KAPITEL 18

SCHACHMATT

Vignette

Nathaniel

Der Weg durch die Gänge des Palastes fühlte sich an wie der Gang zum Schafott. Jeder Atheos, der ihnen begegnete, sah sie mit einem hämischen Grinsen auf den Lippen an. Hass und Triumph lagen in ihren Augen. Jedes Mal biss Nate die Zähne zusammen. Am liebsten hätte er nach Celestes Hand gegriffen, doch ihnen waren die Hände gefesselt worden und vier Atheos liefen neben ihnen.

Als er einen Blick zum Rotschopf riskierte, sah sie noch blasser aus als sonst und Nate machte sich Sorgen um sie. Doch in ihren Augen loderte das altvertraute Feuer. Sie war bereit zu kämpfen. Und falls nötig, kämpfend zu sterben. Genauso wie er.

Sie befanden sich nun im Erdgeschoss des Palastes und Nate fragte sich, wohin die Atheos sie bringen würden. Als sie den Thronsaal erreichten, wurden Stimmen laut. Stimmen, die Nate unter tausenden erkennen würde. Zu oft hatte er sie in den letzten Wochen gehört. Sie verfolgten ihn sogar in seinen Träumen. Es waren Sadik und Ayla. Und gerade donnerte die Stimme des ehemaligen Offiziers durch den Palast. Er war wütend. Nein, das beschrieb es nicht ansatzweise. Sadik war fuchsteufelswild.

Die Atheos, die sie bewachten, tauschten unsicherer Blicke. Nate konnte ihre Sorge verstehen. Einem wütenden Sadik ging man lieber aus dem Weg.

»Ich gehe nachsehen, was da los ist, wartet hier«, sagte einer ihrer Wachen und ließ Nate an einer Seite los. Er öffnete die Türen zum Saal und das Geschrei wurde noch lauter.

»Du hast sie getötet!«, schrie Sadik in dem Moment, in dem der Atheos in den Thronsaal ging. Die Tür wurde nicht wieder geschlossen, sondern lediglich angelehnt.

Nate wurde hellhörig. Von wem sprach Sadik da? Aylas Liste an Morden war lang.

Ein Schnauben erklang und Nate konnte sich vorstellen, dass Ayla in diesem Moment mit den Augen rollte.

»Sie wollte der Priesterin zur Flucht verhelfen, Sadik. Was hätte ich deiner Meinung nach tun sollen?«, erwiderte Ayla auf Sadiks Anschuldigung.

Der König sah zu Celeste. In ihren Augen spiegelte sich Trauer und Schuld wider. Sie sprachen von Mara, der Septa von Sirena, die durch Aylas Hand den Tod gefunden hatte, als sie dabei gewesen war, Celeste zu helfen.

Ein Brüllen erklang, das Nate zusammenzucken ließ. Es war erfüllt von Schmerz. Doch er verstand diesen Gefühlsausbruch nicht. Warum nahm Sadik Maras Tod so sehr mit?

»Das war nicht Teil der Abmachung!«, schrie der ehemalige Offizier. Auch wenn Nate Sadik nicht sehen konnte, konnte er sich vorstellen, wie der Hüne in diesem Moment aussah. Die Ader auf seiner Stirn pochte bedrohlich und sein Adamsapfel trat hervor. Die Hände waren zu Fäusten geballt und er hatte sich vor Ayla aufgebaut, die fast zwei Köpfe kleiner als er war.

»Du hast versprochen, dass ihr nichts passiert.« Hinter der Wut in seiner Stimme konnte Nate Verzweiflung hören. Er sah verwirrt zu Celeste und was er in ihren Augen sah, irritiere ihn noch mehr. Tränen schimmerten darin. Als sie seinen fragenden Blick bemerkte, legte sie sich die gefesselten Hände auf ihre Brust. Direkt über ihr Herz. Was wollte sie ihm damit sagen?

Jetzt drang plötzlich Stille aus dem Thronsaal zu ihnen in den Flur. Für einen Moment meinte Nate, Sadik hätte Ayla erschlagen, doch so leicht würde sich die Atheos sicher nicht besiegen lassen. Leider.

»Ich habe gesagt, dass ihr nichts passieren wird, solange sie tut, was ich will. Aber das hat sie nicht. Also gib jetzt nicht mir die Schuld, dass sie sich auf der falschen Seite meines Messers wiedergefunden hat«, zischte Ayla.

Sie bereute ihre Tat nicht. Ganz offensichtlich. Und langsam fragte sich Nate, ob Ayla so etwas wie Mitgefühl oder Schuld überhaupt kannte.

Ein Donnern war zu hören, als wäre etwas Schweres auf den Boden geworfen worden.

»Ich habe dir vertraut.« In Sadiks Stimme klang purer Hass mit.

»Dann liegt die Schuld offensichtlich nicht bei mir. Es war schließlich dein Fehler, mir zu vertrauen«, war Aylas schnöde Antwort darauf.

Das wäre der Moment, in dem Nate sie getötet hätte, wenn er an Sadiks Stelle gewesen wäre. Ayla behandelte andere Menschen und ihre Gefühle wie Dreck.

»Du gefühlskaltes Miststück«, drang Sadiks tobende Stimme wieder zu ihnen nach draußen.

Schritte ertönten und das Ziehen von Schwertern war zu hören. Wandten sich die Atheos nun gegeneinander? Für Nate war das ohnehin nur eine Frage der Zeit gewesen. Jeder der sogenannten Anführer hatte offenbar eine andere Vision von Sirions Zukunft.

Die Wiedervereinigung mit den Göttern, die durch die Zerstörung der Gotteskinder geschehen sollte, war Yakims Vorstellung der Zukunft gewesen. Doch er hatte seinen Fehler eingesehen.

Die Freiheit für das Volk, entstanden durch allumfassendes Chaos, war Sadiks Wille.

Und Ayla strebte Gleichheit unter den Menschen an, indem sie diejenigen verfolgte und tötete, die nicht in dieses Bild passten.

Doch die drei Visionen waren nicht miteinander vereinbar.

Waren die Atheos so geblendet von ihrem Streben nach Macht, dass sie ihre Unterschiede nicht sehen konnten? Oder glaubte jeder einzelne von ihnen, dass er seine Mitstreiter überwältigen könnte, sobald sie erst ihr erstes, gemeinsames Ziel, die Gotteskinder zu vernichten, erreicht hätten?

»Sadik, steck das Schwert weg und beruhige dich!«, sagte Ayla mit scharfer Zunge. »Ich habe mich an unsere Abmachung gehalten. Mara ist für ihren Untergang selbst verantwortlich, ebenso wie Yakim.«

Ein Grollen erklang, das wohl aus Sadiks Kehle stammte. »Aber Yakim war nicht meine Frau

Nates Augen wurden bei diesen Worten groß. Er sah zu Celeste, die kaum merklich nickte. Sadik und Mara waren verheiratet gewesen? Seine Gedanken rasten. Es ergab Sinn. Als er mit Sadik gesprochen hatte, hatte Nate vermutet, dass Ayla etwas gegen ihn in der Hand hatte. Doch dass es sich um Mara gehandelt hatte, hatte jenseits von Nates Vorstellungskraft gelegen.

Wie mochte sich die Septa vor all den Jahren gefühlt haben, als ihr eigener Ehemann die Priesterin ihrer Region entführt hatte? Ein kleines Mädchen, dessen Mentorin Mara gewesen war. Nate wollte sich den Schmerz dieser Frau nicht vorstellen. Das Gefühl von Verrat musste überwältigend gewesen sein.

»Lass es mich wiedergutmachen«, sagte Ayla in einem versöhnenden Tonfall und holte Nate damit zurück in die Realität. »Espen war zwar dagegen, die Minister zu töten, aber er ist gerade nicht hier, um uns daran zu hindern. Wie wäre es, wenn du dich an jenen rächst, die dich damals hintergangen und verurteilt haben?«

Nates Blut gefror zu Eis. Nein! Auch aus Celestes Kehle drang ein Keuchen. Sadik würde die Minister töten, einen nach dem anderen. Ohne sie wäre die Herrschaft in Solaris und in ganz Sirion gefährdet. Nate war zwar der König, aber ohne die Minister des Landes fehlte ihm das spezielle langjährige und gehütete Wissen, das es für eine gerechte und umsichtige Regierung benötigte.

»Einverstanden«, erklang Sadiks dunkle Stimme. »Aber glaub ja nicht, dass ich mit dir fertig bin.«

Nate hörte, wie Sadik den Thronsaal verließ. Doch er kam nicht an ihnen vorbei, sondern benutzte offenbar einen der Seitenausgänge. Stattdessen erklangen andere, leichtere Schritte. Die Türen wurden aufgerissen und Ayla erschien in ihrem Blickfeld. Hinter ihr trat auch ihre Wache wieder aus der Tür.

Statt ihrer typischen, weit ausgeschnittenen Kleider trug sie eine schwarze Lederrüstung. Messer hingen an Aylas Hüften und ein bedrohlicher Ausdruck lag auf ihrem Gesicht.

»Schön, euch beide zu sehen. Ich hoffe euer Widersehen verlief so, wie ihr es euch vorgestellt habt.« Ein harter Zug lag um ihren Mund und Nate schnaubte bei ihren Worten.

Sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern drehte sich um und lief den Gang hinab. Ein Stoß traf Nate in den Rücken und er taumelte nach vorn. Knurrend setzte er sich in Bewegung und folgte Ayla. Celeste lief neben ihm her.

Sie warf den vier Atheos, die hinter ihnen gingen, einen kurzen Blick zu.

»Wir müssen die Minister warnen. Sadik darf sie nicht töten«, sagte sie mit gesenkter Stimme in Nates Richtung.

Nate nickte »Ich weiß«, flüsterte er. Vielleicht würde es ihm gelingen, die Atheos zu überwältigen. Aber vier Atheos und Ayla? Das war unmöglich. Und dann war da noch Celeste, die es zu beschützen galt.

»Aber ich kann dich nicht hier zurücklassen.« Wenn er floh, gab es niemanden mehr, der auf ihrer Seite stand.

Celeste sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an.

»Sollte einer von uns die Möglichkeit haben, ihnen zu helfen, werden wir diese Change ergreifen.« Ihre Stimme ließ keine Widerrede zu, auch wenn sie nur ein Wispern war.

Nate wollte zu einer Erwiderung ansetzen, doch da drehte sich Ayla mit einem Seufzen um. Die Hände hatte sie in die Hüften gestemmt.

»Was flüstert ihr denn da? Seid endlich still.« Sie schien genervt zu sein, doch das kümmerte Nate nicht.

»Du kannst es wohl nicht erwarten, uns endlich zu töten, was?« Er sah sie voller Abscheu an. Sie waren stehen geblieben und Nate erkannte nun ihr Ziel. Dieser Flur führte hinaus auf die Terrasse und zu den königlichen Gärten.

Ayla legte den Kopf schief und musterte ihn.

»Da hast du recht. Aber keine Sorge, Nate, dich hebe ich mir bis zum Schluss auf.«

Die Augen des Königs wurden schmal und ein bitteres Lachen entkam ihm. »Wie großzügig.«

Die Atheos versank in einem Knicks, doch nichts Demutsvolles lag darin.

»Immer wieder gern, Eure Majestät.« Sie lachte rau auf, ihre Augen waren getränkt von Hass.

»Inzwischen wirst du von jedem als König verehrt«, fuhr sie fort. »Beim Schach ist der König die mächtigste und gleichzeitig die schwächste Figur auf dem Feld. Er ist der Einzige, der übrig bleibt, während alle anderen um ihn herum fallen.« Der Blick aus ihren kalten Augen wanderte zu Celeste und ihre Mundwinkel hoben sich.

»Genau das wird dein Schicksal sein, Nathaniel. Sieh zu, wie jeder, den du liebst, dir genommen wird.«

Nate erstarrte bei dieser Drohung. Ayla würde Celeste vor seinen Augen töten. Daran hatte er keinen Zweifel mehr. Allein der Gedanke daran schnürte ihm die Kehle zu.

Doch Ayla ging nicht weiter darauf ein. Sie schenke ihm ein letztes Grinsen, drehte sich um und ging weiter den Flur entlang. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.

Nate starrte auf den Boden vor sich, als er an der Schulter angestoßen wurde. Celeste lief dicht neben ihm und sah ihn eindringlich an. Aylas Worte schienen ihr nichts ausgemacht zu haben. Nicht die Spur von Angst lag auf ihrem Gesicht, nur pure Entschlossenheit.

»Hast du mich verstanden?«, flüsterte sie wieder.

Der König schüttelte den Kopf. »Aber Celeste …«

»Ihr Leben geht vor!«, unterbrach sie ihn leise zischend.

Als er langsam nickte, war es eine Qual für ihn. Doch Celeste schien mit dieser Geste zufrieden zu sein.

»Gut, dann nutze die Chance«, sagte sie eindringlich.

Danach ging alles sehr schnell. Sie warf sich mit ihrem zierlichen Körper gegen den Atheos, der ihr am nächsten stand. Zusammen gingen sie zu Boden.

Nate starrte auf Celeste hinab, die mit dem Atheos auf dem Boden rang. Die Angst, dass ihr etwas passieren konnte, erfasste ihn. Doch es war nur ein Wimpernschlag, bevor er reagierte. Ein zweiter Atheos war seinem Kameraden zu Hilfe geeilt, während Ayla sich irritiert umdrehte.

Der Sohn der Sonne nutzte diesen Moment, um den Atheos, der ihm am nächsten stand, die Faust ins Gesicht zu rammen. Ein hässliches Knacken war zu hören. Sie mochten ihm die Hände gefesselt haben, aber ihrer Kraft und Zielsicherheit waren sie damit nicht beraubt.

Mit einem Stöhnen griff der Atheos nach seiner blutenden Nase und ging in die Knie. Nate wandte sich dem nächsten der Männer zu und zog ihn in dem Moment schützend vor sich, als das erste Messer flog. Aylas Klinge bohrte sich in die Brust des Atheos, der ein Keuchen ausstieß und leblos zu Boden sackte, als Nate ihn losließ. Da waren es nur noch zwei. Zwei und Ayla. Die beiden Atheos zogen gerade Celeste wieder auf ihre Füße und Ayla holte mit dem nächsten Messer aus.

Mit einem geschickten Sprung duckte sich Nate unter der todbringenden Waffe hinweg. Stattdessen zog er das Messer aus der Brust des toten Atheos und befreite sich von den Fesseln.

Er hörte einen Schrei und blickte entsetzt zu Celeste. Doch diese schien die beiden Atheos ordentlich auf Trab zu halten. Der eine hatte einen Arm um ihren Bauch geschlungen, der andere hielt sich den Schritt, den Celeste offenbar gerade mit ihrem Fuß getroffen hatte.

»Dass du auch immer Ärger machen musst«, zischte Ayla und ging auf ihn los. Mit zwei Messer in den Händen bewegte sie sich mit einer Schnelligkeit und Präzision, die Nate nicht von ihr erwartet hatte. Nur mit einem kleinen Messer bewaffnet war er ihr unterlegen. Das musste er ändern.

»Halt still, du kleines Biest, oder ich schlitze dir die Kehle durch«, sagte in diesem Moment der Atheos, der Celeste umklammert hielt.

Mit einem wütenden Funkeln in den Augen drehte sich Ayla zu dem Mann um und zischte ihn an.

»Untersteh dich, sie ist für unsere Pläne viel wichtiger als du es bist!«

Diesen Moment der Unachtsamkeit nutzte Nate, um Ayla eines ihrer Messer aus der Hand zu schlagen. Doch mit ihrer schnellen Reaktion hatte er nicht gerechnet. Sie drehte sich blitzschnell um und die Klinge des verbliebenen Messers blitzte auf, bevor Ayla sie über Nates Brust zog.

Er keuchte auf, doch um über den Schmerz nachzudenken, hatte er keine Zeit. In seinen Ohren hörte er Celestes entsetzten Aufschrei und das Brüllen seines Namens, der über ihre Lippen kam.

Der König biss die Zähne zusammen, als er Aylas nächsten Hieb parierte, ihren Arm festhielt und ihr mit voller Wucht das Knie in den Bauch rammte. Er hatte kein Mitleid mit ihr. Ayla ging zu Boden.

Nate wandte sich Celeste zu. Sie sah ihn mit Sorge in ihren karamellfarbenen Augen an. Er trat einen Schritt auf sie zu, doch die Priesterin schüttelte den Kopf.

»Nun lauf endlich los!«, schrie sie ihm entgegen.

Es kostete Nate alle Überwindung, ihrer Aufforderung nachzukommen. Er wollte sie nicht allein lassen, nicht in den Händen ihrer so aufgebrachten Feinde. Aber Celeste hatte recht. Die Minister dieses Landes brauchten seine Hilfe. Niemand sonst würde sich Sadik in den Weg stellen.

Also biss Nate die Zähne zusammen und lief los. Den Flur hinunter in die Richtung der Schlafgemächer der Minister.

Er hörte laute Stimmen hinter sich, doch Nate blieb nicht stehen. Der Atheos, dem Celeste in den Schritt getreten hatte, wollte ihm folgen, doch aus dem Augenwinkel sah Nate, wie Ayla den Kopf schüttelte.

»Ist schon in Ordnung, lasst ihn gehen. Wir haben, was wir brauchen.« Mit einem triumphierenden Lächeln auf den Lippen hielt sie das Messer hoch. Blut schimmerte auf der spitzen Klinge. Sein Blut.

»Aber Ayla, er wird versuchen zu fliehen«, protestierte der Mann. Nate entfernte sich weiter und weiter.

»Soll er doch. Wenn wir fertig sind, wird es keinen Ort mehr geben, an dem er sich verstecken kann.«

Nate hörte Ayla Stimme nur noch von weit her, während er sich seinen Weg durch die verwinkelten Flure des Palastes bahnte. Er wurde nicht verfolgt und dennoch musste er sich beeilen, wenn er die Minister retten wollte.

Ein Schmerz schoss durch seinen Körper. Und es war nicht die Wunde, die die Klinge verursacht hatte. Er hatte Celeste in der Gewalt ihrer Feinde zurückgelassen. Das würde er sich niemals verzeihen.

Keuchend lehnte er sich an die nächste Wand und versuchte aufrecht zu stehen. Blut lief aus der Wunde an seiner Brust. Sein Atem wurde schwerer. Es war wie Musik in den Ohren seiner Feinde.

***

Celeste

Als sie die Terrasse betraten, die zu den königlichen Gärten führte, wartete dort Selena bereits auf sie. Sie trug ein schneeweißes Gewand mit zwei langen Schlitzen an den Seiten, darunter eine schwarze Lederhose.

Die Dunkelheit der Nacht wurde durch unzählige Feuerschalen vertrieben, deren tanzende Flammen eine unheimliche Atmosphäre verbreiteten. Es war beinahe taghell.

Sie hob den Kopf und ihre Stirn legte sich in Falten.

»Wo ist Nathaniel?«, fragte sie an Ayla gewandt. Sorge lag auf ihrem blassen Gesicht.

Ayla schnaubte. »Er ist geflohen. Tut mir leid.« Sie stieß Celeste zu Boden, direkt vor die steinerne Balustrade, wo die Priesterin liegen blieb.

»Hast du ihn getötet?« Selenas Stimme klang zögerlich. Als wollte sie sich nicht vorstellen, dass Nate nicht mehr am Leben war. Celeste hätte beinahe laut geschnaubt. So leicht war Nate nicht zu töten. Auch nicht durch Ayla.

Die Atheos schüttelte den Kopf und schenkte ihrer Schwestern ein sanftes Lächeln.

»Nein, das könnte ich dir niemals antun.«

Selena nickte nur und blickte auf den Altar, der auf der Terrasse errichtet worden war. Ein weißes Tischtuch lag darauf, auf dem eine große Schale aus Metall stand, in der die Mondtochter nun ein Feuer entzündetet. Als die Flammen groß genug waren, nickte sie.

»Es ist an der Zeit.«

Ein euphorischer Ausdruck trat auf Aylas Gesicht und sie stellte sich dicht neben Selena.

»Lass uns beginnen, Schwester!«

Celeste schüttelte den Kopf und stemmte sich auf die Knie.

»Selena, bitte, ich flehe dich an: Was immer du vorhast, hör nicht auf sie!« Ihre Stimme hallte über die Terrasse hinweg. »Du bist eine Priesterin, ein Gotteskind, tu nichts, was Sirion schaden würde. Du willst doch nicht, dass dieses Land ins Chaos stürzt.« Flehend sah sie Selena an, doch in den Augen der Mondtochter sah sie nichts als Dunkelheit.

»Du irrst dich, es ist genau das, was ich will«, verkündete Selena. Ayla neben ihr grinste zufrieden.

»Du hast sie gehört«, sagte sie an Celeste gewandt. »Selena steht auf meiner Seite.«

Zorn flammte in Celeste auf und sie biss die Zähne zusammen.

»Weil du sie von Anfang an manipuliert hast!« Selena war nur eine Puppe, die Ayla nach ihrem Willen lenken konnte.

»Rede keinen Unsinn«, erklang die Stimme der Atheos.

Doch Celeste blieb nicht still. Wenn es ihr gelang, Selena zur Vernunft zu bringen, könnte sie dem Unheil vielleicht noch ein Ende setzen.

»Du wolltest berufen werden, doch stattdessen hat Zahira sich für Selena entschieden. Also lässt du jetzt sie nach deiner Pfeife tanzen.«

Selena fuhr ruckartig zu Celeste herum. Ihr Gesicht war wutverzerrt.

»Rede nicht so über meine Schwester!«, spie sie der Priesterin entgegen und Celeste riss erschrocken die Augen auf. Ayla lachte leise und fuhr sich durch die dunklen Haare.

»Celeste, habt Ihr wirklich geglaubt, dass diese Information neu ist für meine Schwester? Es stimmt, ich wollte zur Priesterin berufen werden, aber die Götter haben mich nun mal nicht für würdig erachtet.«

»Sie haben sich geirrt«, widersprach Selena sanft und legte ihrer Schwester eine Hand auf den Unterarm. »Du bist diejenige, die dieses Land braucht.«

Ein warmer Ausdruck huschte über Aylas Gesicht. »Ich danke dir.« Sie verschloss ihre Finger mit Selenas.

Celeste kniff die Augen zusammen. Ihre Strategie würde nicht aufgehen. Die Schwestern standen sich zu nahe, als dass sie sie gegeneinander würde aufbringen können.

»Was immer ihr vorhabt, stoppt diesen Irrsinn. Kehrt nach Sohalia zurück und ich gebe Euch mein Wort, dass nichts von alldem gegen Euch verwendet wird.«

Hier und jetzt würde Celeste den Eid ablegen, dass niemand die beiden Schwestern für ihre Taten bestrafen würde. Es würde ein schwieriges Unterfangen werden und es würde sie einiges an Überredungskunst kosten, doch sie würde es versuchen. Solange die beiden für immer auf Sohalia bleiben würden. Doch die Antwort war ein finsteres Lachen von Ayla.

»Ihr wollt uns ins Exil schicken?«, fragte sie mit dunkler Stimme. »Dafür steht Ihr in keiner guten Verhandlungsposition, Priesterin. Seht dabei zu, wie Euer geliebtes Sirion fällt.«

»Nein!«, schrie Celeste. Da kam Ayla auf sie zu, eines ihrer Messer in den Händen. Celeste wich zurück, soweit es ihr möglich war. Doch die Balustrade war in ihrem Rücken. Es gab kein Entkommen.

»Es wird nur ganz kurz wehtun«, flüsterte Ayla. Doch in ihren leisen Worten schwang nichts Beruhigendes mit.

Würde sie Celeste nun die Kehle durchschneiden, so, wie sie es bei Mara getan hatte?

Als Ayla mit dem Messer ausholte, kniff Celeste die Augen zusammen. Sie war nicht stark genug, um dem Tod mutig ins Auge zu blicken. Um ihn mit offenen Armen willkommen zu heißen.

Doch dann spürte sie nur ein Brennen auf ihrer Wange. Etwas Nasses floss ihr Gesicht hinab.

Celeste öffnete die Augen. Ayla betrachtete zufrieden die Klinge des Messers, an der Celestes Blut klebte. Sie hatte nur einen leichten Schnitt auf der Wange. Mehr nicht.

»Danke, Gotteskind«, hauchte Ayla ihr zu und trat dann zurück an Selenas Seite.

Fassungslos sah Celeste dabei zu, wie Selena nun eine Schriftrolle entfaltete und offenbar mit einem Ritual begann, den sie las murmelnd Worte von dem Papier ab.

Die Priesterin konnte diese nicht recht verstehen, sie schienen nicht in ihrer Sprache zu sein. Da erhellte es sie wie ein Geistesblitz: Das war das Ritual! Das Ritual, von dem Yakim und auch Selena gesprochen hatten. In dem Moment, in dem Selena den ersten Satz laut ausgesprochen hatte, kam starker Wind auf und ließ die Flammen in den Feuerschalen wild tanzen. Dann zuckten Blitze über das Firmament, Donner grollte und verschluckte die Worte der Mondtochter. Als wollten die Götter selbst sie daran hindern, dieses Ritual zu vollziehen.

Ayla reichte ihrer Schwester ein Taschentuch, welches Celeste sofort als jenes erkannte, welches Espen Linnéa gereicht hatte, als diese gestürzt war und sich den Kopf aufgeschlagen hatte.

Selena warf es ins Feuer. Das Feuer leuchtete grünlich auf und die Flammen schossen in die Höhe. Selena und Ayla lächelten sich an. Während Celeste die Galle hochkam. Sie wandte den Blick ab und starrte hinab auf die königlichen Gärten. Was sie dort sah, raubte ihr jedoch den Atem.

Die Sträucher und Blumen, die sonst in den buntesten Farben erstrahlten und seit dem Tod von Lilian vertrocknet waren, zerfielen in diesem Moment zu Staub. Ebenso die Blätter der Bäume. Die Erde in den königlichen Gärten schien plötzlich wie von Asche bedeckt. Der Anblick war unheimlich und unheilvoll und Celeste entfuhr ein entsetztes Keuchen. Mit dem Blutstropfen der Waldtochter schwand die Macht der Waldgöttin Silvia ganz. Sie war die Erste, die fiel.

Als Celeste wieder zurück zu Selena sah, nahm diese gerade von Ayla eine kleine Phiole voll Blut entgegen. Als Selena die Flüssigkeit in die Flammen schüttete, färbten diese sich blau. Wie die tosenden Wogen des Meeres.

Malia, schoss es der entsetzten Priesterin durch den Kopf. Doch woher hatten sie ihr Blut?

Das Rauschen von Wellen erklang und Celeste blickte hinab. Solaris lag nicht am Meer, sie befanden sich im Zentrum von Sirion. Doch der königliche Palast grenzte an einen See und kleine Teiche waren in den Gärten angelegt worden. Das Wasser darin tobte in diesem Augenblick, als würde es sich gegen die fremde Magie zur Wehr setzen. Doch es hatten keine Chance. Die Teiche versiegten. Fische blieben im Trockenen zurück. Marisa, die Göttin des Meeres, hatte sie verlassen.

Ein tiefer Schmerz schoss durch Celestes Körper. Alles in ihr schrie auf. Sie wollte kämpfen, doch sie konnte es nicht. Es war ihre Aufgabe, dieses Land zu beschützen, und doch konnte sie nur tatenlos dabei zusehen, wie es unterging.

Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Ayla Selena das Messer reichte, mit dem sie Celeste eben verletzt hatte. Celeste hielt den Atem an. Bitte nicht!

Selena hielt das Messer über die Flammen. Ein einzelner Tropfen Blut fiel hinab und als er das Feuer berührte, keuchte Celeste auf. Ein Schrei entkam ihrer Kehle und sie kippte nach vorn. Schmerz erfasste ihren Körper und Celeste riss panisch die Augen auf. Die Flammen loderten in einem rubinroten Licht auf und schossen empor. Während das Feuer wütete, schrie Celeste ihre Qual hinaus. Von innen fraß sich etwas durch ihren Körper, das Celeste nicht aufhalten konnte. Die Schmerzen waren nicht zu ertragen.

Sie hob den Kopf und blickte hinauf zum Himmel. Er war pechschwarz und undurchdringlich. Eine einzige dunkle, allesverzehrende Masse. Und mittendrin stand mit einem Mal die Sonne, ganz allein und nackt, an diesem schwarzen Firmament. Es schien, als hätte sie kaum noch die Kraft, gegen die Finsternis anzustrahlen. Als würde sie bald auch von ihr verschluckt werden. Es war ein absurdes Bild. Eine goldene Sonne auf pechschwarzem Grund. Es erschien Celeste so irreal. Unmöglich. Tränen rannen ihre Wangen hinab. Samaya hatte sie verlassen. Die Göttin des Himmels weilte nicht mehr unter ihnen. Die Göttin, die Celeste berufen und sie zu dem Menschen gemacht hatte, der sie heute war, war fort.

Als der Schmerz nachließ und erdrückende Leere zurückließ, sah Celeste, wie Selena ein zweites Messer vom Altar nahm. Nathaniels Blut klebte daran. Celeste war sich sicher. Selena warf es, ohne zu zögern, in die Flammen.

Celeste verzog das Gesicht. Litt Nate nun dieselben Qualen wie sie selbst eben? Spürte er, dass Ilias dabei war, das Land zu verlassen?

Die Flammen vor Selena züngelten empor. Sie erstrahlten in einem warmen Goldton. Celeste wagte kaum hinzusehen, doch sie hob ihren Blick. Die Sonne am Himmel verschwand in diesem Augenblick. Sie verblasste einfach, als wäre sie nie da gewesen. Ilias, der Gott der Sonne, hatte Sirion verlassen.

Ein Schrei entkam ihr, doch niemand hörte auf ihren Protest. Nun war Selinda die letzte Göttin, die dieses Land noch hatte. Würde Selena auch sie vernichten?

Die Mondtochter tastete nach einem schmalen Dolch. Sie schloss ihre freie Hand um die Klinge und zog diese kräftig daraus hervor. Blut quoll zwischen ihren Fingern hindurch und tropfte hinab in die Flammen. Sie leuchteten silbern auf, doch Selena verzog keine Miene. Spürte sie die Schmerzen nicht oder ertrug sie sie schweigend?

Langsam schien das Ritual seine Wirkung zu entfalten. Die Flammen loderten schwarz auf, bis sie komplett erloschen. Aber nur, um von dunklen Schatten abgelöst zu werden, die auf einmal aus der Schale drangen. Wie schwarzer Rauch flossen sie über den Schalenrand zu Boden. Aus den Schatten formten sich Figuren.

Celeste traute ihren Augen nicht. Angst kroch in ihr hoch, als sie dabei zusah. Kreaturen mit langen Krallen und schwarzem Schlund entstanden, wo eigentlich ein Mund hätte sein sollen. Sie besaßen keine Gesichter. Sie schienen die reine Verkörperung der Finsternis zu sein.

Unaufhörlich drang der schwarze Rauch aus der Schale, bis der ganze Boden der Terrasse von ihm bedeckt war. Doch es hörte nicht auf. Die Schatten ersteckten sich bis hinab auf die Wiesen der Gärten. Wie dunkler Nebel verschlangen sie alles, was ihnen in den Weg kam.

»Willkommen, meine Kinder«, erklang nun Selenas sanfte Stimme und sie breitete die Arme aus.

Entsetzt sah Celeste dabei zu, wie die fratzenhaften Kreaturen vor der Mondtochter auf die Knie fielen.

Ein stummer Schrei löste sich aus Celestes Kehle und sie schloss die Augen. Sirion war verloren.