Chandra – vor 250 Jahren
Sie hatte immer gewusst, dass sie kein umgänglicher Mensch war. Sie hatte ihren eigenen Kopf und eckte bei vielen damit an. Am liebsten war sie allein oder träumte vor sich hin. Die einzige Gesellschaft, die Chandra mochte und bereitwillig akzeptierte, war die von Lucian. Doch nun war sie gezwungen, ihn zu teilen. Nicht nur mit den drei Priesterinnen, die sich um ihn scharrten wie verliebte Hennen, sondern auch mit der gesamten Bevölkerung von Sirion, die ihren zukünftigen König kennenlernen wollte. Am Anfang hatte Chandra verstehen können, dass Lucian Pflichten zu erfüllen und nur wenig Zeit für sie hatte. Doch mit jedem Tag, den sie auf Reisen waren, schwand ihr Verständnis.
»Da ist schon wieder diese tiefe Falte auf deiner Stirn«, erklang eine amüsierte Stimme über ihr.
Mit zusammengekniffenen Augen sah sie zu ihrem besten Freund auf. Sie weilten nun schon seit einigen Wochen in Silvina, der Heimat von Alissa. Und Chandra kam es so vor, als verbringe Lucian jede freie Minute mit der Tochter des Waldes. Das gefiel ihr ganz und gar nicht.
»Hat Goldlöckchen genug von dir oder was willst du hier?« Chandra biss sich auf die Zunge. Eigentlich hatte sie gar nicht so zickig reagieren wollen, doch es war einfach so über sie gekommen. Immer, wenn sie die Tochter des Waldes an seiner Seite sah, floss Eifersucht durch ihre Adern wie Gift.
Lucian wollte sich gerade neben sie auf die Wiese setzen, stockte jedoch mitten in der Bewegung.
»Warum bist du so schlechter Laune?« Sein Tonfall verriet, dass ihre Frage ihn verletzt hatte.
Chandra schnaubte. Das fragte er noch? Mit großer Mühe versuchte sie Herrin über ihre Gefühle zu werden. Missmutig ballte sie ihre Hände zu Fäusten.
»Seit du deinen Fuß in den solarischen Palast gesetzt hast und wir aufgebrochen sind, damit du die anderen Provinzen kennenlernst, beachtest du mich überhaupt nicht mehr.« Das Gefühl des Verlustes war ihr bis dato fremd gewesen. Doch immer, wenn Lucian keine Zeit für sie hatte, ergriff es Besitz von ihr und pumpte Bitterkeit durch ihre Venen. Und das war eindeutig zu oft.
Ihr bester Freund setzte sich nun doch neben sie und rupfte einige Grashalme aus, die er durch seine Finger rieseln ließ.
»Es tut mir leid, wenn du dich vernachlässigst fühlst, Chandra. Aber diese Reise dient dazu, dass ich mein Land kennenlerne und auch die anderen Priesterinnen. Das alles ist auch neu für mich. Auch ich bin mit der Situation überfordert. Man verlangt von mir, eine Braut auszuwählen, während ich lerne, ein Königreich zu regieren. Das ist verrückt!«
Chandra betrachtete ihn aus den Augenwinkeln. Auf sie hatte es bisher nicht den Eindruck gemacht, als würde er sich beschweren. Spielend meisterte er die Aufgaben, die König Juri ihm stellte, und auch der Unterricht bei den Beratern des Königs absolvierte Lucian ohne Tadel.
»Mir scheint eher, als würdest du mit deinen neuen Pflichten sehr gut zurechtkommen«, brummte sie. Jeder sprach bereits davon, was für ein hervorragender König er sein würde. Nur bei der Frage nach seiner Königin schieden sich die Geister. Chandra hasste diese Spekulationen. Egal, wohin sie auch kamen, die Menschen wetteten darauf, wen er zu seiner Braut erwählen würde.
Lucian warf ihr einen bösen Blick zu.
»Ja, weil ich mich reinhänge. Ich verbringe sehr viel Zeit mit Lernen, weil ich meine Sache gut machen möchte.« Der Ausdruck in seinen blauen Augen wurde weicher.
»Du bist dabei auf der Strecke geblieben, das tut mir leid.«
Die Priesterin erwiderte nichts darauf. Sie war die Einzige, die er vernachlässigte. Für die anderen Priesterinnen, besonders für Alissa, hatte er reichlich Zeit. Immer, wenn sie nach Lucian suchte, fand sie ihn sofort an ihrer Seite.
Dass er viel Zeit mit Lernen verbrachte, störte sie gar nicht. Sie war sogar stolz auf ihn. Lucian war der Sohn des Baumeisters auf Sohalia. Er war zwar harte Arbeit gewohnt, doch die Pflichten eines Königs waren ihm vollkommen fremd. Was sie störte, war, dass er nichts mehr mit ihr teilte. Weder seine freie Zeit noch seine Gedanken.
»Chandra? Sag doch etwas.« In seiner Stimme lag ein Flehen, welches die Priesterin beinahe weich werden ließ. Mit der Schulter stieß er sie sanft an. Ihr Mundwinkel zuckte verräterisch.
»Du scheinst dir für jeden Zeit zu nehmen, nur für mich nicht«, gestand sie dann. Ihre Worte waren nicht mehr als ein Flüstern und es verlangte ihr viel ab, ihre Gefühle laut auszusprechen. Auf Sohalia war es anders gewesen. Besser. Da hatte sie Lucian mit niemandem teilen müssen. Er hatte ganz allein ihr gehört. Er war für sie da gewesen, wann immer sie ihn gebraucht hatte. Und sie für ihn.
Lucian stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Das liegt daran, dass ich die anderen Priesterinnen kennenlernen muss. Eine von ihnen wird meine zukünftige Frau sein, eine Tatsache, an die mich Juris Berater ständig erinnern.« Er raufte sich die Haare und Chandra sah ihm an, dass ihm dieses Thema nicht behagte. Doch Lucians Blick lag auf den satten, grünen Felder, die sich neben dem Palast erstreckten. Der Sturm in seinen Augen blieb ihr verborgen.
»Ich will niemanden ehelichen, den ich kaum kenne«, flüsterte er dann.
Bei dem Wort »ehelichen« stieg Chandra bittere Galle empor. Er dachte bereits ans Heiraten? Jetzt schon? Sie waren doch gerade einmal einen Monat unterwegs.
»Also verbringst du Zeit mit ihnen, um sie kennenzulernen, und mich ignorierst du, weil wir uns bereits seit frühester Kindheit kennen?« Das war nicht fair. Sie waren doch beste Freunde. Wenn er Bedenken oder Ängste bezüglich seines Amtes hatte, sollte er sie mit ihr teilen. Trotzig verschränkte Chandra die Arme vor der Brust.
Lucian warf ihr einen Seitenblick zu.
»Fändest du es nicht seltsam, wenn ich mit dir über die anderen Priesterinnen sprechen würde? Wir sind beste Freunde, aber wir haben noch nie über solche Themen geredet.«
»Solche Themen?«
Verlegen fuhr der Sohn der Sonne sich durchs Haar.
»Über Liebe und Gefühle«, sagte er dann zögerlich. Ein aufgesetztes Lachen verließ seine Kehle.
»Ich meine, du bist auch noch nie zu mir gekommen, um von einem Jungen zu schwärmen, und ich sage dir nicht, wenn mir ein Mädchen gefällt. Solche Themen hatten in unserer Freundschaft bisher keinen Platz. Und jetzt ist es noch seltsamer geworden, findest du nicht?«
Er sah sie an. Seine blauen Augen unterschieden sich kaum vom Blau des Himmels. Chandra dachte über seine Worte nach. Warum hätte sie vor ihm von einem anderen Jungen schwärmen sollen? Für sie gab es immer nur ihn. Und bis jetzt hatte sie nicht einmal geahnt, dass ihm jemals ein anderes Mädchen gefallen hatte. War sie so blind gewesen all die Jahre?
»Gefällt dir denn eine der Priesterinnen?«, stellte sie die Frage und bereute es noch im selben Moment. Chandra wollte es gar nicht wissen. Wenn er bereits Gefühle für eine andere hatte, würde sie ihn verlieren. Und das war das eine auf der Welt, was sie niemals verkraften würde.
Lucian lachte leise.
»Bist du dir sicher, dass wir darüber reden sollten?«
Nein!, wollte sie am liebsten herausschreien. Aber sie tat es nicht. Sie war seine beste Freundin und nur, weil sie offenbar anders für ihn empfand als er für sie, war es nicht fair, dass sie ihn abwies. Wenn er reden wollte, dann war sie für ihn da. Auch wenn es ihr das Herz brach. Zögerlich nickte sie und versuchte ihre Gefühle hinter einer hohen Mauer zu verbergen.
Mit hochgezogener Augenbraue sah Lucian sie an. Zuckte dann jedoch mit den Schultern und begann: »Die Meerestochter ist mir etwas zu aufdringlich, wenn ich ehrlich bin.« Gedankenverloren kratzte er sich am Kinn. Chandra schmunzelte bei diesem Geständnis.
»Sora ist etwas verschlossen und ich kann sie noch nicht so gut einschätzen«, überlegte Lucian weiter laut. Chandra stimmte ihm zu. Die Priesterin von Samara war ebenso wie sie eine Einzelgängerin. An sie heranzukommen, war eine Kunst für sich.
»Und was ist mit Alissa?«, fragte Chandra zögernd. Mit ihr verbrachte Lucian mit Abstand am meisten Zeit. Und immer hatten beide dieses Grinsen auf dem Gesicht, das in Chandra den Wunsch aufkommen ließ, zu ihnen hinüberzulaufen und es der Waldtochter vom Gesicht zu kratzen.
Eine leichte Röte zog sich über Lucians Wangen und Chandra verstärkte bei diesem Anblick den Druck ihrer Fäuste. Sie spürte, wie ihre Fingernägel halbmondförmige Abdrücke auf ihren Handinnenflächen hinterließen.
»Ich mag sie«, gestand er dann. Diese drei Worte reichten aus, um Chandras Herz in Stücke zu reißen. Betreten schaute sie auf ihre Hände. Sie hatte es gewusst. So viel Zeit, wie er mit Alissa verbrachte. Die Zeichen waren nur allzu deutlich gewesen. Und doch hatte sie tief im Inneren gehofft, dass er nur seine Pflicht erfüllte, weil die Berater es von ihm erwarteten. Oder weil Lucian schlicht zu höflich war, um Alissa abzuweisen.
»Versteh mich nicht falsch, sie hat manchmal etwas seltsame Ansichten.« Abwehrend hob er die Hände und lachte leise.
»Das Festland hat nun mal in manchen Belangen einen Dachschaden, wie du weißt. Aber sie hört mir ernsthaft und aufgeschlossen zu, wenn ich versuche, ihre Sicht der Dinge zu erweitern, ihre Meinung zu ändern.«
Chandra warf ihm einen verstohlenen Blick zu. Lucians Augen strahlten heller, als sie es jemals gesehen hatte. Ein Stich fuhr direkt in ihr Herz. Schnell wandte sie ihr Gesicht ab. Sie hätte ihn nicht nach den anderen Priesterinnen fragen sollen. Das war ein Fehler gewesen. Sie hätte es besser wissen müssen.
Sanft spürte sie die Berührung seiner Finger auf ihrem Handrücken. Die Priesterin sah auf. Lucian lächelte sie zaghaft an.
»Sie ist nicht du, Chandra. Niemand ist das.« Seine Worte waren sanft und schlossen den Riss in ihrem Herzen.
»Du verstehst mich auch ohne Worte und vor dir muss ich mich nicht rechtfertigen. Deinen Platz wird niemand jemals einnehmen können. Du bist meine beste Freundin.«
Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Er hatte recht. Niemand war wie sie. Und keine der anderen Priesterinnen würde jemals ein solch enges Band zu ihm haben, wie sie es hatte. Keine konnte den Platz an seiner Seite einnehmen. Er gehörte allein ihr.
»Danke, dass du das sagst«, wisperte sie.
Lucian grinste bis über beide Ohren.
»Es ist nur die Wahrheit. Also, was machen wir heute noch Schönes?« Es war für einen kurzen Moment wie früher. Als wären sie noch auf der Mondsichelinsel und überlegten, wie sie den Tag gemeinsam verbringen sollten.
Chandra sollte sich freuen, aber das konnte sie nicht ohne Vorbehalte. In ihrem Kopf wiederholte sie immer wieder seine Worte.
Du bist meine beste Freundin.
Als zukünftiger König war er nicht auf der Suche nach einer neuen besten Freundin. Er war dabei, sich eine Braut zu suchen. Eine Frau, mit der er sein Leben verbringen würde auf eine Art und Weise, wie eine beste Freundin es nicht konnte.
Chandra biss die Zähne zusammen, während sie Lucian ansah. Sie war seine beste Freundin, dieser Platz war ihrer. Doch sie würde dafür sorgen, dass ihr auch jeglicher andere Platz an seiner Seite gehören würde. Lucian gehörte ihr. Daran durfte sich niemals etwas ändern.
***
Wie überaus passend, grummelte Chandra in Gedanken, während sie die hübsche Dekoration begutachtete, die die Tochter des Waldes sich anlässlich ihres Geburtstages ausgesucht hatte. Rosen und Lilien zierten den Raum und verbreiteten einen lieblichen Duft, der Chandra in der Nase kitzelte.
Es war die letzte Woche, die sie in Silvina verbringen würden, und ausgerechnet jetzt feierte Alissa ihren 19. Geburtstag. Als würde sich nicht ohnehin schon die ganze Welt um sie drehen, drehte sich nun auch noch Chandras Welt einzig und allein um Alissa.
Lucian hatte in den vergangenen Wochen wieder mehr Zeit mit Chandra verbracht. Doch heute hatte er nur Augen für die Waldtochter. Und Chandra verstand auch warum, abgesehen von der Tatsache, dass die andere Priesterin Geburtstag hatte. Alissa sah wunderschön aus. Ihr blondes Haar fiel ihr in Wellen über den Rücken und wurde auf dem Kopf von einem bunten Blumenkranz verziert. Sie trug ein hellrosafarbenes Kleid, das die zarte Röte ihrer Wangen hervorhob. Und die Formen ihres Körpers.
Missmutig betrachtete Chandra die Priesterin, die sich bei Lucian eingehakt hatte und mit ihm lachte. Genervt verdrehte sie die Augen. Sie gaben ein reizendes Paar ab. Das sahen zumindest die Dienstboten so, wenn sie ihrem Getuschel Glaube schenken sollte. Chandra sah das natürlich anders.
Alissa war bildschön, da konnte sie nicht widersprechen. Aber sie war eine Frau, die tat, was man von ihr verlangte. Sie war wie alle anderen. Schön anzusehen, aber ohne eigene Meinung. Eine Frau, wie Chandra sie verabscheute.
Als Lucian der Priesterin eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht strich und sie daraufhin anlächelte, schoss blanke Eifersucht durch Chandras Adern. Er schenkte dieser Frau so viel mehr Zuneigung als irgendwem sonst. In Alissas Gegenwart strahlten Lucians Augen und das Blau darin wurde umso klarer. Chandra hasste es, dass Alissa es war, die seine Augen so zum Leuchten brachte. Und sie hasste die Gefühle, die der Anblick der beiden bei ihr auslöste. Eifersucht und Missgunst. Es waren Gefühle, die die Tochter des Mondes nicht gekannt hatte. Noch nie in ihrem Leben war sie eifersüchtig auf einen anderen Menschen gewesen. Sie hatte immer alles besessen, was sie sich gewünscht hatte, und die Aufmerksamkeit bekommen, die sie wollte. Lediglich der Respekt gehobener Staatsmänner war die eine Sache, um die Chandra ihr Leben lang hatte kämpfen müssen. Bis heute leider vergebens. Und eben jene Männer standen nun um Alissa herum, küssten ihren Handrücken und beglückwünschten sie, während die Priesterin freundlich lächelte. Chandra verzog angewidert das Gesicht.
Kopfschüttelnd verließ sie die Feierlichkeiten zu Alissas Ehren. Der Ballsaal war von Gelächter erfüllt, doch die gute Stimmung sprang nicht auf Chandra über. Die anwesenden Gäste hatten nur Augen für den Prinzen und die Frau an seiner Seite, die leider nicht sie war. Was sollte sie auf einer Feier, auf der sich keiner um ihre Anwesenheit scherte?
Sie schlenderte durch die Gänge des silvinischen Palastes, grüßte die Gäste, die ihren Weg kreuzten, aber hielt nicht an, um sich mit ihnen zu unterhalten. Sie waren nicht ihretwegen hier. Sondern des Geburtstagskinds wegen, das in diesem Moment am Arm von Chandras bestem Freund hing, als gehörte sie an seine Seite. Furchtbar!
Sie fand sich vor den Türen zur Bibliothek wieder. In der Hoffnung, dort ungestört zu sein, betrat sie den dunklen Raum. Vereinzelt brannten Sonnensteine und spendeten genügend Licht, um sich in dem gigantischen Saal zurechtzufinden. Auf einem kleinen Sofa in einer Ecke entdeckte Chandra eine Gestalt, die sich zwischen unzähligen Bücherstapeln versteckt hatte.
»Sora?«, fragte Chandra leise. Sie wollte die Priesterin nicht erschrecken. Und dennoch hatte sie genau das getan. Die Tochter des Himmels zuckte zusammen und sah sie mit großen Augen an.
Chandra hob entschuldigend die Arme.
»Ich wollte dich nicht erschrecken, verzeih mir!«
Sora lächelte sie zögerlich an. Ihre braunen Haare waren zu einem schlichten Zopf geflochten. Allgemein war die Himmelstochter eher unscheinbar. Zwischen dem betörenden Verhalten der Meerestochter und der engelsgleichen Schönheit von Alissa ging Sora regelrecht unter. Vermutlich mochte Chandra sie gerade deswegen am liebsten von den anderen Priesterinnen.
»Schon in Ordnung. Ich war in ein Buch versunken und habe gar nicht gemerkt, dass jemand hereingekommen ist.« Mit der Hand deutete sie auf die Lektüre in ihrem Schoß.
Chandra begutachtete die Titel, die vor Sora ausgebreitet dalagen. Alte Schriften, die kaum noch leserlich waren.
»Suchst du nach etwas Bestimmtem?«, wollte sie wissen.
»Eigentlich nicht«, gestand die Himmelstochter schulterzuckend. »Ich habe mir etwas Lektüre von zu Hause mitgebracht. Der hohe Septon ist mein Onkel und er gewährt mir hin und wieder, dass ich mir einige Bücher und Schriftstücke, die mich besonders interessieren, aus der Bibliothek von Samara mitnehme, um sie zu studieren.« Sora kicherte leise. »Er sagt, es sei nur wünschenswert, eigentlich sogar selbstverständlich, dass eine Priesterin sich mit der Geschichte der Bräuche und Traditionen Sirions auseinanderzusetzen habe.« Sie rollte mit den Augen. »Allerdings bin ich gerade nahezu dankbar darüber, denn die alten Bräuche und Riten sind bei Weitem interessanter als die obszöne Zurschaustellung, die im Festsaal gerade stattfindet.«
Ein Schmunzeln umspielte Chandras Lippen, als sie sich neben Sora niederließ. Es war beruhigend zu wissen, dass sie nicht die Einzige war, die die Feierlichkeiten schwer ertrug.
»Darf ich?« Chandra deutete auf die Schriftrollen auf dem Tisch. Normalerweise hatte sie für die Aufzeichnungen der Götter nichts übrig. Doch alles war besser, als sich zu langweilen. Sora nickte.
Die Mondtochter durchforstete die Pergamentrollen, bis sie auf eine stieß, an dessen Enden je eine Triskele prangte. Stirnrunzelnd öffnete sie das Band und rollte das Schriftstück auseinander. Chandra hielt die Luft an �und war enttäuscht: Es stand nichts darauf geschrieben. Doch ihr rutschte ein unscheinbares Blatt Papier zwischen den Händen hindurch und landete sanft auf dem Boden. Vorsichtig hob sie es hoch. Es fühlte sich sehr dünn an, es musste alt sein. Als sie es umdrehte, erstarrte sie. Es war mit Runen beschrieben. Unauffällig blickte sie zu Sora. Doch die war wieder in ihr Buch vertieft und hatte nichts mitbekommen.
Es war die Sprache der Götter. Früher hatten die Ordensmenschen sie noch gekannt, die alten Runen lesen, sprechen und schreiben können �doch heute beherrschten nur noch auserwählte Ordensanhänger diese Sprache. Seit einigen Jahrhunderten schon wurde sie nicht mehr verwendet, die Ordensanhänger hatten sich der gemeinen Zunge angepasst, damit jeder Bewohner Sirions die Worte der Götter verstehen konnte. Sie waren der Meinung, es reichte, wenn die Gelehrten die Runen beherrschten, sodass der König, seine Berater und die Priesterinnen auf dieses Wissen zurückgreifen konnten, wenn sie es benötigten.
Doch das Festland war der Insel Sohalia in der Entwicklung mal wieder voraus. Als Priesterin der Mondsichelinsel wurde Chandra noch in der alten Sprache unterrichtet. Sie verstand darum jedes der niedergeschrieben Worte, als wäre es ihre Muttersprache. Und was sie da las, ließ sie zu Stein erstarren: Es handelte sich um eine Schrift der Götter selbst! Sie erkannte ganz unten auf der Seite die Namen der vier Gottheiten in ihren Runenbuchstaben.
Chandras Hände, die das wertvolle Papier hielten, wurden augenblicklich nass. Angestrengt blickte sie auf die Zeichen und begann von vorn zu lesen:
Zum Schutze Sirions
Ihr, unsere Kinder, wisset: Sollte je unser wertvolles Land Sirion angegriffen werden oder ihm anderweitige Gefahr drohen, seid ihr auserkoren, es zu erretten. Geht nicht leichtfertig mit dem Wissen um, das wir euch hier und heute offenbaren.
Dieses Pergament verleiht euch die Macht, uns, die Götter, eure Eltern seit jeher, um Hilfe anzurufen. Und wir werden entsenden zu euch, um euch zu retten, die Krieger des Lichts.
Doch der Weg ist nicht einfach. Und es braucht von einem jeden von euch einen Tropfen eures wertvollen Blutes.
Auf dass ihr dieses Schriftstück niemals werdet gebrauchen müssen – Friede über Sirion!
Chandras ganzer Körper kribbelte, während sie von diesem uralten Ritual las, das hier niedergeschrieben stand.
Das Wissen, dass dieses einfache Blatt Papier enthielt, war von unschätzbarem Wert und konnte eine Macht freisetzen, die in den falschen Händen enormen Schaden anrichten würde, das war Chandra auf unheilvolle Weise klar.
Behutsam strich sie über das Papier. Wenn niemand außer den Kindern des Mondes die Worte lesen konnte, so gehörte dieses Wissen auch nur ihnen, war sie der Meinung. Die Menschen des Festlandes hatten die alte Sprache verlernt und waren nicht mehr würdig, dieses Dokument zu besitzen und seinen Inhalt zu kennen.
Es war, als wäre es ihr bestimmt gewesen, dieses Schriftstück zu finden …
Chandra nutzte die Tatsache aus, dass Sora in ihr Buch vertieft war, und ließ das Blatt Papier behutsam in eine tiefe Tasche ihres Kleides gleiten.
Vielleicht würde irgendwann der Tag kommen, an dem Sirion den Schutz einer göttlichen Armee benötigte. Und dann würde es in Chandras Macht liegen, diese Armee zu befehligen. Wer die Worte kannte, besaß die Macht, sie zu rufen. Alles, was sie dazu brauchen würde, war ein kleiner Tropfen Blut der anderen Gotteskinder. Sie mochten zwar die Auserwählten von Göttern sein, doch auch in ihren Adern floss menschliches Blut. Und jeder Mensch blutete, wenn die Wunde tief genug war.