»Da bist du ja, Liebes.« Larrys Frau eilte aus der kleinen Küchenzeile und stellte eine Tasse mit dampfendem Tee vor Grace’ Schreibtisch, bevor sie einen Teller mit einem riesigen, noch warmen Stück Babka, dem traditionellen jüdischen Hefezopf mit Schokolade, daneben platzierte. »Ich habe auch ein wenig Zucker in deinen Tee getan … für deinen Energiespiegel. Du siehst erschöpft aus, meine Liebe, falls ich das sagen darf.«
»Oh, danke, Betty.« Grace legte ihr Strickzeug beiseite – sie arbeitete an einem Schal mit Zopfmuster für Jamie – und lächelte ihrer Arbeitgeberin zu. Bewundernd betrachtete sie die neue zitronengelbe Weste, die Betty selbst gehäkelt hatte und heute über ihrem üblichen marineblauen Etuikleid trug. Ihr schwarzes Haar war wellenförmig um ihr Gesicht frisiert.
»Ist es wieder mal spät geworden?«, fragte Betty und machte es sich in einem braunen Ledersessel im Wartebereich der Kunden gemütlich. Grace nickte hungrig, den Mund bereits mit dem Schokoladen-Zimt-Zopf gefüllt, den Betty häufig spontan buk. Grace liebte ihn. Während der Mittagspause hatte sie keine Zeit zum Essen gehabt, weil die Waschmaschine ein klein bisschen länger gebraucht hatte als vorhergesehen, und dann hatte Cora die Lasagne nicht geschmeckt, die sie am Abend zuvor zubereitet hatte in der Hoffnung, den Ablauf heute zu vereinfachen. Stattdessen hatte Cora auf einem zeitintensiven, frisch zubereiteten Hähnchensalat mit ofenwarmem Baguette bestanden. Und dann hatte der Bus auf dem Weg zurück zur Arbeit eine gefühlte Ewigkeit lang im Stau gestanden.
»Ja, und es tut mir leid, dass ich heute Morgen schon wieder zu spät gekommen bin …« Sie senkte beschämt den Blick. Sie hatte sich schon so oft entschuldigt, dass ihr dieser Satz schrecklich hohl vorkam.
»Du gibst dein Bestes, Liebes. Mehr können wir alle nicht tun«, meinte Betty freundlich und kramte in ihrer Häkeltasche, bis sie ein pinkfarbenes Garn hervorzauberte. »Es wird eine Puppendecke für unsere kleine Hannah in Amerika«, sagte sie glucksend, während sie sich Wolle um den Finger wickelte und die erste Masche anschlug.
»Ich denke, sie wird sie lieben«, erwiderte Grace lächelnd, in Erinnerung daran, wie die Enkelin der Cohens zusammen mit ihrem Mann zu Besuch gekommen war, um ihnen ihre erste Urenkelin zu präsentieren, die hübsche kleine Hannah.
»Das hoffe ich. Es ist wichtig, seine Verwandten glücklich zu machen. Und wie geht es deiner Mutter, Liebes?«
»Ach, unverändert, Betty. Sie weigert sich noch immer, Hilfe von außen anzunehmen. Aber danke der Nachfrage.« Grace spürte, wie sie rot wurde, weil sie schlecht über Cora geredet hatte. Sie war es nicht gewöhnt, ihre Kritik außerhalb der Familie zu äußern, und kam sich deshalb illoyal vor. Sie war dazu erzogen worden, ihre dreckige Wäsche nicht in der Öffentlichkeit zu waschen. Ihre Mutter war diesbezüglich früher sehr strikt gewesen, hatte ständig den Finger erhoben und sie ermahnt, still zu sein, damit die Nachbarn nicht mithörten, worüber sie sprachen, wenn sie in Sonntagskleidung zum Gottesdienst gingen. Nichts zählte so sehr wie der äußere Schein. Keiner durfte erfahren, wenn ihr Stromzähler wieder einmal kaputt war oder der Fernseher zurück zum Verleiher gebracht werden musste, weil Dad seinen Job in der Druckerei verloren hatte und die Leasingrate seit Wochen überfällig war.
»Ach, Grace … Nun, wenn ich irgendwie helfen kann – ich komme gerne einmal mit einem Stapel Zeitschriften vorbei oder mit einem dieser Sudoku-Bücher. Hauptsache, du hast mal Pause. Du siehst wirklich ein bisschen blass aus, meine Liebe, wenn ich das sagen darf.« Betty lächelte freundlich. »Dennoch bist du noch immer wunderhübsch mit deinen bezaubernden roten Locken und diesem zarten Teint.«
Bettys Worte hingen in der Luft, während Grace ihren Tee umrührte. Sie wusste, dass sie ihr freundliches Angebot niemals annehmen würde. Betty schlug ihr das jetzt schon beinahe seit einem Jahr vor, aber sie wusste, ihre Mutter würde es ihr nie verzeihen, wenn sie eine Fremde mit ins Haus brächte, selbst wenn diese ihr nur bei einer Tasse Tee Gesellschaft leisten wollte. Was eigentlich eine Schande war: Es war bestimmt nicht besonders lustig, den ganzen Tag im Bett zu liegen und permanent die gleichen TV-Sendungen zu sehen, mit einem Kreuzworträtsel-Buch als einzige Unterbrechung der Monotonie. Kein Wunder, dass ihre Mutter immer so schlecht gelaunt und undankbar war. Sie hatte bereits versucht, Cora fürs Lesen zu interessieren, hatte sogar eine Auswahl an Büchern aus der Bibliothek ausgeliehen, von denen sie annahm, dass sie ihrer Mutter gefallen könnten. Aber Cora hatte sie nur beiseitegeworfen und sich beschwert, dass sie langweilig seien. Das Gleiche war mit Netflix passiert. Cora hasste auch das und warf Grace vor, sie würde sich in ihr Fernsehprogramm einmischen und unnötig Geld ausgeben für ein dummes Abo, mit dem man nur miese Serien aus Schweden oder Amerika gucken könne.
»Danke, Betty. Ich würde dein Angebot gerne annehmen, aber …« Grace verstummte.
»Ich weiß, meine Liebe.« Für einen Moment herrschte Stille, unterbrochen nur vom Klappern der Häkelnadel. Betty wickelte erneut Faden um ihren Finger. »Also, Larry hat heute Nachmittag eine besondere Aufgabe für dich.«
»Ah, hört sich spannend an.« Grace trank ihre Tasse Tee aus und stand just in dem Moment auf, als Larry zur Tür hereinkam. Er hielt ein Klemmbrett und einen Schlüsselbund an seine Uniform gedrückt, die aus einem schwarzen Anzug bestand, inklusive Weste, Krawatte und einem frisch gewaschenen gestreiften Hemd. Das silbrige Haar trug er wie immer fesch nach hinten gekämmt. Er legte stets großen Wert darauf, elegant auszusehen, wie damals schon, als er Betty zum ersten Mal bei einem Tanztee begegnet war. Sie waren beide neunzehn Jahre alt, und es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Grace hörte Betty nur zu gerne davon erzählen. Es machte ihr Hoffnung, dass es wirklich so etwas gab wie ein »glücklich bis ans Ende ihrer Tage«: dass zwei Seelen einander liebten und ehrten und – besonders wichtig – respektierten, während sie das Leben miteinander teilten.
»Das stimmt, Grace. Deine Lieblingsaufgabe. Nummer 28 muss geöffnet und katalogisiert werden für den Verkauf oder die Entsorgung.« Larry nahm seine Brille ab und steckte sie in seine Brusttasche, bevor er Grace das Klemmbrett überreichte. Dann begann er den Schlüssel für Nummer 28 herauszusuchen.
»Danke!« Grace liebte diesen Teil ihres Jobs. Ihre Mutter sagte immer, sie hätte als Kind überall ihre Nase hineingesteckt: »Du mit deiner ständigen Fragerei.« »Wissbegierig«, nannte Grace es gern. Sie liebte es, wenn sich die Tür eines alten Lagerraums öffnete. Sie konnte es dann kaum abwarten hineinzuschauen und den Inhalt durchzugehen. Die ausrangierten Dinge des einen waren der Schatz des anderen.
Meist hatte sie es nur mit den üblichen Möbelstücken nach einem Wohnungswechsel oder einer Catering-Ausrüstung zu tun oder mit Kartons voller Partyhütchen und Tröten von einem Veranstaltungsplaner, dessen Geschäft den Bach runtergegangen war. Aber ab und zu gab es tatsächlich etwas Spannendes zu entdecken. Einmal stieß sie auf ein Paar ausgestopfte Papageien. Ein anderes Mal auf eine Fossiliensammlung – in dem Fall hatte sie, nachdem alle Versuche, die Besitzer zu erreichen, vergeblich gewesen waren, das Naturhistorische Museum in London kontaktiert, das daraufhin einen Kurator schickte, um die Sammlung entgegenzunehmen. Und dann hatte es vor ein paar Jahren diese Sammlung von Medaillen aus dem Zweiten Weltkrieg gegeben. Grace, Larry und Betty waren sich einig gewesen, dass sie die Medaillen nicht einfach verkaufen konnten, nur um die Lagergebühren wieder einzuspielen, nachdem ihre mehrfachen Versuche, den Besitzer zu kontaktieren, ins Leere gelaufen waren. Wie sich schließlich herausgestellt hatte, war der Besitzer sechs Monate zuvor verstorben. Zum Glück war es Larry gelungen, einen Verwandten aufzuspüren – den Sohn des verstorbenen Soldaten, der seine Medaillen über fünfzig Jahre lang bei den Cohens in einem der kleinen Safes gelagert hatte. Der dankbare Sohn war den gesamten Weg von Schottland bis zu den Cohens gereist, um die Medaillensammlung persönlich entgegenzunehmen und Larry die Hand zu schütteln. Es war auch ein Reporter der Lokalzeitung gekommen und hatte einen netten Artikel geschrieben, mit einem Schwarz-Weiß-Bild von dem Mann als Soldat während des Zweiten Weltkriegs.
»Lass mich das für dich machen«, bot Grace an und zeigte auf den Schlüsselbund, mit dem Larry sich abmühte. »Sie sind manchmal echt schwer abzubekommen«, fügte sie taktvollerweise hinzu, weil sie wusste, wie sehr Larry mit der Arthritis in seinen knorrigen Fingern zu kämpfen hatte.
»Danke, Grace. Das ist nett von dir«, sagte er und lächelte dankbar.
Nachdem sie den richtigen Schlüssel gefunden hatte, schob sie den leeren Handwagen den Flur im Erdgeschoss entlang, bis sie zur Tür von Nummer 28 kam. Es handelte sich um eine der größeren begehbaren Einheiten, ein Eckraum ganz hinten, und Grace fragte sich, wann er das letzte Mal geöffnet worden war: Der Schlüssel ließ sich nicht in dem Schloss drehen, das an den Rändern bereits verrostet war. Also ging sie den Gang zurück und nahm aus dem Reinigungsschrank eine Dose WD-40, kehrte zur Nummer 28 zurück und sprühte das Schloss ein. Endlich gelang es ihr, den Schlüssel umzudrehen.
Behutsam zog sie an der Metalltür, die über den Boden schabte, als wäre sie seit Jahren nicht geöffnet worden, und tastete nach dem Lichtschalter. Larry hatte seine Firma in den Fünfzigerjahren gegründet, und in den älteren Einheiten waren keine Bewegungsmelder installiert. Sie spürte einen Adrenalinstoß, als die altmodische Neonröhre flackernd anging, bevor sie schließlich den Raum mitsamt Inhalt in helles Licht tauchte.
Grace stand für einen Moment wie erstarrt da.
Sie blinzelte ein paarmal.
Als sie endlich begriff, was sie da sah, keuchte sie laut auf.
Sie trat ein paar Schritte vor, bis sie in der Mitte des Lagerraums stand.
Es war unglaublich.
Und atemberaubend.
Dem ersten Eindruck nach zu urteilen schien das der beste Lagerraum zu sein, den sie je geöffnet hatte.
Vor ihr befand sich eine prächtige Schatzkiste voller antiker Kunstgegenstände, mit einem dicken, kuschlig weichen pinkfarbenen Teppich zu ihren Füßen. Jedoch war der Inhalt nicht – wie so oft – bunt durcheinander in die Höhe gestapelt worden, um den Platz so gut wie möglich auszunutzen. Keineswegs. Jemand hatte sich die Mühe gemacht, alles so ansprechend wie möglich zu präsentieren. Jemand mit einem Sinn für Design und Luxus – der Lagerraum war gestaltet wie ein glamouröses Ankleidezimmer der Fünfzigerjahre. Grace kam es vor, als hätte sie eine Hollywood-Kulisse betreten – Elizabeth Taylors Schlafzimmer hätte sicher so ausgesehen, dachte sie begeistert.
Ein kurzer Blick auf die Unterlagen verriet Grace, dass der Lagerraum von einer Mrs Constance di Donato angemietet, die letzte Zahlung allerdings vor mehr als zwei Jahren eingegangen war, per Scheck. Damit hatte sie ein volles Jahr im Voraus bezahlt, womit Mrs di Donato jetzt ein Jahr in Verzug war – wesentlich länger, als sie für gewöhnlich warteten, bevor sie ein Lager öffneten. Grace nahm sich vor, Larry darauf anzusprechen. Vielleicht gab es ja einen besonderen Grund, warum er den Zahlungsverzug so lange nicht beachtet hatte. Sie überflog den Rest der Dokumente: Kopien von drei Briefen, die Larry an die Adresse geschickt hatte, die sie von Mrs Donato in London besaßen. Sie waren alle ungeöffnet zurückgekehrt, mit einer Notiz in großer, schwungvoller Handschrift: Empfänger unbekannt verzogen. Grace musste sich erst sicher sein, dass ihre Firma nachweislich mehrmals versucht hatte, Mrs Donato zu erreichen, bevor sie sich die Gegenstände näher ansehen durfte.
Auch ohne sonderlich Ahnung von Antiquitäten zu haben, erkannte sie, dass der verschnörkelte Schminktisch im französischen Louis-quinze-Stil mit seinen geschnitzten Kabriolbeinen und der marmornen Tischplatte von bedeutendem Wert war. Ganz zu schweigen von dem großen ledernen Schmuckkasten darauf. Grace ging ein paar Schritte weiter in das Lager hinein und hob eine Staubdecke an. Erneut schnappte sie nach Luft: Darunter kam eine schicke Chaiselongue zum Vorschein, die mit einem petrolblauen Seidenstoff mit Pfauenmuster bezogen war. Sie stand quer in einer Ecke des Raums. Daneben, über die Länge einer Wand, präsentierte eine Kleiderstange mindestens zwanzig, vielleicht dreißig funkelnde Abendkleider, ordentlich auf samtbezogene Bügel gehängt. Jedes Kleid steckte in einer durchsichtigen Schutzhülle. Ein Nerzmantel war über eine Gliederpuppe drapiert, vermutlich, um seine Form zu bewahren. Grace erinnerte sich daran, dass die Kostümbildner der Shows, in denen sie früher getanzt hatte, diesen Trick anwandten.
In einer anderen Ecke stapelten sich vier altmodische braune Koffer, dazu drei teuer aussehende Lederhandtaschen – offenbar italienisches Design, da eine der Taschen das goldene Gucci-Logo auf der Vorderseite trug. Hinter der Chaiselongue war sorgsam eine Auswahl an Gemälden aufgestellt, auf dem Teppich stand eine große ovale, mit Rosen bedruckte Hutschachtel.
Grace hob den Deckel der Schachtel an und atmete den nostalgischen Geruch von modrigem Papier ein, während sie hineinlugte. Eine Kollektion alter Magazine. Variety. Britannia and Eve. Datiert von 1938 bis 1941, 1942 und später, bemerkte sie, während sie vorsichtig den Stapel durchblätterte. Bilder von Frauen in fröhlichen, verblassten Primärfarben, die Kopftücher und Blaumänner trugen wie die Land Girls während des Zweiten Weltkriegs. Ein anderes Cover, von 1950, war glamouröser: eine Frau in einem Ballkleid, mit einem Champagnerglas in der Hand. Seitlich war ein verblasster brauner Umschlag hineingesteckt, darin eine Handvoll getrockneter Rosenblütenblätter. Grace drehte den Umschlag um. Auf der Rückseite stand in Handschrift: Herrliche Tage. Portofino – 1955.
Grace spürte, wie ihre Stimmung sich hob. Sie konnte es kaum erwarten, den Inhalt von Nummer 28 zu katalogisieren. Aber wo sollte sie anfangen? Sie kam sich vor wie ein Kind in einem Süßwarenladen, beflügelt und überwältigt von der faszinierenden Auswahl an Naschwerk, das dort präsentiert wurde. Fröhlich ging sie zu den Koffern. Vielleicht fand sich in ihnen ja eine Adresse von Verwandten oder Freunden, die sie kontaktieren konnten – Larry würde sich dieser Kostbarkeiten hier auf keinen Fall entledigen, ohne nicht vorher alles daranzusetzen, Mrs Donato aufzuspüren. Aber als sie die Arme ausstreckte, um die zwei Metallschnallen des obersten Koffers zu öffnen, klingelte in ihrer hinteren Jeanstasche ihr Handy.
»Wo bist du?«, begann ihre Schwester Bernie barsch das Gespräch, was Grace sofort reizte.
»Auf der Arbeit«, erwiderte sie ebenso knapp.
»Nun, du musst sofort nach Hause kommen. Ich hatte gerade Mum am Telefon. Sie wurde über die Zentrale durchgestellt, weshalb ich mein Mittagessen in der Kantine früher beenden musste, um mich um sie zu kümmern …« Grace glaubte zu hören, wie Bernie verärgert schnaubte, was ihre eigene Gereiztheit noch verstärkte. Sie legte sich den freien Arm quer über den Oberkörper, um sich zu beruhigen. »Und sie hat geweint …«
»Geweint?«, unterbrach Grace sie und verspürte einen Anflug von Panik, weil das völlig untypisch für Cora war. Wenn sie es recht bedachte, hatte sie ihre Mutter noch nie weinen sehen. Nicht einmal, als Dad gestorben war. Cora hatte gesagt: »Für euren Vater war die Zeit gekommen.« Und das war’s. Mehr Emotionen waren nicht erforderlich.
»Ja, genau«, fuhr Bernie fort. »Sie hat geweint. Richtiggehend geschluchzt. So sehr, dass sie kaum etwas sagen konnte. Hat mich eine Ewigkeit gekostet, sie zu beruhigen. Anscheinend bist du heute nach deiner Mittagspause so schnell davongestürmt, dass sie nicht einmal eine Chance hatte, den Toilettenstuhl zu benutzen. Weswegen sie einen Unfall hatte und sich deswegen jetzt ganz schrecklich fühlt.«
»Aber …«
»Kein Aber, Grace. Du kannst sie doch nicht einfach so zurücklassen! Sie wird sonst noch wund, und dann bekommt sie sicher eine Infektion oder so, und das würdest du dir niemals verzeihen.« Grace schluckte schwer, während sie versuchte, eine Antwort zu formulieren. »Bist du noch dran?«, bellte Bernie ein paar Sekunden später. Grace konnte Bürogeräusche im Hintergrund hören.
»Ja«, brachte sie bedrückt hervor. Ihre Begeisterung über Mrs Donatos Besitztümer war schlagartig verschwunden, und an ihre Stelle war eine Mischung aus Schuldgefühlen und Verwirrung getreten. Sie war überhaupt nicht davongestürmt, und sie war sich auch sicher, dass sie Cora gefragt hatte, ob sie noch mal auf die Toilette musste, wofür sie allerdings nur angemeckert worden war, sie solle nicht ein solches Gewese machen.
»Hör mal, ich muss los«, meinte Bernie gestresst. »Aber schau mal nach Mum und sag mir später Bescheid, okay? Oh, warte kurz.« Unwillkürlich tat Grace, wie ihr geheißen. »Wenn Sie dort drüben Platz nehmen, kommt gleich jemand zu Ihnen«, hörte sie Bernie mit wesentlich freundlicherer Stimme sagen, und dann: »Ich muss wirklich los, Grace. Ich habe wahninnig viel zu tun. Hier wartet eine Schlange von Leuten auf meine Hilfe, und …« Grace hörte schon gar nicht mehr hin. Sie dachte an das, was sie gestern Abend gegen Mitternacht im Internet gelesen hatte, während sie vor der Mikrowelle stand, weil Cora sich eine Tasse warme Milch erbeten hatte, darüber etwas Muskat gestreut. In dem Artikel ging es um Menschen, die ständig damit beschäftigt waren, beschäftigt zu sein, und es so irgendwie schafften, ihre Zeit zu füllen, unabhängig davon, wie viel Arbeit sie wirklich zu erledigen hatten, und die sich dadurch selbst davon überzeugten, dass sie beschäftigter waren als alle anderen. Sie vermutete, dass Bernie zu diesen »beschäftigten« Menschen gehörte.
»Aber ich habe auch viel zu tun«, brachte sie schließlich hervor. Allerdings hatte Bernie da bereits aufgelegt. Anscheinend war ihre Schwester erneut zu beschäftigt, um sich noch länger um die lästigen Anrufe ihrer bettlägerigen Mutter zu kümmern.
Grace wandte sich um und überließ Mrs Donatos wunderbare Nummer 28 bis zum nächsten Tag sich selbst. Besser gesagt, bis Montag, denn heute war Freitag! Die Enttäuschung, drei weitere Tage warten zu müssen, bis sie den Lagerinhalt durchgehen konnte, war niederschmetternd. Aber zumindest hatte Grace jetzt etwas, worauf sie sich freuen konnte. Vielleicht könnte ich ja auch morgen arbeiten? Nur um einen Blick in einen dieser Koffer zu werfen? Oder ich nehme mir einen mit nach Hause? Aber Grace wusste, dass Larry ihr niemals erlauben würde, einen von Mrs Donatos Koffern vom Firmengelände zu entfernen – er war sehr streng in solchen Dingen und stolz darauf, dass er auf das Eigentum seiner Kunden aufpasste, als wäre es sein eigenes. Außerdem würde ihre Mutter niemals zustimmen, dass Grace sie übers Wochenende alleine ließ. Und Bernie hatte recht – sie konnte Cora nicht in einem nassen Bett liegen lassen. Es gab also keine andere Wahl, sie musste nach Hause gehen. Und zum zweiten Mal an diesem Tag das Bett ihrer Mutter frisch beziehen.
Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen und das Schloss wieder vorgehängt hatte, legte Grace das Klemmbrett auf den Handwagen und bereitete sich darauf vor, Larry und Betty zu erklären, dass sie heute Morgen nicht nur zu spät zur Arbeit gekommen war, sondern dass sie auch noch früh nach Hause gehen musste.