»Also, was ist noch mal passiert?«
Jamie reichte Grace einen Tee, bevor er sich ihr gegenüber in den Sessel setzte.
»Danke«, sagte sie mit wackliger Stimme und nahm die Tasse entgegen. Sie legte die Hände darum, die Wärme tröstete sie, und sah zur Decke hinauf. Cora lag oben im Bett und sah eine Fernsehshow bei so ohrenbetäubender Lautstärke, dass Jamie es durch die Wand gehört hatte und gekommen war, um zu sehen, was los war. Sie hatte ihm von Phil erzählt, dem Spa-Wochenende und wie sie das Thema Cora gegenüber angeschnitten hatte, die sich schlichtweg geweigert hatte, darüber auch nur nachzudenken. Stattdessen hatte sie eine lange Tirade über Grace’ Selbstsucht von sich gegeben. Dass sie schon immer so gewesen sei. »War ja zu erwarten, dass du mit diesem armen Kerl rumziehen und mich zurücklassen willst. Und ich soll dann ein ganzes Wochenende lang alleine klarkommen!« Als Grace versuchte hatte, darauf hinzuweisen, dass Cora ihr selbst gesagt hatte, sie müsse sich bei Phil mehr Mühe geben, sonst würde sie riskieren, irgendwann völlig alleine zu sein, hatte Cora geschrien: »Dein Höschen in einem billigen Hotel fallen zu lassen wie eine gewöhnliche Schlampe bedeutet nicht, sich Mühe zu geben! Ganz sicher nicht.«
Grace trank einen Schluck Tee.
»Wäre es okay für dich, wenn wir nicht noch mal alles durchgehen?« Sie sah zu Jamie hinüber. Ihre Wangen glühten noch von den demütigenden Worten ihrer Mutter.
»Natürlich.« Mit einem Blick zur Decke fügte er hinzu: »Warte kurz.« Er ging in den Flur und rief: »Cora, das reicht! Mach das leiser. Bitte.« Und wie durch ein Wunder tat sie es. »Ja, so ist es besser.« Er wandte sich wieder Grace zu. »Jetzt kann ich tatsächlich hören, was du sagst. Ich dachte nur, es könnte helfen, wenn du mal alles rauslässt. Du hast gerade ziemlich aufgewühlt ausgesehen, als du die Tür aufgemacht hast.« Er setzte sich neben sie aufs Sofa und legte ihr eine Hand auf den Arm.
»Nach dem Streit mit Mum habe ich Phil zurückgerufen, um ihm zu sagen, dass ich kein Spa-Wochenende mit ihm verbringen kann. Weißt du, ich hatte mir vorgenommen, ein paar Dinge in meinem Leben zu ändern. Ich hab mich richtig darauf gefreut, ein Wochenende freizuhaben und etwas Neues zu entdecken. Das bedeutet mir etwas.«
»Das weiß ich, Schätzchen. Und ich bin stolz auf dich. Als ich sagte, dass du es Schritt für Schritt schaffen wirst, wäre ich nicht darauf gekommen, dass du schon bald einen Ausflug in ein schickes Spa-Hotel machen könntest.« Er gluckste. »Wie wunderbar für dich! Hört sich an, als käme die alte Grace, die wir so lieben und schätzen, schneller zurück als gedacht.«
»Hmh, das würde sie ja auch, wenn …« Sie zeigte nach oben gegen die Decke, bevor sie flüsternd hinzufügte: »… dieses undankbare Biest nicht alles verdammt noch mal kaputtmachen würde.«
»Oh-oooh, Grace, du kehrst tatsächlich zu uns zurück. Ich hab dich seit Jahren nicht mehr fluchen gehört. Komm, sag das noch mal – dann fühlst du dich gleich viel besser, versprochen!«
»Ach, hör auf.« Grace winkte ab. »Eigentlich darf ich mich gar nicht über sie beschweren. Ich wusste ja nicht einmal, wo ich wohnen sollte, nachdem das mit Matthew passiert war.«
»Doch!« Jamie nickte vehement. »Ich habe ein wunderbares Gästezimmer, in das du hättest einziehen können.«
»Das mit dem Untermieter drin?«
»Nun, äh … ja.« Er stockte kurz. »Aber er könnte auch problemlos auf dem Sofa schlafen.«
»Nein, könnte er nicht, denn er zahlt dir Miete. Das wäre nicht fair. Außerdem ändert das nichts daran, dass ich nicht mal für ein einziges Wochenende wegkann.«
»Stimmt. Und wann hätte das sein sollen?«
»Übernächstes Wochenende. Ein Geburtstagsgeschenk«, sagte sie und fügte hinzu: »Na ja, zumindest hätte es ein Ausflug zu meinem Geburtstag werden sollen.« Sie musste an Phils »Halbe-halbe«-Äußerung denken.
»Zu deinem Geburtstag?« Jamie klang überrascht, die Verwirrung stand ihm ins Gesicht geschrieben.
»Sag nicht, du hast ihn vergessen.« Grace seufzte und schaute in gespielter Verzweiflung zur Decke. »Wir essen da immer Pizza und spielen Scharade und trinken billigen Cider. Was wir natürlich nicht tun müssen. Schätze, das ist ein bisschen kindisch, wo wir jetzt richtige Erwachsene sind und keine dämlichen Teenager mehr, die keine anderen Freunde haben.«
»Hör auf«, erwiderte Jamie vehement. »Natürlich habe ich es nicht vergessen, und mach dich nicht selbst kleiner, als du bist. Dein Geburtstag ist wichtig. Er wird wunderbar werden, das verspreche ich dir.«
»Wunderbar ist ein bisschen übertrieben. Es gibt ja doch nur wieder die Pizza von Gino’s um die Ecke, zusammen mit dem billigen. Cider. Aber danke. Du weißt, ich wäre ohne dich verloren.« Sie lächelte traurig.
»Hör auf damit, Grace! Du musst mit vielem fertigwerden« – er zeigte mit dem Kopf gen Decke –, »und ich würde mal sagen, dass du das ziemlich gut machst.« Sie schwiegen beide. »Was war das vorhin eigentlich für ein dumpfer Knall?«, fragte er, um das Thema zu wechseln.
»Das muss gewesen sein, als sie die Fernbedienung nach mir geworfen hat. Sie ist knapp an meinem Kopf vorbeigesegelt und hat die Wand getroffen«, sagte sie und starrte auf den alten Teppich, der bereits seit ihrer frühen Kindheit auf dem Boden vor der Couch lag. Den hatte sie auch angestarrt, wenn ihre Mutter früher mit ihrem Dad schimpfte, ihn für irgendwas anbrüllte, was er mal wieder falsch gemacht hatte.
»Ach Grace, es tut mir leid. Komm her.« Er rückte ein Stück dichter an sie heran, um sie zu umarmen. »Ich werde mal mit ihr reden«, sagte er und rieb ihr über den Rücken.
»Ich glaube nicht, dass das was bringt, Jamie. Sie war mehr als deutlich gewesen. Ich bin noch nicht mal dazu gekommen, ihr zu erklären, welche Pflegemöglichkeiten es gibt, oder ihr zu sagen, dass Bernie, Sinead und Mikey angeboten haben, eine Hilfe zu bezahlen. Ich habe mich auch nicht getraut, ihr von Mickeys Vorschlag zu erzählen, dass sie in ein Heim gehen soll. Das hätte ihr sicher den Rest gegeben.«
»Vielleicht hättest du es ihr sagen sollen«, erwiderte Jamie wütend. »Vielleicht hätte sie dann endlich kapiert, wie froh sie sein kann, dich zu haben.«