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Es ist vollbracht. Mutter und Vater haben mich hier in Tindledale besucht und meine süße Lara mitgenommen, damit sie bei ihnen aufwächst. Sie werden sich um sie kümmern, bis ich etwas stärker bin. Mutter war sehr enttäuscht, dass ich eine Adoption verweigert habe, und sagte, sie wolle nichts mehr mit mir zu tun haben, wenn ich so selbstsüchtig wäre und meine eigenen Bedürfnisse über die eines armen, hilflosen Kindes stellte. Aber dann meinte Vater, dies sei für den Moment vielleicht eine gangbare Lösung. Also haben sie sich ein Cottage am Rande von Tindledale gemietet, für die Dauer des Krieges. Das Cottage gehört einem Freund von Vater, der für das Innenministerium arbeitet und die meiste Zeit unterwegs ist. So sei es für alle das Beste, meint Vater. Lara ist dort weit weg von Hitlers Bomben in London – Vater sagt, es sei nur eine Frage der Zeit, bis sie kommen und der Hauptstadt ihr Herz entreißen –, und auf diese Weise erfahren auch die Freunde meiner Eltern nichts von meiner misslichen Lage.

Jimmy zu verlieren hat mir den Boden unter den Füßen weggerissen, weshalb es vermutlich das Vernünftigste ist, Lara die ordentliche Fürsorge angedeihen zu lassen, die sie benötigt. Sie ist zu klein, um den ganzen Morgen in ihrer Wiege auszuharren und nach ihrer Milch zu weinen, während ich im Bett liege und trübe an die Decke starre. Aber welchen Sinn hat es, ohne Jimmy weiterzuleben? Lara hat jemand Besseren verdient als mich. Ich bin eine schreckliche Mutter, die nicht einmal genügend Kraft aufbringen kann, um ihr eigenes Baby zu stillen, ganz zu schweigen davon, mein Bett zu verlassen und mich anzuziehen, um mit ihr nach draußen an die frische Luft zu gehen. Und Mutter sagt, Babys brauchen frische Luft, um richtig zu gedeihen.

Oh Jimmy, es tut mir so unsäglich leid, dass ich unsere wunderschöne Tochter in Stich lasse. Aber nicht für lange, Liebster, das verspreche ich. Nur bis meine Kräfte zurückkehren und ich wieder auf den Beinen bin. Mutter wird sie für mich lieben. Für uns beide. Ich habe die Zärtlichkeit in ihrem Blick gesehen, als sie Lara aus dem Kinderbettchen gehoben und in den Arm genommen hat. Aber unsere Kleine wird immer etwas von uns bei sich haben, Liebster, denn ihr gehört jetzt der flauschige pinkfarbene Teddybär, ein Geschenk von ihrem Daddy, gemeinsam mit der Babykleidung, die Mummy ihr gestrickt hat, mit pinkfarbener Wolle von einer alten Strickjacke, bevor sie zu erschöpft dafür war. Ein Schatten legte sich um meine Seele, wie eine fürchterlich dunkle Wolke, kurz nachdem Lara auf die Welt gekommen war, und ich konnte sie einfach nicht mehr vertreiben. Es ist, als wäre das Licht in meinem Leben verschwunden, und ich finde keinen Ausweg mehr aus dem Tunnel, um es wieder hell werden zu lassen …

Grace saß an ihrem Schreibtisch, in Connies Tagebucheinträge aus dem Jahr 1940 vertieft. Betty leistete ihr Gesellschaft, sie häkelte emsig an der Decke für ihre Urenkelin.

»Oje.« Kopfschüttelnd blätterte Grace zur nächsten Seite.

»Was ist, Grace?« Betty sah von ihrer Handarbeit auf.

»Ach, es ist so schrecklich traurig.«

»Bitte, Liebes, reg dich nicht allzu sehr auf. Ich weiß, es war ein schrecklicher Schlag, von Mrs Donatos Tod zu erfahren, aber wir haben schließlich geahnt, dass dies der Grund für die ausbleibenden Zahlungen sein dürfte.«

»Ja, das stimmt«, erwiderte Grace. »Aber ich kann einfach nicht aufhören, diese Tagebücher zu lesen, um mehr über Connie herauszufinden. Es ist, als wäre sie inzwischen eine Freundin, als stünde sie mir nahe … Sie fühlt sich einfach so lebendig für mich an. Wusstest du, dass wir am selben Tag Geburtstag haben?«

»Na, das nenn ich Zufall! Kein Wunder, dass du dich mit ihr verbunden fühlst«, sagte Betty freundlich.

»Ja, und es gibt auch noch mehr Parallelen …« Grace sprach den Satz nicht zu Ende. Sie wollte lieber nicht über Connies herrische Mutter sprechen – oder über ihre eigene. »Jedenfalls … die arme Connie. Erst hat sie ihren Liebsten verloren. Ihre Eltern haben ihr erzählt, dass Jimmy im Krieg gefallen ist. Und dann haben sie ihr Baby mitgenommen, zusammen mit dem Teddy und den gestrickten Babysachen, die ich in einem der Koffer im Lagerraum gefunden habe. Und jetzt ist Connie so schrecklich allein. Und als wäre das nicht schon genug – ich befürchte, sie ist nach Laras Geburt an einer postnatalen Depression erkrankt.«

»Du lieber Himmel, das ist ja furchtbar«, sagte Betty und hielt im Häkeln inne. »Meine Schwiegertochter litt nach ihrem vierten Kind auch an PPD. Es war schrecklich für sie. Und für ihren Mann. Sie konnte mehrere Monate lang nicht mal mehr das Haus verlassen. Doch dann hat der Arzt ihr Antidepressiva verschrieben, um über das Schlimmste hinwegzukommen. Sie hat ihre Ernährungsgewohnheiten geändert und mit Zumba begonnen und allen möglichen Selbsthilfekursen, bis sie das Gefühl hatte, wieder sie selbst zu sein.«

»Oje.« Grace schüttelte den Kopf und dachte an ihren eigenen Kampf gegen die Depression nach der Trennung von Matthew. »Ich frage mich, ob Connie auch Antidepressiva verschrieben bekommen hat?«

»Das bezweifle ich, meine Liebe. Ich glaube nicht, dass es damals ein Bewusstsein für PPD oder andere seelische Erkrankungen gegeben hat. Die Leute haben eher dazu tendiert, ohne viel zu hinterfragen weiterzumachen, einen Schritt nach dem anderen und so, oder zumindest versuchten sie das. Sie hatten nicht die Art von Therapien, die es heute gibt. Und dann war ja auch noch Krieg, das hat es für Connie sicher noch schwerer gemacht. Hätte sie keine Familie gehabt, auf die sie sich verlassen konnte, hätte sie wohl ziemlich alleine dagestanden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie ohne finanzielle Hilfe in der Lage gewesen wäre, für sich und ein Baby zu sorgen. Und wer würde einer unverheirateten siebzehnjährigen Mutter schon Arbeit geben, mit einem kleinen Kind im Schlepptau?« Betty seufzte. »Es gab damals auch noch nicht so ein Gesundheitssystem wie heute oder irgendwelche Sozialversicherungsleistungen«, fügte sie hinzu.

Grace atmete hörbar aus. »Es ist so schrecklich, dass sie dafür bestraft wurde, sich verliebt zu haben. Sie war doch einfach nur jung und naiv.«

Für einen Moment herrschte Stille, während beide Frauen darüber nachdachten, welchen Schmerz, welche Trauer, welche Einsamkeit Connie hatte erleiden müssen.

»Also, es ist nur ein Gedanke, aber wie kommen der Teddybär und die Babysachen in den Lagerraum?«, nahm Betty den Gesprächsfaden wieder auf.

»Keine Ahnung, aber du hast völlig recht. Normalerweise bleibt so was doch beim Kind«, sagte Grace und blätterte in dem Tagebuch, um zu sehen, ob Lara oder der Teddybär nochmals erwähnt wurden. Aber die restlichen Seiten des Tagesbuchs von 1940 waren leer. Es schien, als wäre Connies Leben zum Stillstand gekommen, als die postnatale Depression sich ihrer bemächtigt und ihre Eltern sie überzeugt hatten, das Baby aufzugeben.

»Tja, dann lass uns hoffen, dass Maggie etwas Licht in die Angelegenheit bringen kann – was danach passiert ist und wo Lara sich jetzt aufhält. Vielleicht finden wir so heraus, warum Mrs Donato alleine war, als sie starb. Möglicherweise hilft uns das bei der Entscheidung, was als Nächstes zu tun ist. Aber das, was dir Lady Bee und Mr Conway erzählt haben, klang nicht so, als hätte Mrs Donato am Ende irgendwelche Verwandte um sich gehabt. Was für ein Schicksal.«

Grace konnte Betty nur zustimmen. Sie wünschte, sie hätten Nummer 28 schon früher geöffnet. Vielleicht hätten sie Connie dann noch kennengelernt, und vielleicht hätten sie ihr helfen können, und wenn auch nur, indem sie ab und zu bei ihr vorbeischauten, damit sie nicht ganz so alleine war. Grace spürte, dass sie das gerne getan hätte – ihr einen Tee kochen und sich ein wenig unterhalten. Sie hätte sich auch gerne mit ihr angefreundet, wo sie doch so viel gemeinsam zu haben schienen. Connie hatte das Tanzen geliebt, so wie Grace. In ihren frühen Tagebüchern hatte sie mit voller Leidenschaft davon berichtet – dann jedoch nicht mehr, als sie London verlassen und aufs Land ziehen musste, getrennt von ihrem Liebsten und mit gebrochenem Herzen. Ganz ähnlich wie auch Grace ihre Leidenschaft fürs Tanzen aus den Augen verloren hatte, als Matthew ihr das Herz brach. Und wie Connie fühlte Grace sich manchmal einsam, weil sie außer Jamie keine Freunde hatte.

»Denn wenn sie Verwandte gehabt hätte«, fuhr Betty fort, »hätten die sie sicher nicht so leben lassen … mit nur einem Karton Milch im Kühlschrank, ich bitte dich!« Betty schnaubte verächtlich,

»Ja, das ist schrecklich«, sagte Grace, die wusste, wie wichtig Betty Familie war. Ihr auch, natürlich – warum sonst würde sie sich um ihre Mutter kümmern?

»In der Tat«, stimmte Betty zu. »Umso lobenswerter, dass du bei deiner Mutter wohnst. Ich weiß, es ist oft sehr schwer für dich, Liebes, aber sie hat wirklich großes Glück, dass du dich so gut um sie sorgst. Nicht jede junge Frau in deinem Alter würde das tun. Du weißt, niemand würde es dir übelnehmen, wenn du dir ein bisschen Hilfe holst, Liebes. Oder sie sogar in ein Heim bringst. Es gibt da ein paar sehr hübsche, und es könnte für sie sehr viel bequemer sein …«

Bevor Grace antworten konnte, platzte Larry mit hochrotem Kopf herein und hielt Betty sein Handy hin.

»Es ist Ellis! Unser Lieblingsneffe! Er ist hier in London«, sagte er rasch.

»London?« Betty legte ihre Häkelarbeit weg und nahm mit erstauntem Gesichtsausdruck das Handy entgegen. »Um Himmels willen, was meinst du? Er lebt doch in Amerika.«

»Ja, das weiß ich. Aber er ruft vom Flughafen aus an«, erwiderte Larry aufgeregt. »Er ist gerade in Heathrow angekommen. Sprich mit ihm, Liebes, er fragt nach dem Zug, dem schnellen – wie heißt der noch? Der Express. Oder sollte er sich besser in ein Taxi setzen? Ich habe ihm gesagt, er soll keines von diesen von Uber nehmen, aber …«

»Schsch. Ich kann ihn sonst nicht hören«, schalt Betty ihren Mann und wedelte mit einer Hand durch die Luft, während sie sich das Handy ans Ohr presste. »Hallo, mein Schatz. Bist du wirklich hier, in London, in England?« Ein kurzer Moment der Stille folgte. »Nicht zu glauben.« Sie hob die Augenbrauen und wirkte beeindruckt. »Geschäftlich, sagst du. Na so was.« Wieder Stille. »Das ist nett, dass du dir die Zeit nehmen willst, uns zu besuchen. Wirklich? Wie aufregend. Ja.« Sie schien nachzudenken. »Ja. Ja, das stimmt. O, ich weiß nicht. Hier, ich gebe dir Grace. Sie kann dir sicher helfen. Bis bald, Ellis. Gute Fahrt!«

Grace setzte sich kerzengerade auf. Augenblicklich war sie nervös. Sie war Ellis noch nie begegnet, hatte von ihm nur durch Larry und Betty gehört – wie erfolgreich er in dem Auktionshaus war, in dem er in New York arbeitete, dass er in einem Penthouse wohnte, mit einem eigenen Lift, der einen »direkt ins Wohnzimmer« führte. Noch dazu war das Apartment im angesagten Stadtteil Tribeca, wo viele coole Stars lebten – außerdem war er Amerikaner, also ganz sicher selbstbewusst und souverän. Sicherlich mehr als sie. Das überforderte Grace schon jetzt. Sie schluckte heftig, um etwas sagen zu können.

»Ähm … hallo.«

»Hallo Grace, hier ist Ellis«, sagte er. Sein Akzent war weich und etwas gedehnt, so wie sie sich vorgestellt hatte, dass New Yorker klangen. »Kannst du mir sagen, ob Paddington in der Nähe ist von, äh … Greenwich?«, kam er gleich zur Sache.

»Mmh … nein, eigentlich nicht. Ähm, also, ich kann es dir schon sagen, dass Paddington nicht in der Nähe ist …« begann sie. Fieberhaft überlegte sie, wie er am besten fahren sollte. Aber dann mischte sich Larry ein und steigerte noch ihre Nervosität, indem er sagte: »Grace, du könntest ihn doch abholen! Zeig ihm den Weg. Es ist noch früh, und du wärst problemlos vor der Mittagspause wieder hier.« Er strahlte.

Schweigen.

Grace spürte, wie der Schweiß ihr den Rücken hinunterlief. Nie und nimmer würde sie es allein bis nach Heathrow schaffen. Auf keinen Fall. In ihrer Benommenheit fragte sie sich, ob Jamie heute Dienst hatte, und wenn nicht, ob er sie begleiten könnte. Fragen konnte sie ihn, aber sie wusste, dass sie in Wahrheit nach einem Strohhalm griff. Die Entscheidung musste jetzt, in dieser Sekunde, gefällt werden – Ellis wartete am anderen Ende der Leitung. Das Handy zitterte leicht in ihrer linken Hand.

In diesem Moment kam Betty ihr zur Hilfe. »Ach, sei doch nicht dumm, Larry. Sie hat doch gewiss keine Lust, bei der Hitze den ganzen Weg quer durch London in der U-Bahn zu hocken, stimmt’s, Liebes? Außerdem muss sie weiter die Gegenstände in Mrs Donatos Lagerraum katalogisieren.« Sie sah Grace fürsorglich an. »Nein, Grace, sag Ellis, er soll mit dem Taxi direkt hierherkommen. Auf unsere Kosten! Larry kommt raus, wenn es da ist, und bezahlt die Fahrt, nicht wahr?« Larry sah zwischen Betty und Grace hin und her, bevor er etwas von einer Gelddruckmaschine murmelte. »Ellis wird vorher kaum noch nach einem Bankautomaten suchen wollen«, sagte Betty, und damit war die Entscheidung gefallen.

Nachdem sie Bettys Anweisungen an Ellis weitergegeben hatte, beendete Grace das Telefonat und wischte das Handy an ihrem Rock ab, bevor sie es Larry zurückgab.

»Ha, was für eine nette Überraschung«, gluckste Betty und tätschelte Grace sanft den Rücken, bevor sie in die kleine Küche ging, um den Wasserkessel aufzusetzen.

»Ich habe nicht erwartet, dass er alles stehen und liegen lässt, nur weil ich ihm ein paar Foto schicke«, sagte Larry und wirkte besorgt. »Er hat viel zu tun, und ich möchte nicht, dass er Ärger bekommt, weil er sich freinimmt, um sich ein paar Gemälde anzusehen, die vermutlich keinen Penny wert sind.«

»Aber er ist nicht hier, nur weil du ihm die Bilder geschickt hast, du dummer alter Narr.« Betty schmunzelte. »Nein, er hat beruflich in Europa zu tun.«

»Europa? Wo in Europa?«, schnaubte Larry und strich sich das Jackett glatt. »Und warum hat er uns nicht vorher Bescheid gesagt, dass er kommt?«

»Keine Ahnung, er hat nur etwas von ›Arbeit in Europa‹ gesagt. Du weißt doch, dass das für Amerikaner alles eins ist. Viel wichtiger ist doch, dass er wegen der Arbeit, die er hier erledigen muss, hier ist. Er hatte gemeint, er würde einen Monat bleiben und sich mit einem Kunden treffen. Er hatte sich jedoch überlegt, etwas früher anzureisen, um uns vorher noch zu besuchen. Ist das nicht nett von ihm? Dann kann er sich auch die Gemälde genauer ansehen und die anderen Sachen in Mrs Donatos Lager. Er sagt, er wäre ziemlich neugierig darauf, auch glaube er, dass die Gemälde schon etwas wert sein könnten. Na ja, so hat er das nicht genau gesagt, aber du weißt schon. Er will sich die Bilder gründlich ansehen, um zu überprüfen, ob sie keine Fälschungen sind. Falls sie das sind, dann …« Betty nickte langsam. »Dann könnten wir auf einer Goldmine sitzen.«

»Ach ja?« Larrys Gesicht heiterte sich merklich auf. »Nun, in dem Fall solltest du die Babka-Dose rausholen, denn Ellis wird nach der langen Reise sicher Hunger haben.«