KAPITEL 16

MONDFINSTERNIS

Vignette

Chandra – vor 250 Jahren

Sie stand allein am Altar vor dem Tempel, der ihrer Göttin gewidmet war, und blickte auf ihre Armee. Die schwarzen Schatten hatten die Gestalt von Kriegern angenommen. Und doch sahen sie aus wie Monster aus den schlimmsten Albträumen. Es waren Kreaturen mit langen Krallen und nichts als einem schwarzen Schlund, wo eigentlich ein Mund hätte sein sollen. Gesichtslose Geschöpfe, die einzig und allein ihrem Willen gehorchten. Sie waren reine Perfektion, geformt aus Finsternis.

Gemeinsam mit Thanos und ihren Gefolgsleuten hatte sie die Insel Sohalia erobert und zu ihrem Stützpunkt erklärt. Von hier aus würden sie das Festland angreifen und sich das nehmen, was ihnen rechtmäßig zustand.

Ein kühles Lächeln lag auf Chandras Lippen. Sie erwartete einen Gast. Als Thanos ihr mitgeteilt hatte, dass ein Schiff auf dem Weg nach Sohalia gesichtet worden war, hatte sie ihn gerade noch davon abhalten können, es im Meer zu versenken. Das Schiff hatte die goldene Sonne von Solaris gehisst und Chandra wusste ganz genau, wer sich an Bord befand. Niemals würde sie ihm etwas zuleide tun. Niemals.

Sie strich sich über das lange weiße Kleid und blickte den gepflasterten Weg hinab, der vom Hafen Sohalias hierherführte. Er war wieder zu Hause. War wieder bei ihr.

Allein bahnte er sich seinen Weg hinauf zur Tempelstätte.

»Es ist lange her«, erklang kurz darauf die vertraute Stimme ihres besten Freundes. Chandra lächelte. Seit sie Sirena den Rücken gekehrt hatte, waren einige Monate vergangen. Niemand hatte sie aufhalten können. Niemandem war es gestattet gewesen, seitdem einen Fuß auf ihre Insel zu setzen. Jedes Schiff und jeder Mann, der versucht hatte, sich der Insel zu nähern, war von den Wellen verschlungen worden. Ihre Göttin war die Herrscherin über die Gezeiten. Und obwohl sie nun die Spirale trug, schien Selinda noch ihre schützende Hand über Chandra zu halten. Die Gunst ihrer Göttin schien ihr trotz allem noch immer sicher. Eine Tatsache, die sie nicht für möglich gehalten hatte. Aber vielleicht liebte Selinda, die Mondgöttin, sie so sehr, dass sie ihr trotz allem, was Chandra getan hatte, kein Leid zufügen wollte. Leider sah Chandra das anders: Erst durch die Berufung durch die Göttin hatte ihr Leid schließlich begonnen.

»Sehr lange«, stimmte sie zu und musterte ihn ausgiebig. Er trug noch immer die Farben der Mondgöttin. Dunkelblau, weiß und schwarz. Nichts wies daraufhin, dass vor ihr der zukünftige König des Landes stand. Doch der Mann vor ihr war nicht mehr ihr bester Freund. Es war der Prinz. Chandra erkannte es in seinen blauen Augen. Dort loderte der Hass. Und sein Hass entfachte auch den ihren. Er hatte sie verraten.

»Wie geht es deiner Königin?« Ihre Stimme triefte vor Gehässigkeit und mit Freuden erinnerte sie sich an den Moment, als sich ihre Finger um den schlanken Hals der Waldtochter gelegt hatten. Als das Leben aus ihr gewichen und starre Augen Chandra entgegengeblickt hatten. Ein Moment für die Ewigkeit.

Lucians Augen füllten sich mit Tränen, die er schnell wegwischte. Sein Kiefer war angespannt, ebenso sein ganzer Körper.

»Wie konntest du?«, zischte er ihr entgegen. Es lag so viel Zorn in seiner Stimme, doch Chandra wich nicht vor ihm zurück. Sein Zorn war nicht zu vergleichen mit dem ihren.

»Wie konnte ich was?«, wollte sie wissen. »Alissa töten? Wenn du mich fragst, dann hat sie es mehr als verdient.« Diese Frau, die ihr alles genommen hatte, hatte aus ihrer Sicht so viel Schlimmeres verdient als den Tod. Sie hätte verdient gehabt, zu leiden. Sie war noch gnädig gewesen.

Lucian schüttelte langsam und fassungslos den Kopf. Die Trauer um seine verlorene Liebe drang aus jeder Pore seines Körpers.

»Alissa hat dir nichts zuleide getan.«

Chandra schnaubte. Doch, das hatte sie. Wegen Alissa hatte sie ihren besten Freund verloren. Nur ihretwegen hatte sich die Triskele auf ihrer Brust in eine Spirale verwandelt. Ihretwegen klaffte ein tiefes Loch in Chandras Herzen. Sie betrachtete Lucian. Inmitten ihrer Schattenarmee, die reglos um den Tempel verteilt stand, wirkte er wie ein Licht in tiefster Nacht.

Wie sie ihn so ansah, hier, auf ihrer Wiese, wurde ihr Herz von Trauer erfüllt.

»Du hättest dich für mich entscheiden sollen«, flüsterte sie. »So, wie es vorherbestimmt war.« Er war ihr Geschenk von den Göttern gewesen. Seine Berufung war das Zeichen gewesen, auf das sie all die Jahre gewartet hatte.

»Was redest du da für einen Unsinn?« Verständnislos sah er sie an. Und nur sie. Als würden all ihre Soldaten ihn nicht kümmern. Chandra ging mit langsamen Schritten auf ihn zu. Wie eine Königin schritt sie von ihrem Platz beim Altar zu ihm hinüber.

»Glaubst du etwa, dass es Zufall war, dass die Götter dich berufen haben? Ausgerechnet dich? Mein Sternenkind?« Er hatte immer ihr gehört. Chandra hatte nie jemand anderen haben wollen. Nur Lucian. Doch Alissa hatte alles ruiniert.

Lucian stieß ein verbittertes Schnauben aus.

»Ich glaube nicht an Vorhersehung und Schicksal. Und du auch nicht. Was soll das also jetzt?«

Er hatte recht. Bis zu seiner Berufung hatte sie nie verstehen können, warum die Göttin ausgerechnet sie zu ihrer Tochter erwählt hatte. Oder warum es überhaupt Gotteskinder auf der Welt gab. Nichts von alldem hatte einen Sinn für sie ergeben. Bis zu dem Tag, als Lucian mit der Triskele gezeichnet worden war. Da war es ihr wie Schuppen von den Augen gefallen. Doch er schien das Zeichen nicht verstanden zu haben.

»Ach wirklich? Und Alissa?« Bei ihr hatte er von Bestimmung gesprochen. Allein dieses Wort, das sie aus seinem Mund gehört hatte, während er die Tochter des Waldes voller Zuneigung angesehen hatte, schürte wieder den Hass in Chandras Adern.

»Ich habe sie geliebt, Chandra«, schrie ihr Lucian nun unvermittelt entgegen. Er konnte nicht mehr an sich halten. Er machte einige Schritte auf sie zu, getrieben von Zorn und Verzweiflung. Ihre Soldaten reagierten genauso schnell. Sie waren erschaffen worden, um ihr zu dienen und sie zu beschützen. Lucian verstand die Warnung und blieb sofort stehen. Beäugte misstrauisch die dunklen Kreaturen.

»Ich habe sie geliebt, mehr als alles andere auf der Welt. Wieso konntest du mir mein Glück nicht gönnen? Hasst du mich denn so sehr?« Er klang gebrochen, als er sprach.

Langsam schüttelte die Tochter des Mondes den Kopf.

»Dich hassen? Ich liebe dich von ganzem Herzen! Sie habe ich gehasst. Dafür, dass sie dich mir weggenommen hat.« Diese Tat würde sie niemals vergeben.

Lucian warf die Hände in die Luft.

»Sie hat mich dir nicht weggenommen. Deine Eifersucht hat uns auseinandergetrieben. Warum kannst du das nicht sehen?« Seine Worte hallten über den Tempelplatz und wurden von dem Grollen eines sich nähernden Gewitters untermalt.

Chandra ballte die Hände zu Fäusten.

Was hatte er da gerade gesagt? Ihre Eifersucht sei schuld daran, dass sie keine Chance mehr bei ihm hatte? Chandra schüttelte sich heftig, um diese Gedanken, diese Erkenntnis, zu vertreiben. Nein, sie traf keine Schuld!

»Weil das eine Lüge ist!«, schrie nun sie. »Bevor sie kam, war alles in Ordnung. Es ist allein ihre Schuld.« Alissa hatte dafür den Tod verdient. Chandra empfand nicht einen Funken Mitleid mit dieser Frau. Nicht einen einzigen.

»Du machst dir etwas vor, Chandra. Alissa konnte nichts dafür, dass ich mich in sie und nicht in dich verliebt habe. Und wir wären glücklich miteinander geworden, wenn du nicht gewesen wärst.«

Seine Worte waren wie ein Schlag mitten in ihr Gesicht. Chandra wich verletzt zurück. Das konnte nicht sein Ernst sein. Sie biss die Zähne zusammen.

»Wir hätten glücklich miteinander werden sollen, Lucian. Wir.« Sie waren füreinander bestimmt gewesen.

»Das hätten wir nicht«, widersprach ihr Lucian. »Es ist wahr: Ich liebte dich Chandra, als Freundin. Aber nicht auf die Weise, wie ich sie geliebt habe. Du hast alles zerstört, was mir im Leben wichtig war.«

Ihre Augen füllten sich bei seiner Anschuldigung mit Tränen.

Lucians Blick glitt hinunter aufs Meer, wo Chandras Flotte auf den Befehl wartete, Sirion anzugreifen. Die blutroten Segel mit der schwarzen Spirale waren bereits gehisst. An den Küsten von Sirena würde die königliche Armee auf sie warten. Doch sie hatte nicht den Hauch einer Chance. Nicht gegen ihre Söldner und die Armee aus Schatten.

»Und jetzt nimmst du auch noch Sirion den Frieden.«

Chandra reckte das Kinn empor. Ja, sie hatte diesem Land das Chaos gebracht. Doch den Frieden hatte sie ihm nicht genommen. Es hatte ihn nie gegeben.

»Vielleicht nimmt Solaris nun endlich die Bedrohung aus den Schatten ernst. All die nicht gehörten Stimmen. Jetzt, wo die Gefahr überall lauert.« Sie allein hatte die Macht über Leben und Tod. Wenn sie es wollte, würde Solaris und jede Provinz, die sich ihr entgegenstellte, noch heute brennen.

Mit einem letzten kurzen Blick auf ihre Armee trat Lucian einen zögerlichen Schritt auf sie zu. Sein schwarzes Haar wurde von einer Böe erfasst, die das Gewitter weiter auf sie zutrieb.

»Du kannst dem sofort Einhalt gebieten, Chandra. Ich weiß nicht wieso, aber diese Kreaturen hören auf dich.«

Er sprach das Wort voller Verachtung aus, während er sie beäugte. In seinem Blick lag pure Abscheu. Chandra lachte kurz auf.

»Natürlich hören sie auf mich. Ich habe sie erschaffen.« Sie lebten von ihrer Macht. Ihrer Macht als Auserwählte, als eine, die es bis dahin noch nie gegeben hatte. Und niemand würde ihr diese Macht wieder wegnehmen.

»Aber wie hast du das erreicht? Du bist die Tochter des Mondes, ein Kind des Lichts. Diese Kreaturen entspringen der Dunkelheit.«

Chandra bekundete Lucian unheilvoll: »Der Dunkelheit in meinem Herzen.« Nur dank der Trauer, die von ihr Besitz ergriffen hatte, war sie imstande gewesen, die Schatten zu befehligen. Sie nach ihrem Willen zu formen.

»Selinda hätte das niemals gewollt«, flüsterte Lucian.

Chandras Augen wurden schmal. Sie blickte hinauf in den Himmel. Dunkle Wolken waren aufgezogen und in der Ferne sah sie die ersten Blitze zucken. Bald würde Regen kommen und die dunkelste Stunde der Gotteskinder einläuten.

»Damit magst du recht haben. Das Ritual war ursprünglich für etwas anderes gedacht.« Erschaffen von den Göttern, um Sirion vor Feinden zu beschützen. Doch das war Vergangenheit.

»Wie meinst du das?« Verwirrt sah Lucian sie an. Es war richtig gewesen, ihm die geheimen Aufzeichnungen nicht gezeigt zu haben, wusste Chandra jetzt.

Die Mondtochter zuckte mit den Schultern.

»Du hast es selbst gesagt: Ich bin ein Kind des Lichts. Glaubst du wirklich, dass die Göttin des Mondes, meine Mutter, eine Schattenarmee erschaffen wollte? Natürlich nicht. Aber ich wollte es. Betrachte die Kreaturen als mein Geschenk an dich.«

Sie sollten Sirion das bringen, was es verdient hatte: seine Freiheit. Und dies konnte nur durch den Untergang der Götter geschehen.

»Du bist ja wahnsinnig geworden«, stellte Lucian traurig kopfschüttelnd fest.

»Und wer trägt daran die Schuld?«, fragte sie voller Zorn. Er hatte sie an diesen Punkt getrieben. Er und Alissa.

»Ich wollte dir niemals wehtun! Doch du hast einfach nicht verstehen wollen, dass ich nicht so für dich empfinde wie du für mich. Ich kann mich nicht zwingen, dich zu lieben.«

Chandra hielt sich die Ohren zu. Ihr Herz schmerzte bei seinen Worten und riss die Wunden auf, die sie versucht hatte, zu verschließen.

»Genug! Ich will davon nichts mehr hören.« Er hatte ihr bereits das Herz gebrochen, mehr konnte sie nicht ertragen.

»Chandra, bitte. Mach dem ein Ende. Wir können darüber reden, du musst das nicht tun.« Er hob die Hände, als würde er kapitulieren.

»Jetzt willst du reden?«, fragte sie höhnisch. Seine Angst war nur ein Zeichen dafür, dass er wusste, wie unterlegen er ihr war. Es war ihr Krieg und sie würde ihn gewinnen. Koste es, was es wolle.

»Ich will nicht, dass du Sirion zerstörst.«

Ein Blitz schlug neben ihnen auf der Wiese ein und Lucian zuckte zusammen. Chandra sah ihn nur aus kalten Augen an.

»Ich will nicht Sirion zerstören, sondern die Götter und den Glauben an sie.« Doch zuerst musste Sirion ihre Macht kennenlernen, sehen, wozu sie fähig war, damit die Menschen in diesem Land verstanden, dass die Götter nicht allmächtig waren, dass sie nicht allein die Herrschaft über sie besaßen.

Stumm sah er sie an. »Dann willst du mich zerstören?«

Allein bei der Vorstellung daran zog sich ihre Brust zusammen. Ein unsagbarer Schmerz ergriff Besitz von ihrem Körper.

»Nein«, hauchte sie, den Tränen nahe. Egal, was Lucian getan hatte, sie würde ihm niemals etwas antun.

»Also bin ich die Ausnahme?«, wollte er wissen. »Sollen nur noch du und ich übrig bleiben? Ist es das, was du willst?«

Chandra nickte. »Das ist alles, was ich jemals wollte.« Nur er und sie. Gemeinsam waren sie immer glücklich gewesen. Und sie würden es wieder sein können.

Lucian sah sie einen Moment lang einfach nur an, dann schloss er die Augen und nickte.

»Dann sei es so.«

Das Herz der Priesterin setzte für einen Augenblick aus. Was hatte er mit seinen Worten gemeint?

Er hielt ihr die Hand entgegen. Sie standen sich so nahe, dass Chandra ihn hätte berühren können, wenn sie ihrerseits die Hand nach ihm ausgestreckt hätte.

»Schließe einen Handel mit mir«, sagte Lucian. »Du verschonst mein Land und dafür bekommst du mich.«

Ihre Augen wurden groß. »Dich?«, wisperte sie.

Zögernd nickte er.

»Ich muss noch immer eine Königin erwählen. Ruf deine Kreaturen zurück und werde die Königin an meiner Seite.«

Es fühlte sich an, als würden abertausende von Schmetterlingen in ihrem Bauch herumflattern. Doch ein kleiner Teil in ihr misstraute seinem Vorschlag.

»Fürchtest du dich so sehr vor mir, dass du diesen Vorschlag machst?« Sie hatte die Angst in seinen Augen gesehen, als er einen Blick auf ihre Schöpfung geworfen hatte. Auf ihre Armee aus Schatten.

»Ich habe keine Angst vor dir, Chandra. Aber wenn es das ist, was du willst, dann gebe ich es dir. Als König ist es meine Pflicht, das Land und seine Bewohner zu beschützen.«

Er mochte ihr dieses Angebot aus reinem Pflichtgefühl machen, doch das änderte nichts. Alles, was Chandra verstand, war das Versprechen, das er ihr machte.

»Du willst mich heiraten?« Es war mehr, als sie sich jemals hätte erträumen können.

»Ja.«

Unzählige Gefühle huschten über Lucians Gesicht und Chandra verstand kein einziges davon. Warum hatte er seine Meinung geändert? Sie konnte es nicht nachvollziehen.

»Aber wieso?«, fragte sie ungläubig.

»Du hast von Vorhersehung gesprochen. Ich habe nicht daran geglaubt. Vielleicht war das ein Fehler. Vielleicht hattest du recht und die Götter haben mich berufen, um dich zu lieben.« Er kam weiter auf sie zu und Chandra wich nicht zurück. Vor ihr stand Lucian, ihr Lucian. Ihr Sternenkind. Er sah sie an wie früher. Die Wärme war in seine Augen zurückgekehrt. Kein Zorn oder Hass blickten ihr entgegen.

»Es tut mir leid, dass ich es vorher nicht sehen konnte«, flüsterte er heiser.

Chandras Kehle wurde trocken.

»Lucian …«, begann sie, doch weiter kam sie nicht. Er stand nun direkt vor ihr. Chandra konnte seinen Atem auf ihrem Gesicht spüren. Spürte die Wärme, die von seinem Körper ausging. Langsam beugte er sich zu ihr herab. Seine Finger fanden ihre Wange und zärtlich strich er darüber. Ein Schauer rann ihr über den Rücken und sie lehnte sich in seine Berührung. Jetzt würde alles gut werden. Er war wieder bei ihr. Gemeinsam würden sie über Sirion herrschen, sobald sie es von dem Glauben an die Götter befreit hatten. Niemand würde sich ihnen in den Weg stellen. Ihre Schatten würden sie beschützen.

»Ich liebe dich«, wisperte sie leise. Es waren nur drei kleine Wörter, doch sie bedeuteten so viel. Sie hatte ihn immer geliebt und würde es auch immer.

Ohne eine Erwiderung zog Lucian sie an sich. Seine Lippen lagen so plötzlich auf ihren, dass Chandra das Stöhnen nicht zurückhalten konnte. Sein Mund lag warm und weich auf ihrem. Ein süßlicher Geschmack lag auf seiner Zunge, den sie nicht definieren konnte. Stundenlang hätte sie so dastehen können. Seine Lippen auf ihren. Doch plötzlich stieß Lucian sie von sich.

Verwirrt blickte Chandra zu ihm auf. Der Ausdruck in seinem Gesicht hatte sich grundlegend verändert. Die Wärme war wieder verschwunden und machte einer alles verschlingenden Kälte Platz. Er sah sie an: voller Hass. Doch da war noch mehr. Chandra erkannte Reue in seinem Blick.

»Es tut mir leid, ich sehe keinen anderen Weg.« Er zog einen kleinen Flakon aus seiner Manteltasche und trank den sich darin befindenden Inhalt.

»Was ist das?«, fragte sie verwirrt. Chandra verstand nicht, was er ihr sagen wollte. Was in ihn gefahren war. Warum küsste er sie nicht mehr? Es hatte sich so richtig angefühlt. Sie wollte einen Schritt auf ihn zugehen. Doch ihre Beine versagten ihr den Dienst. Ein Schmerz fuhr durch ihren Körper, der ihr den Atem raubte. Keuchend sank sie auf die Knie und griff nach ihrer Brust. Das Atmen fiel ihr schwer. Schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen und es war, als würde Feuer durch ihre Adern fließen. Ihr Körper wurde heiß, viel zu heiß, und Chandra bekam keine Luft mehr.

»Was hast du getan?«, fragte sie röchelnd. Irgendetwas stimmte hier nicht. Ihr Haut begann zu jucken und Tränen schossen ihr in die Augen, während sie versuchte, stetig zu atmen. Doch ihre Lunge verkrampfte sich immer wieder und hinderte sie daran, den dringend benötigten Sauerstoff einzuatmen.

»Du hast mir keine andere Wahl gelassen«, sagte Lucian leise. »Bei dir wird es schneller wirken als bei mir. Dank meiner Gabe der Selbstheilung halte ich länger stand als du.« Er ging neben ihr in die Knie. Ein mitleidiger Ausdruck lag in seinen Augen, den Chandra nicht begreifen konnte.

»Was war in dem Flakon?«, stieß sie mühsam hervor. Ihre Lunge schmerzte, ebenso wie ihre Brust.

»Morgengabe.«

In Chandras Kopf überschlugen sich die Gedanken. Sie hatte dieses Wort schon einmal gehört. Doch es ergab keinen Sinn.

»Morgengabe? Aber das ist das Heilmittel für …«, sie verstummte und sah Lucian entsetzt an. Er nickte langsam.

»Mitternachtsfluch. Ich weiß.«

Mit großen Augen sah sie zu ihm auf, während eine zweite Welle des Schmerzes über ihr hereinbrach. Sie fiel zur Seite, umklammerte ihre Brust, in dem Versuch, ihre Lungen zu zwingen, weiterzuarbeiten.

»Du hast mich vergiftet«, begriff sie.

»Ich musste es tun.« Seine Stimme klang gepresst, als wäre er es, der Schmerzen erlitt und nicht sie.

Erkenntnis schwappte über sie hinweg. Er hatte niemals vorgehabt, sie zu heiraten. Nichts von seinen Worten war ernst gemeint gewesen. Auch nicht sein Kuss. Er war ihr Verderben gewesen. Mit seinem Kuss hatte er sie zum Tode verurteilt. Sie würde hier sterben. Auf ihrer Insel. Und es gab niemanden, der sie retten konnte. Sie war allein. Eine einzelne Träne rann ihr über die Wange.

»Wie konntest du nur?« Sie verstand kaum noch ihre eigenen Worte. Ihre Lunge versagte ihr den Dienst. Ihr Herz hämmerte unstet in ihrer Brust. Die Schmerzen waren unerträglich.

Trauer lag in Lucians blauen Augen, als er sie in seine Arme zog. Chandra war zu schwach, um sich gegen seine Berührung zu wehren. Er zog sie auf seinen Schoß und verbarg sein Gesicht in ihrem schwarzen Haar.

»Es tut mir leid, Chandra. Du warst meine beste Freundin. Ich habe nie gewollt, dass es so weit kommt.«

Die Verzweiflung, die aus seinen Worten sprach, brach ihr erneut das Herz. Er war bei ihr. Hielt sie, während sie dabei war, dieser Welt zu entgleiten.

»Ich sterbe in deinen Armen, das ist gut. Du wirst das Letzte sein, was ich sehe.«

Mit der letzten Kraft, die sie aufbringen konnte, streckte Chandra ihre Hand nach Lucian aus. Fuhr ihm durch das weiche, dunkle Haar.

»Bitte«, hauchte er, »verzeih mir.« Tränen schimmerten in seinen Augen. Er war ein gebrochener Mann.

Chandra nickte langsam mit dem Kopf, die Bewegung war kaum noch als solche auszumachen.

»Du bist mein Sternenkind, Lucian. Ich kann dir nicht böse sein. Nicht einmal hierfür.« Er hatte ihr den Tod gebracht und trotzdem galt ihre Liebe allein ihm.

Lucian stieß ein herzzerreißendes Schluchzen aus.

»Oh, wären wir doch nie berufen worden, dann wäre nichts von alldem geschehen!« Tränen liefen ihm nun ungehindert über die Wange und fielen auf Chandras Gesicht. Ihr Blick wanderte in den Himmel. Er war wolkenverhangen und pechschwarz. Nichts darin erinnerte sie noch an das Blau seiner Augen. Sie hatte die Liebe, die ihm gegolten hatte, eingetauscht. Eingetauscht gegen Rache und Hass. Doch sie bereute nichts. Denn Lucian hatte recht. Wenn keiner von ihnen berufen worden wäre, wäre nichts von alldem geschehen. Es war die Schuld der Götter, dass bald zwei ihrer Kinder tot waren. Die Götter würden das bekommen, was sie verdienten. Vielleicht nicht heute oder morgen. Aber eines Tages.

»Die Geschichte wird sich an mich erinnern.« Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, als sie erneut das Wort ergriff.

Lucian sah zu ihr hinab. Doch dann schüttelte er langsam den Kopf.

»Nein, niemand wird das. Du, deine Armee und dieses Ritual werden in Vergessenheit geraten. Die Macht, die es beherbergt, ist einfach zu gefährlich. Ich werde die Aufzeichnungen mit mir nehmen und in der Gruft von Solaris verstecken. Dieses Ritual wird niemals wieder von einem Gotteskind durchgeführt werden. Niemand in Sirion wird jemals hiervon erfahren.«

Chandra drehte leicht den Kopf und sah zu ihren Schatten hinüber. Sie begannen bereits zu verblassen. Sie waren gebunden an ihr Blut, an ihr Leben. Wenn sie starb, würde ihre Armee mit ihr sterben.

»Du irrst dich«, wisperte sie. »Ich habe etwas geschaffen, das weit über meinen Tod hinaus bestehen wird.«

Lucian folgte ihrem Blick und betrachtete stirnrunzelnd die Kreaturen aus Dunkelheit.

»Deine Schatten? Sie sterben mit dir.«

»Schatten sind vergänglich, doch der Hass in meinem Herzen hat etwas manifestiert.«

Verwirrt sah Lucian sie an. »Wovon sprichst du?«

Ein schwaches Lächeln lag auf ihren Lippen. Die Schmerzen waren fort. Ein Zeichen, dass es bald mit ihr zu Ende ging.

»Du wirst ihnen bald begegnen. Du und alle Gotteskinder, die nach uns kommen«, verkündete sie ihm. Es glich einem Fluch, einer dunklen Prophezeiung.

Lucian schüttelte sie leicht, als Chandra die Augen schloss. Sie war so schwach. Die Dunkelheit rief nach ihr und sie war bereit, sie mit offenen Armen zu empfangen.

»Wem werden wir begegnen?« Panik lag in der Stimme des Prinzen.

Chandra keuchte. »Meiner Schöpfung, meinen Kindern.« Ihr Blick ging hinauf zum Himmel. Die weiße Mondsichel tauchte gerade hinter den schwarzen Wolken auf. Als würden die Götter die Dunkelheit doch noch besiegen. Doch das stimmte nicht.

»Von wem sprichst du Chandra?«, drang Lucian erneut in sie. Der Griff seiner Arme wurde fester, doch Chandra spürte kaum noch etwas.

Ein triumphierendes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, während sie den Mond betrachtete. Sie war als Tochter des Mondes geboren worden. Hatte ihr Leben lang die Triskele auf der Brust getragen. Doch diese Zeiten waren nun vorbei. Die Spirale war der Beweis dafür, dass das Zeitalter der Götter nicht länger bestehen würde. Sie und ihre Kinder waren dem Untergang geweiht. Und es war allein ihr Werk. Es war ihr Vermächtnis.

Chandra blickte in Lucians Augen. Das Blau darin war erfüllt von Angst. Genugtuung breitete sich in ihrem Körper aus, der dabei war, seinen letzten Atemzug zu tun. Sie mochte heute sterben, aber ein Teil von ihr würde für immer fortbestehen.

»Meine Kinder werden der Untergang der Gotteskinder sein.« Als der Tod nach ihr rief, waren Chandras letzte Worte: »Ich habe sie ›Atheos‹ getauft.«