KAPITEL 17

ZAHLE FÜR DEINE SÜNDEN

Vignette

Celeste

So hatte sie Solaris noch nie gesehen. Die sonst blühende und aufgeweckte Hauptstadt hatte wie ausgestorben vor ihnen gelegen. Kein Mensch war auf den Straßen zu sehen gewesen und falls ihnen doch jemand begegnet war, wurden die Köpfe gesenkt und man beeilte sich, an sein Ziel zu gelangen.

Keine Spur mehr von Lebensfreude, Freundlichkeit oder Luxus. Solaris war nicht mehr wiederzuerkennen. Statt den Bewohnern der Stadt waren ihnen Soldaten begegnet. Sie alle hatten die schwarze Spirale auf der Brust getragen. Das Zeichen der Atheos.

Espen hatte ihnen zugenickt und seinerseits eine schwarze Spirale auf blutrotem Grund, die er an seiner Rüstung befestigt hatte, vorgezeigt. Celeste war im feindlichen Gebiet angekommen und sie selbst spürte nichts außer Angst und Nervosität.

Selbst der Weg zum Palast war ruhig verlaufen. Als sie das letzte Mal in der Hauptstadt angekommen war, hatten die Menschen auf den Straßen ihnen zugerufen. Ganze Scharen waren gekommen, um ihre Ankunft mitzuerleben. Blumen waren geworfen worden und jeder hatte ihren Namen gerufen. Doch heute war es still geblieben.

Wenig später fand Celeste sich an einem Ort wieder, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Sie saß in einer kleinen Zelle auf kaltem Steinboden. Um sie war nichts weiter als eine mit Stroh bedeckte Pritsche und zwei Eimer. Die Eimer hatte Celeste bisher ignoriert. Es roch modrig und feucht. Nur spärlich drang das Licht von einigen Sonnensteinen vom Gang zu ihr hinein durch das Fenster in ihrer Zellentür. Angewidert verzog die Priesterin das Gesicht.

Espen hatte sie auf direktem Wege in den Kerker des solarischen Palastes gebracht. Warum er sie eingesperrt hatte oder wohin er danach gegangen war, wusste sie nicht. Und diese Ungewissheit zehrte an ihren Nerven.

Wachen liefen auf den Gängen des Verlieses Patrouille. Doch sie beachteten Celeste kaum.

Im Kopf zählte sie bis zehn. Jetzt war der Moment, hatte sie herausgefunden, in dem die Wache um die Ecke verschwand und sie einen Moment lang unbeobachtet war.

Mit aller Kraft zog sie an den Seilen, die um ihre Hände geschlungen waren. Doch die Fesseln gaben nicht nach. Stattdessen schnitt das Seil in ihre Haut. Celeste zischte, dann folgte ein frustriertes Fluchen.

»Gebt Euch keine Mühe«, erklang eine Stimme aus der Zelle ihr gegenüber.

Erschrocken blickte Celeste auf und sah in bekannte dunkelblaue Augen. Trotz des mangelnden Lichts konnte die Priesterin die Frau, die dort eingesperrt war, gut erkennen. Auch sie war gefesselt und ihre Lippe war aufgeplatzt.

»Ich habe es bereits versucht«, drang Maras leise Stimme an ihr Ohr.

Celeste stand auf und lehnte sich gegen die Gitterstäbe.

»Mara, den Göttern sei Dank, Ihr seid am Leben!«

Die schwarzen Locken der Septa standen in alle Richtung ab und waren an manchen Stellen verfilzt. Doch bis auf die Platzwunde an ihrer Lippe sah sie unversehrt aus. Abgemagert, aber unverletzt.

»Macht Euch keine Sorgen um mich, Celeste. Wir erfahren hier nicht den sonstigen Luxus, aber wir werden auch nicht gequält.« Ein Lächeln erschien auf dem Gesicht der Septa.

»Wo sind die anderen?«, fragte Celeste leise.

Mare seufzte. »Die Ordensanhänger wurden nicht hier unten eingesperrt. Sie werden in Gemächern oben im Palast gefangen gehalten.«

»Wo ist Zahira?«, fragte Celeste misstrauisch. Die Septa von Sohalia hatte die Dunkelheit in Selena bereits gesehen, als sie alle noch blind gewesen waren.

Ein Schulterzucken war die Antwort. »Man hat sie vor einigen Stunden geholt. Die Atheos hat von einem Ritual gesprochen, bei dem sie Zahiras Hilfe benötigt.«

Celestes Augen wurden schmal. Ihr war klar, dass es sich bei der Atheos um niemand anderen als Ayla handeln konnte. Aber um was für ein Ritual handelte es sich?

»Was tut Ihr hier?«, fragte Mara, noch bevor Celeste ihre Frage stellen konnte, auf die die Septa vermutlich ohnehin keine Antworten gehabt hätte.

Die Priesterin wusste nicht, ob man sie durch die Gänge hören konnte, obwohl sie beide mit gesenkter Stimme sprachen. Sie durfte kein Risiko eingehen.

»Espen hat mich hergebracht«, antwortete sie also nur. »Er gehört ebenfalls zu ihnen.«

Maras Augen wurden groß, dann schüttelte sie den Kopf.

»Ich hätte nicht geglaubt, dass es jemals so weit kommen würde.« In ihrer Stimme schwang Hoffnungslosigkeit mit. »Vielleicht bestrafen die Götter uns so für all unsere Missetaten.«

Sirion blickte seinen dunkelsten Stunden entgegen. Von einem Licht am Ende des Tunnels war keine Spur zu sehen. Auch nicht von den Göttern. Celeste blickte zu Boden. Noch vor wenigen Monaten hatte sie die Existenz der Atheos für einen Mythos gehalten, eine Schauergeschichte, die man seinen Kindern erzählte, und nun befand sie sich in ihrer Gewalt. War das wirklich das Werk ihrer Götter? Celeste wollte das nicht glauben.

»Und welche Missetaten würden das hier rechtfertigen?« Die Priesterin deutete auf die Gitterstäbe. In diese Situation hatten sie nicht die Götter gebracht, sondern Menschen. Menschen, die von ihrem Weg und dem Glauben abgekommen waren.

Ein trauriges Lächeln erschien auf Maras Gesicht.

»Zum Beispiel die, dass ich den falschen Mann geliebt habe«, sagte sie leise. Doch Celeste konnte keinen Sinn hinter ihren Worten entdecken.

»Was meint Ihr?«

Ein Seufzen hallte durch die Gänge bis in Celestes Zelle.

»Ich hätte mich damals nicht für ihn stark machen sollen, hätte den König nicht auf Knien anflehen sollen, damit er sein Leben verschont«, wisperte Mara und Celeste hörte deutlich die Tränen in ihrer Stimme.

Verwirrt sah sie die Septa von Sirena an.

»Von wem sprecht Ihr?«, fragte sie nun eindringlich.

Mara hob den Kopf. Tränen bedeckten ihre Wangen.

»Von Sadik. Es ist meine Schuld, dass es überhaupt so weit kommen konnte. Nur meinetwegen ist er noch am Leben.«

Ein eisiger Schauer rann Celestes Rücken hinab. Wovon wurde sie gerade Zeugin, was hatte Mara ihr eben offenbart?

»Warum hättet Ihr das tun sollen?«, wollte Celestes wissen. Ihre Augen ruhten auf der Gestalt von Mara, die die Arme um ihren Körper geschlungen hatte.

Ein Schluchzen entrang sich ihrer Kehle.

»Ich habe Miro damals angefleht, meinen Ehemann nicht zu töten«, gestand sie leise. Jedes Wort wurde von einem weiteren Schluchzen begleitet.

Fassungslos starrte Celeste Mara an. Ihr Ehemann? Mara war mit Sadik verheiratet gewesen? Oder war es noch immer? Sie konnte es einfach nicht zusammenbringen.

»Er hat mir damals das Herz gebrochen, als er Malia entführt hat. Dieses Kind war wie mein eigenes, doch Sadik hat sein Wohl über unsere Liebe gestellt. Das konnte ich ihm nicht verzeihen«, sprach Mara weiter. »Aber zulassen, dass man ihn tötet, das konnte ich doch nicht«, weinte sie leise.

Noch nie in ihrem Leben hatte Celeste die Aura einer so gebrochenen Frau gesehen. Mara gab sich selbst die Schuld an Malias Entführung sowie an allen Taten, die Sadik seit seiner Befreiung begangen hatte. Jedes Leben, dass dieser Mann genommen hatte, hatte eine Narbe auf Maras Seele hinterlassen. Celeste konnte es deutlich vor sich sehen.

»Mara, nichts davon ist Eure Schuld«, sagte die Priesterin leise. Sie würde nicht zulassen, dass die Septa wegen Taten litt, für die sie nichts konnte. Sie hatte einen Mann geliebt, der ihre Liebe ausgenutzt hatte. Doch das war nicht Maras Schuld. Niemand konnte sich aussuchen, wen er liebte. Das Herz traf diese Entscheidung allein. Kein Mensch hatte da ein Mitspracherecht.

Die Septa schüttelte den Kopf, als würde sie Celestes Worten keinen Glauben schenken. Doch bevor die Priesterin sie weiter überzeugen konnte, hörte sie etwas.

Schritte erklangen auf dem steinernen Gang und Celeste ging einige Schritte in ihrer Zelle zurück, fort vom Schein der Sonnensteine im Gang. Mara wischte sich über das tränennasse Gesicht. Sie lauschten den Geräuschen von schweren Füßen. Doch sie hörten nicht das vertraute Klappern von Metall, dass die Rüstungen der Atheos verursachten.

Als Celeste den Blick hob, sah sie in dunkle Augen, in denen ein reumütiger Glanz lag.

»Priesterin, es ist nicht schön, Euch in diesem Zustand wiederzusehen.«

Überrascht starrte Celeste den Mann vor sich an. Er überragte sie und seine dunkle Haut hob sich kaum von der Dunkelheit im Verlies ab.

»Wie mir zu Ohren kam, tragt Ihr eine Mitschuld an dieser leidlichen Situation, Septon«, brachte sie schließlich hervor.

Tiefe Beschämung lag in Yakims Augen und er senkte den Kopf.

»Zu meinem Bedauern muss ich Euch zustimmen. Ich habe meinen Beitrag zu alledem geleistet. Und das werde ich wohl nie wiedergutmachen können.«

Die Priesterin schüttelte den Kopf. »Ihr seid, abgesehen von den Gotteskindern, die höchste Instanz des Glaubens in diesem Land. Wie konntet Ihr Euch mit den Atheos verbünden?« Es war Celeste ein Rätsel. Yakim war klug, er musst doch wissen, dass die Ziele der Atheos dem Willen der Götter widersprachen.

»Mir war nicht klar, wie verschieden unser Weg zum Ziel ist. Ich wollte lediglich die Götter zurückbringen. Sie aber wollen um jeden Preis die Gotteskinder töten.«

»Ihr seid ein Narr, Yakim«, erklang nun Maras Stimme. »Die Götter zeigen uns doch immer wieder, dass sie Sirion nicht verlassen haben. Dass sie noch hier sind und über uns wachen.« Mara klang wie eine Mutter, die ihr Kind maßregelte. Und so wie Yakim betreten zu Boden blickte, fühlte er genauso.

Celeste seufzte leise.

»Seid Ihr in den letzten Tagen draußen gewesen? Alle Felder sind vertrocknet, kein einziger Strauch blüht mehr. Silvia hat dieses Land bestraft für das, was die Atheos ihrer Tochter angetan haben.«

Lilian war durch die Hand der Atheos gestorben. Ein Gotteskind war gefallen und die Götter bestraften nun ganz Sirion für diese Tat.

»Das ist mir nun klar, Mylady«, gestand Yakim. »Ich wollte immer nur das Beste für Sirion. Ich hatte die Hoffnung, dass die Götter eingreifen würden, wenn die Atheos über das Land herzögen. Dass sie sich endlich wieder in ihrer ganzen Macht zeigen würden. Damit alle Menschen Sirions wieder zu ihrem alten, starken Glauben zurückfänden. Doch keiner sollte dabei sterben. Es sollte doch keine Unterdrückung geben und diese Angst und Panik im Volk.«

Celeste sah Yakim an. Ihr Nacken kribbelte und als sie kurz die Augen schloss und sie wieder öffnete, erblickte sie die Aura des hohen Septons. Sie war tatsächlich erfüllt von Reue und Selbsthass.

Der Septon von Solaris litt unter seinem begangenen Verrat. Er fühlte sich schuldig und das zu Recht. Sie würde ihm dabei nicht helfen können. Verzeihen konnte sie ihm das nicht. Noch nicht.

»Und was wollt Ihr jetzt von mir?«, fragte Celeste mit hochgezogener Augenbraue.

Yakims dunkle Augen trafen auf ihre.

»Ich möchte Wiedergutmachung leisten. Ich habe die irdischen Vertreter meiner Götter verraten und damit die Götter selbst. Die Atheos müssen aufgehalten werden.«

Ein Schnauben erklang aus Maras Zelle.

»Und wie wollt Ihr das schaffen? Jeden Moment kommen die Wachen zurück.« Trotz der Fesseln um ihre Handgelenke, umklammerte sie die Eisenstäbe ihrer Zelle.

»Ich habe die Wachen fürs Erste fortgeschickt.« Yakim zog aus seiner schwarzen Robe, die bis auf den Boden reichte, die Schlüssel zu ihren Verliesen hervor.

Celestes Augen wurden groß. Die Rettung kam schneller, als sie erwartet hatte. Sie hatte auf Nike und den Rest ihres Gefolges gebaut, der in diesem Augenblick dabei sein musste, sich Zutritt nach Solaris zu verschaffen.

Yakim hantierte unbeholfen mit den unzähligen Schlüsseln. Erst beim vierten Versuch fand er den richtigen und öffnete zuerst Celestes Kerkertür.

Celeste trat auf den Gang hinaus und sah sich um. Zu beiden Seiten lagen weitere Zellen, die jedoch leer waren. Was sich hinter der Kreuzung am Ende des Ganges befand, wusste die Priesterin nicht. Sie war nie hier unten gewesen.

Während Yakim Mara befreite, betrachtete Celeste den Rücken des Septons.

»Wie genau habt Ihr den Atheos geholfen?« Sie brauchte mehr Informationen, um ihren Feinden gegenübertreten zu können.

»Ich bin in der großen Septe von Isaahn auf das Ritual gestoßen, mit dem Zahira Selena als Tochter des Himmels berufen konnte«, gestand er, als sich die Tür zu Maras Zelle quietschend öffnete.

»Das seid Ihr gewesen?« Überrascht hob Celeste eine Augenbraue. Sie hatte angenommen, dass diese Aufzeichnungen auf Sohalia gefunden worden waren.

Yakim nickte betrübt. »So ist es. Und ich habe sie mit Ayla nach Sohalia geschickt. Sie hätte berufen werden sollen.«

Das erstaunte die Priesterin noch mehr. Ayla hätte zum Gotteskind werden sollen?

»Ayla? Woher kanntet Ihr sie?«

»Ich habe sie durch Espen kennengelernt. Es war sein Plan, dass wir eine Mondpriesterin berufen, die unserer Sache dient. Ayla hat sich freiwillig dafür gemeldet. Sie war stark, entschlossen und strahlte diesen eisernen Willen aus.«

»Aber Zahira hat Selena erwählt.«

Yakim sah betreten zur Seite, während er Mara von den Fesseln befreite. Celeste selbst waren noch die Hände gebunden.

»Weil nur eine Jungfrau von den Göttern berufen werden kann. Ayla kam für das Amt nicht mehr infrage, aber das war mir zu dem Zeitpunkt nicht bekannt. Dann wäre mir gleich klar gewesen, dass ihr Plan nicht funktionieren kann.«

Es waren zu viele neue Informationen auf einmal, die Celeste verarbeiten musste. Dazu kam die Panik, dass sie jederzeit erwischt werden konnten.

»Wir sollten sofort von hier verschwinden«, sagte nun auch Mara eindringlich. Sie blickte den Gang hinunter. »Welcher ist der sicherste Weg nach oben?«

Yakim deutete auf den Gang zu ihrer Linken.

»Dort entlang. Aber Ihr solltet noch etwas wissen. Ayla hat grausame Pläne für die Zukunft dieses Landes.«

Celeste erschauderte. »Wovon sprecht Ihr?« Yakims Gesichtsausdruck konnte nichts Gutes bedeuten. Angst spiegelte sich in seinen dunklen Augen.

»Sie hat mich nach den Aufzeichnungen von König Lucian suchen lassen. Ich habe sie gefunden. Doch bevor ich begreifen konnte, worum es sich dabei handelte, war es bereits zu spät.«

Yakims Aura war erfüllt von Angst und Hoffnungslosigkeit. Celeste trat auf den Mann zu und griff nach seinen Händen.

»Was habt Ihr gefunden?«, wollte sie wissen.

Als der Septon zu sprechen anfangen wollte, hörte Celeste das Zischen von Luft. Ein Röcheln erklang, gefolgt von einem Schrei, der aus ihrer eigenen Kehle kam. Etwas Nasses spritzte ihr ins Gesicht.

Aus dem geöffneten Mund des Septons ragte die Klinge des langen Messers, das seinen Kopf von hinten durchbohrt hatte. Mit welcher Wut die Waffe geschleudert worden war, konnte Celeste nur erahnen.

Yakims Augen waren weit aufgerissen und er sah sich panisch um. Blut tropfte von der stählernen Schneide. Und Blut war es auch, was Celestes Gesicht bedeckte.

Bevor die Priesterin etwas tun konnte, sackte Yakim in sich zusammen und fiel zu Boden. Der Septon war tot. Fassungslos starrte Celeste auf die Gestalt am Boden. Viel zu schnell breitete sich die rote Flüssigkeit auf dem steinernen Boden aus.

Es ertönte ein Schnalzen, das von den Wänden des Kerkers widerhallte.

»Da hatte wohl jemand eine zu lose Zunge«, erklang Aylas Stimme. Die Atheos stand mitten im Gang und wurde von Soldaten flankiert. In ihrer linken Hand hielt sie ein zweites Messer.

Mara griff nach Celestes Arm und zog die Priesterin hinter sich. Aylas Augen wurde schmal.

»Ich hätte Euch töten sollen, als wir noch auf Sohalia waren.«

Der Griff von Maras Fingern wurde fester.

Ayla kam auf die beiden Frauen zu. Das Messer wog sie dabei lässig in der einen Hand. Seine Klinge schimmerte im Licht der Sonnensteine. Ihre Mundwinkel hoben sich.

»Mittlerweile brauche ich glücklicherweise weder den König noch Euch für das Gelingen meines Plans.«

Sie holte aus und warf das Messer in Celestes und Maras Richtung. Es flog durch die Luft, doch Mara konnte der todbringenden Waffe ausweichen und zog Celeste mit sich aus der Wurflinie.

»Weglaufen ist sinnlos«, hallte Aylas Stimme ihnen nach, als Mara Celeste in den linken Gang zog. Sie rannten los. Doch als sie um die Ecke bogen, kamen ihnen bereits weitere Atheos entgegen. Ihr Fluchtweg war abgeschnitten. Eine kurze Weile standen sie stocksteif da und wusste nicht ein noch aus.

Dann schrie Celeste auf, als Mara plötzlich nach hinten gezogen wurde. Die Finger, die zuvor noch Celestes Handgelenk umschlungen hatten, griffen nun panisch nach den Händen, die sich in den Haaren der Septa verfangen hatten.

Ayla stand hinter ihnen und ragte über Mara auf, die in die Knie gegangen war.

»Ihr seid mir schon seit geraumer Zeit auf die Nerven gegangen«, stieß die Atheos hervor, bevor sie die Klinge über Maras Hals zog. Blut spritzte und verteilte sich zu Maras Füßen.

Celeste war wie erstarrt. Sie ging ebenfalls in die Knie und sah hilflos dabei zu, wie das Leben regelrecht aus Mara herausfloss. Eine rote Linie zierte ihren Hals und unaufhörlich quoll Blut daraus hervor.

Mit einem angewiderten Gesichtsausdruck ließ Ayla die Septa los, die leblos zur Seite fiel. Dann glitt der Blick aus ihren kalten Augen zu Celeste.

Der Körper der Priesterin zitterte. Sie war noch keine Stunde in der Hauptstadt und hatte bereits zwei Menschen sterben sehen. Zwei Menschen, die sie kannte, schätzte und die ihr hatten helfen wollen.

»Für Euch habe ich auch keinerlei Verwendung mehr, Himmelstochter«, sprach Ayla leise. »Das Einzige, was ich benötige, ist Euer Blut. Und dafür werde ich höchstpersönlich sorgen.« Sie drehte das Messer in ihren Händen, an dem Maras Blut klebte.

Ayla kam auf Celeste zu, die hilflos rückwärtsrobbte. Auf allen vieren kroch sie vor der Atheos zurück. Ihre Augen vor Entsetzen weit aufgerissen.

Ayla war eine Mörderin, die nicht zögern würde, auch Celeste auf der Stelle zu töten.

Die Priesterin schloss die Augen und schickte ihr letztes Gebet zu ihrer Göttin – da erklangen Schritte in den Gängen des Kerkers. Ein weiterer Atheos tauchte auf und näherte sich Ayla flugs.

»Espen verlangt nach dir. Sofort«, sprach er leise. Aber Celeste hatte es gehört. Furcht war in seiner Stimme zu hören. Furcht, die Celeste in Aylas Gegenwart sogar körperlich nachempfinden konnte.

Die Atheos fluchte. »Bring sie fürs Erste zurück in die Zelle«, zischte sie mit unheilvoller Stimme.

Doch der Atheos schüttelte langsam den Kopf.

»Die Priesterin soll nach oben gebracht werden. Lebend«, fügte der feindliche Soldat hinzu, als er die Waffe in Aylas Hand bemerkte.

Diese hob eine Augenbraue.

»Und wohin soll sie gebracht werden, wenn ich fragen darf? Will Espen sie sehen?«, fragte Ayla leicht verunsichert.

»Nein, sie soll in die Gemächer des Königs gebracht werden«, antwortete der Mann.

Celeste stockte der Atem bei diesen Worten. Nate! Man würde sie zu ihm bringen. Ihr Herz begann vor Freude laut zu klopfen. Trotz der Schrecken, die Celeste in den letzten Minuten erlebt hatte, weckte die Tatsache, dass sie ihn bald in ihre Arme schließen würde, neue Hoffnung in ihr.

Ayla lachte leise. Sie wischte das blutbeschmierte Messer an ihrer dunklen Kleidung ab und steckte es zurück in den Gürtel.

»Freut Euch nicht zu früh, Priesterin. Das wird Euer Abschied werden«, drang ihre Stimme an Celestes Ohr.

Ein dunkles Versprechen, das Celestes Hoffnung im Keim erstickte.

***

Nathaniel

Das Warten war die reinste Folter. Etwas ging in diesem Palast vor sich, doch Nate hatte nicht die Möglichkeit, dem nachzugehen. Die Atheos waren in Aufruhr. Sie waren nervös und gleichzeitig erfüllt von Euphorie. Keine gute Kombination, wenn man Nate fragte.

Ayla hatte sturmartig sein Zimmer verlassen, als sie eine Nachricht erhalten hatte. Zuerst war Überraschung auf ihrem Gesicht zu sehen gewesen, dann Freude und letztendlich Triumph. Sie hatte Nate angesehen, als wäre ihr Sieg zum Greifen nahe.

Seitdem tigerte er durch seine Gemächer. Immer auf der Hut, was als Nächstes geschehen mochte. Doch mit dem, was in diesem Moment hinter den Türen seines Zimmers passierte, hätte er niemals gerechnet. Schritte erklangen auf dem Flur, Gemurmel ertönte, dann wurde die Tür geöffnet.

Das Erste, was Nate sah, war eine Flut aus roten Locken. Dunkel wie die Frucht der Kirschen. Seine Augen weiteten sich bei diesem Anblick. Wie erstarrt blieb er stehen und starrte sie einfach nur an.

Zwei Atheos hielten sie fest und stießen sie unsanft in den Raum. Dann verließen die Wachen das Zimmer und Nate hörte, wie der Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde. Sie waren eingesperrt. Aber allein.

Celeste taumelte und fing sich gerade noch, um nicht der Länge nach auf dem Boden zu landen. Erst da erwachte Nate aus seiner Starre.

Er machte einen unsicheren Schritt auf Celeste zu. Als er das Blut auf ihrer hellen Kleidung entdeckte, stockte ihm der Atem. Schneller, als ihn seine Beine tragen konnten, hatte er die wenigen Meter, die sie trennten, überbrückt und sie in seine Arme gezogen.

Celeste stieß einen überraschten Laut aus, als er sie an seine Brust zog.

Sie war wieder bei ihm. In seinen Armen! Damit hatte Nate nicht mehr gerechnet. Er drückte sie fest an sich, vergrub sein Gesicht in ihren roten Locken. Der Duft von Zimt drang ihm in die Nase und Nate schloss die Augen. Wie sehr hatte er ihre Wärme und diesen Geruch vermisst.

Erst einige Sekunden später merkte er, dass Celeste seine Umklammerung nicht erwiderte. Ihre Arme hingen schlaff neben ihrem Körper. In Nate breitete sich absolute Kälte aus. Würde Selena recht behalten, mit dem, was sie gesagt hatte? Dass Celeste ihn nicht mehr lieben konnte, weil sie sich vor ihm fürchtete?

Langsam löste er seine Arme und schob Celeste etwas von sich, sodass er sie betrachten konnte. Ihre Augen waren trüb, das Gesicht ausdruckslos.

Bei genauerer Musterung fielen ihm die Blutspritzer auch auf ihrem Gesicht auf. Doch sie selbst schien unverletzt zu sein.

»Kätzchen?«, fragte er mit erstickter Stimme. Es jagte ihm eine Heidenangst ein, wie sie wie eine Statue vor ihm stand.

»Sie hat sie getötet«, war das Einzige, was die Priesterin von sich gab. Sie hielt den Blick gesenkt und starrte auf ihre Hände, die zitterten.

»Sie hat sie vor meinen Augen getötet.« Verzweiflung und Panik schwangen in ihrer Stimme mit. Doch Nate hob verständnislos eine Augenbraue. Von wem sprach sie?

Er griff nach ihren zitternden Händen und hielt sie fest. Erst da hob Celeste den Kopf und sah ihn an. Tränen schimmerten in ihren karamellfarbenen Augen.

»Mara und Yakim sind tot«, flüsterte sie.

Sein Herz hörte für einen Augenblick auf zu schlagen.

»Was redest du da?« Yakim stand auf der Seite der Atheos. Wer hätte ihn töten sollen?

Celeste schluckte schwer und biss sich auf die Unterlippe.

»Er wollte mir zur Flucht verhelfen, doch Ayla hat ihn getötet«, versuchte sie die Situation zu erklären.

»Yakim wollte dir helfen?« Das hatte Nate nicht erwartet. Der Septon hatte sich schließlich mit den Atheos verbündet. Für Nate ergaben die Worte der Priesterin keinen rechten Sinn. Und was tat sie überhaupt hier? Sie sollte in Samara sein, irgendwo in Sicherheit.

Celeste nickte zögernd.

»Er hat mich aus dem Kerker befreit. Mich und Mara. Doch Ayla hat …«, ihre Stimme brach und ein Schluchzen kam über ihre Lippen. Celeste hielt sich die Hand vor den Mund.

Nate zerriss dieser Anblick beinahe das Herz. Er zog sie wieder in seine Arme und dieses Mal schmiegte Celeste sich an ihn. Er fuhr ihr beruhigend über den Rücken. So kannte er sie nicht. Er hatte sie noch nie so aufgelöst gesehen. Sie war sonst immer die starke und mutige Priesterin.

Langsam sickerten ihre Worte in Nates Bewusstsein und brachten ein Gefühl hervor, das aus den Tiefen seines Seins zu kommen schien. Es war eine Mischung aus horrendem Schrecken und kalter Angst. Mara und Yakim waren tot. Ermordet durch Aylas Hand. Wer würde dieser Verrückten noch zum Opfer fallen, damit sie ihre Ziele erreichte?

»Wieso bist du hier?«, traute sich Nate seine Frage nun leise zu stellen.

Celeste löste sich nicht von ihm und ihre Stimme klang gedämpft, als sie sprach.

»Um dich zu befreien.«

Überrascht sah Nate auf sie herab. Sie wollte ihn befreien? Genau das war es gewesen, was sie nicht hatte tun sollen. Er hatte Karim darum gebeten, auf sie aufzupassen. Und trotzdem hatte dieses dickköpfige Weibsbild sich in solche Gefahr gebracht.

Der König schüttelte den Kopf, trotzdem hoben sich seine Mundwinkel leicht an.

»Und wie genau wolltest du mich retten?«, fragte er. Er ertrug es nicht, dass sie so verloren aussah.

Celeste hob den Kopf von seiner Brust und sah ihn an. Tränen schimmerten auf ihren Wangen und doch war sie wunderschön. Nur das Blut passte nicht in das Bild.

»Ich überhaupt nicht. Ich bin nur die Ablenkung.«

Nate hob eine Augenbraue. »Du bist was?« Was für einen absurden Plan hatte sie sich da nur ausgedacht? Ihm behagte es gar nicht, dass sie nach Solaris gekommen war. In die Höhle des Löwen. Und jetzt war sie auch schon in der Gewalt ihrer Feinde.

Die Priesterin sah sich hektisch um, als rechnete sie damit, dass jeden Moment Atheos den Raum stürmen könnten.

»Unsere Rettung ist unterwegs«, flüsterte sie dann.

»Von welcher Rettung sprichst du?«

»Von Zephyr und seinen Söldnern«, entgegnete sie und riss Nate mit diesen Worten den Boden unter den Füßen weg.

Seine Augen weiteten sich und er starrte sie an. Zorn wallte in ihm auf. »Wie bitte?«, fragte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Celeste funkelte ihn nur an. »Du hast mich verstanden.«

Ihm war es, als würde Eiswasser durch seine Adern fließen. Was war während seiner Abwesenheit in Samara geschehen?

»Woher kennst du Zephyr?«, fragte er stockend. Er hatte ihr nie von ihm erzählt. Zephyr gehörte zu seiner Vergangenheit. Einer Vergangenheit, die Nate vergessen wollte, aber es nicht konnte.

Celeste löste sich von ihm und trat einige Schritte zurück. Sie sah ihn mit einer undurchdringlichen Miene an. Nate wurde sofort kalt, als er ihre Wärme nicht mehr spürte.

»Du schuldest mir einige Erklärungen. Angefangen bei Mic und allem, was du in seinem Auftrag getan hast«, verlangte sie von ihm. Die Arme hatte sie vor der Brust verschränkt. »Und ob du ihn getötet hast.«

Für einen Moment starrte er sie einfach nur an. Er wollte das nicht. Wollte ihr nichts von alldem erzählen. Zu sehr fürchtete er sich vor ihrer Reaktion. Vor der Angst in ihren Augen. Doch dann seufzte er leise. Nate ging zum Bett und setzte sich.

»Willst du es wirklich wissen?«, fragte er und vergrub sein Gesicht in den Händen. Er schuldete ihr Antworten, da hatte sie recht. Und doch gefiel es ihm gar nicht.

»Sonst würde ich nicht fragen«, knurrte sie. Sie wirkte in diesem Moment herrisch und bestimmend wie eh und je. Verschwunden schienen Angst und Trauer und zurückgeblieben war die fordernde Priesterin. Es war ein hoher Preis, den er dafür zahlen würde, dass sie wenigstens nicht mehr so heillos verloren wirkte.

Nate schloss die Augen und dachte an seine Zeit bei Mic zurück. Dutzende Bilder schwirrten ihm durch den Kopf. Sie alle waren geprägt von Blut und Gewalt.

»Ich habe schlimme Dinge getan. Alles, was Ayla gesagt hat, war die Wahrheit«, gab er dann zu. Er traute sich nicht, Celeste dabei anzusehen. »Ich bin den Befehlen anderer gefolgt. Schlechten Befehlen. Ich habe nicht darüber nachgedacht, was sie von mir verlangt haben. Ich tat es einfach.«

Stille beherrschte den Raum. Das Einzige, was Nate hören konnte, war sein viel zu schnell schlagendes Herz. Die Stille raubte ihm den Atem und seine Hände begannen zu zittern. Wenn er den Blick hob, würde er dann in Celestes entsetztes Gesicht blicken, nun, da er Aylas Wahrheit bestätigt hatte?

»Du hast Mic also auch getötet«, erklang ihre Stimme. »Wie kannst du damit leben? Mit der Gewissheit, ein Leben genommen zu haben? Wie konntest du mich dahin mitnehmen, ihn töten und dann nichts sagen? Wie konntest du die ganze Zeit darüber lügen?« Ihr Tonfall war erfüllt von so vielen Emotionen, dass Nate sie nicht bestimmen konnte.

Noch immer traute er sich nicht, den Kopf zu heben.

»Mic wollte mich damals nicht gehen lassen. Er hat mich bedroht. Es war ein Instinkt, als ich ihm den Briefbeschwerer über den Kopf zog.« Nate erinnerte sich noch genau an diesen Moment. Lange Zeit hatte er ihn in seinen Träumen vor sich gesehen. Immer und immer wieder. Doch es waren keine Albträume gewesen. Mic war ein schrecklicher Mensch gewesen. Und wäre er heute noch am Leben, würde er weiterhin schlimme Dinge tun. Nates Mund verzog sich zu einer schmalen Linie.

»Mir tut es nicht leid um ihn«, gestand er mit dunkler Stimme.

Er hörte, wie Celeste scharf die Luft einzog und einige Schritte auf ihn zuging.

»Warum musstest du ihn töten?«

Ihre Frage war berechtigt und Nate wusste, dass sie seine Begründung nicht verstehen würde. Celeste war nicht wie er. Sie hatte keine Ahnung, wie er damals gelebt, was sein Leben auf der Straße bestimmt hatte. Er schaute auf. Sie stand händeringend vor ihm, doch jetzt war es Nate, der sie aus ausdruckslosen Augen ansah.

»Weil ich es wollte.«

Sie schien bei seiner Antwort zu erstarren. Nate fuhr sich mit der Hand über den Mund. Er hatte mit dieser Reaktion gerechnet. Und doch schmerzte es, nun die Angst in ihren Augen zusehen.

Doch statt zurückzuweichen oder ihn anzuschreien, überbrückte sie die Distanz zwischen ihnen, ging vor ihm in die Knie und griff nach seinen Händen.

»Warum hast du mir nicht die Wahrheit gesagt?«, wollte sie mit leiser, aber sehr eindringlicher Stimme wissen.

Nate sah sie verwirrt an, ließ ihre Nähe jedoch zu.

»Weil es nichts geändert hätte. Mic ist tot, ob ich es aus Notwehr getan habe oder nicht, ändert nichts daran.«

Verständnislosigkeit huschte über ihr blasses Gesicht.

»Bereust du es denn gar nicht, ihn getötet zu haben?«

Mit dieser Frage hatte er gerechnet und er wusste schon jetzt, dass Celeste seine Antwort nicht gefallen würde. Nate schüttelte den Kopf.

»Nein. Wenn du bereust, ein Leben genommen zu haben, hättest du es von vornherein nicht tun sollen. Reue ist töricht. Du kannst einen Mord nicht ungeschehen machen. Worin liegt der Sinn, ihn zu bereuen?« Es waren Mics eigene Worte gewesen, die Nate nicht vergessen hatte. Der Griff von Celestes Fingern wurde stärker.

»Ich verstehe dich nicht. Wie kannst du das Leben eines Menschen nehmen, ohne dass dir dessen Tod nahegeht?« Wut schwang in ihrer Stimme mit und Nate hätte bei diesem Klang beinahe erleichtert aufgeseufzt. Zorn war besser als Angst.

Nate blickte ihr in die Augen. Er war es leid, Geheimnisse vor ihr zu haben.

»Am Anfang ging mir jeder Tod nahe, eigentlich auch jetzt noch. Jeder Mord hinterlässt eine Narbe auf der Seele. Wie meine aussieht, möchtest du lieber nicht wissen«, fügte er leise hinzu. Seine Seele hatte tiefe Wunden, die niemals wieder heilen würden.

Celeste erhob sich, streckte die Hand nach seinem Gesicht aus und fuhr federleicht über seine Wange. Mitgefühl lag in ihren Augen, das Nate nicht einordnen konnte.

»Ich sehe deine Aura, das reicht mir.«

»Seit wann?«, fragte er erstaunt.

Nate war über diese Tatsache, dass sie die Auren anderer Gotteskinder nicht sehen konnte, immer erleichtert gewesen.

Sie zuckte mit den Schultern.

»Ich habe geübt. Und du leidest unter deinen Taten. Egal, was du eben gesagt hast, du bereust es.«

Nate verzog das Gesicht. Sie sollte ihn nicht so ansehen. Als würde sie Mitleid mit ihm empfinden. Die Einzigen, die Mitleid verdient hatten, waren die Menschen, dessen Leben er beendet hatte. Er war ein Monster und sie sollte aufhören, diese Tatsache zu verharmlosen.

»Celeste …«, begann er, doch sie fuhr ihm über den Mund.

»Spiel nicht den Helden«, sagte sie mit strenger Stimme. Ihre Hände umfingen sein Gesicht und sie zwang ihn, sie anzusehen. »Du kannst mir sagen, wenn es dir schlecht geht. Und dir geht es schlecht, das kann ich deutlich sehen. Oder vertraust du mir nicht?«

Er griff nach ihren Händen und hielt sie fest. Ihre Frage war erfüllt von Schmerz. In diesem Moment hatte Nate die Macht, Celeste zu brechen. Doch das war das Letzte, was er wollte.

»Ich bin kein Held«, begann er. »Ayla hat geholfen, mir die Augen über mein wahres Ich zu öffnen. Ich bin nicht der Mann, den du glaubtest, in mir zu sehen. Ich bin nicht der Mann, in den du dich verliebt hast.« Und diese Erkenntnis tat am meisten weh. »Ich trage die Krone, um Miro gerecht zu werden und meine Fehler von damals widergutzumachen. Doch das kann ich nicht. Mein ganzes Leben als Gotteskind, als Prinz, als König wurde auf einer Lüge aufgebaut.« Seine Stimme brach. Es waren Lügen, die er selbst erzählt hatte. Nate selbst war schuld an alledem.

»Alles, was ich damals getan habe, tat ich, weil ich es wollte. Weil ich es sogar genoss, weil es mir Spaß bereitet hat.« Er schloss betrübt die Augen bei diesem Geständnis. »Ich habe das Töten genossen. Es geht nicht darum, dass ich dir nicht vertraue. Ich habe dir immer vertraut. Aber ich vertraue mir selbst nicht.«

Zu viel Blut klebte an seinen Händen. Zu viele Leben hatte er genommen und zu viele Sünden aufzuzählen, für die er niemals Buße tun konnte. Es waren einfach zu viele.

Celeste sagte nichts, ihre Finger fuhren nur immer wieder sanft über sein Gesicht. Die Berührung tat gut, doch Nate ertrug sie nicht. Nicht, wenn er dabei war, seine Sünden aufzuzählen. Er löste ihre Hände von seinem Gesicht und sah sie an.

In ihren Augen sah er Bedauern. Sie senkte den Blick, bevor sie leise weitersprach.

»Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen. Mit unserem Kennenlernen hat all das hier angefangen.« Mit den Armen machte sie eine Bewegung, die den ganzen Raum einschloss. Nate wusste genau, was sie sagen wollte. Sie sprach von dem Töten, dem Lügen und den Gründen, die sie hierhergeführt hatten.

»Manchmal frage ich mich, ob es nicht besser wäre, wenn wir uns nie begegnet wären«, fügte sie dann ganz leise hinzu. Und riss mit diesen Worten Nates Herz beinahe entzwei.

Hastig griff er nach ihren Schultern, damit sie sich nicht von ihm abwenden konnte. Panik hatte von ihm Besitz ergriffen. Und Angst, dass sie ihn hier und jetzt verlassen würde.

»Sag so etwas nicht. Du darfst es nicht einmal denken. Ich bin nur froh, dass ich dir begegnet bin«, schrie er ihr beinahe entgegen.

Celeste sah ihn gequält an. »Nathaniel …«

»Alles in meinem Leben hat mich zu dir geführt. Meine Entscheidungen, meine Verluste, meine Fehler. Einfach alles. Und wenn ich bei dir sein kann, war es all das wert.« Ihre Nähe gab ihm Kraft, ihre Wärme vertrieb seine Schatten und wenn sie lächelte, war der Schmerz in ihm beinahe verschwunden.

»Wenn ich auch nur eine Sache in meinem Leben anders gemacht hätte, wären wir uns vielleicht nie begegnet und vielleicht wäre ich auch nie berufen worden. Wer kennt schon die Wege der Götter?«

So viel war ihm inzwischen klar geworden. Ilias musste ihn berufen haben, eben weil er der war, der er war. All seine Fehler und Taten, der Gott der Sonne wusste von ihnen. Und dennoch hatte er Nate berufen. Oder vielleicht gerade deswegen.

Ein trauriges Lächeln erschien auf Celestes Gesicht.

»Wir haben uns gegenseitig verändert. Bevor ich dir begegnet bin, wäre ich nie auf die Idee gekommen, mich als Geisel anzubieten. Oder gar die königliche Armee anzuführen.« Ein bitteres Lachen erklang, als sie den Kopf schüttelte, offenbar erstaunt über ihre eigenen Taten.

Nate hingegen lächelte nur. »Du bist stärker geworden.«

»Ebenso wie du.«

Veränderungen waren notwendig, wenn sie in Zeiten wie diesen überleben wollten. Nate legte die Hand an Celestes Kinn. Sein Daumen strich über ihre Unterlippe.

»Wir bringen das Beste und das Schlechteste in dem jeweils anderen zum Vorschein. Es hat nur etwas gedauert, bis wir beide das erkannt haben.«

Celeste lehnte sich in seine Berührung. »Weil wir es nicht wahrhaben wollten.«

Er nickte zustimmend. Von Anfang an war ein Feuer zwischen ihnen gewesen. Doch keiner von ihnen hatte es sehen wollen. Zu groß war die Angst vor einer Zurückweisung gewesen, davor, verletzt zu werden. Sie beide schleppten Altlasten mit sich herum, die sie nicht hinter sich lassen konnten.

»Seit dem Tod meiner Mutter wollte ich für niemanden etwas empfinden, dessen Verlust ich nicht würde verkraften können. Ich wüsste nicht, was ich täte, wenn dir etwas passieren würde«, wisperte er.

Celeste lehnte ihre Stirn gegen seine. Nate schloss die Augen.

»Ayla hätte mich schon fast im Kerker getötet«, gestand Celeste.

Die Situation war absurd. Sie waren beide in der Gewalt ihrer Feinde, die sie jederzeit töten konnten.

»Es könnte darauf hinauslaufen, dass wir beide sterben«, sagte Celeste langsam. Sie schien in Gedanken versunken zu sein. »Was hat sie nur vor?«, flüsterte sie dann mehr zu sich selbst. »Yakim hat von irgendeinem Ritual gesprochen.«

Nate wurde hellhörig. »Selena ebenfalls. Aber ich weiß leider auch nicht, worum es geht.« Die Mondtochter hatte gesagt, dass dieses Ritual die Welt verändern würde. Und diese Veränderung würde nicht zugunsten der Gotteskinder ausfallen, so viel war Nate bewusst.

»Dann rechnen wir wohl besser mit dem Schlimmsten«, entschied Celeste. Sie lehnte sich an ihn und ihre Lippen strichen über die seinen.

»Ganz die Pessimistin«, sagte er, während sich ihre Lippen sanft berührten. Nate genoss ihre Berührung, viel zu lange hatte er darauf verzichten müssen und am liebsten hätte er sie fest an sich gedrückt und nie wieder losgelassen.

Die Priesterin lachte leise. Es war ein trauriges Lachen.

»Wohl eher Realistin.« Celeste fuhr mit ihrem Mund die Linie seines Kiefers nach. Ein Schauer rann Nate über den Rücken.

»Kätzchen?«, erklang seine rauchige Stimme.

»Ja?«

Er schob sie von sich, um ihr in die Augen sehen zu können. Sie beide sahen wohl das gleiche Bild: Einen Menschen, der kurz vor dem Ende in den Armen seiner Liebe lag. Verzweiflung und Sorge in den Augen. Bedauern im Herzen.

Nate schluckte schwer. Er versuchte sich jedes Detail ihres Gesichts einzuprägen.

»Egal, wie die Sache hier enden wird, du sollst wissen, dass ich dich liebe.«

Celestes Augen weiteten sich, dann erschien ein Lächeln auf ihren Lippen.

»Ich liebe dich auch«, hauchte sie, bevor sie ihre Lippen in einem verzweifelten Kuss auf seine presste.

Die Hoffnung, dass ihre Freunde sie rechtzeitig erreichten, schwang noch immer in ihm mit. Sie war nur ein kleiner Funke, aber diesen wollte Nate nicht ausgehen lassen.

Als die Türen zu seinen Gemächern geöffnet und sie aus dem Raum gezerrt wurden, spürte Nate noch immer den Kuss auf seinen Lippen. Er fühlte Celestes Wärme, ihre Finger auf seiner Haut. Und er spürte die Liebe zu ihr tief in seinem Inneren. Egal, was sie nun erwarten würde, wie das Ende aussehen mochte, sie war an seiner Seite. Jetzt und für immer.