sein Gesicht mit beiden Händen und sah ihn eindringlich an.
»Versprich mir, dass du lebend zurückkommst. Bitte, versprich mir nur das.« Ohne dieses Versprechen würde nicht einmal Espen sie von hier wegbringen können.
Nathaniel sah sie nur an, sagte aber nichts. Celestes Unterlippe bebte und sie zog seinen Kopf zu sich herunter. Hemmungslos presste sie ihre Lippen auf seine. Ihr Verstand begriff, dass sie ihn gehen lassen musste, doch ihr Herz sah das ganz anders. Der Kuss war nicht sanft, er war verzweifelt. Es war ein Abschiedskuss.
Als sie sich von ihm löste, breitete sich ein vertrautes Grinsen auf dem Gesicht des Königs aus und er hob sein Schwert.
»Ich komme zurück, sobald ich die Pläne der Atheos kenne, versprochen!«
Er trat von Celeste zurück und ohne, dass sie noch etwas auf seine Worte hätte erwidern können, zog Espen sie mit sich. Fort von der Insel Sohalia und fort von Nathaniel, der vielleicht dabei war, seinem sicheren Tod ins Auge zu blicken.