Am nächsten Tag fühlte sich Grace erfrischt und voller Energie. Welche Wonne, nachts nicht alle zwanzig Minuten aufstehen und nach Cora sehen zu müssen! Möge es so bleiben, wenn ich nach Hause zurückkehre, dachte sie inbrünstig. Da sie so vorausschauend gewesen war, ihre Turnschuhe mitzunehmen, hatte sie bereits eine Runde gejoggt, was sie seit einer Ewigkeit nicht mehr getan hatte. Sie war die gesamte Promenade von Santa Margherita entlanggelaufen, während die Sonne über die mit Pinien bewachsenen Klippen gelugt hatte. Herrlich war es gewesen! Sie hatte das Gefühl gehabt, als ob plötzlich alles möglich war. Sie wusste, dass es kitschig klang, aber sie fühlte sich wie neugeboren. Als ob sie hier endlich sein konnte, wer immer sie sein wollte, weil niemand – abgesehen von Ellis – sie kannte oder etwas über sie wusste. Falls es eine Möglichkeit gab, dieses Gefühl zu konservieren, damit sie sich daran festhalten konnte, wenn sie zurück in London war, ja, dann wollte sie diese ergreifen. Sie war fest entschlossen, sich auf die Suche danach zu machen.
Nach dem Joggen war sie ins Hotel zurückgekehrt, um zu duschen und sich mit Ellis zu treffen. Es war beinahe Mittag, als sie gemeinsam die steilen Gassen erklommen, um auf die Via Arancia zu treffen. Sie hatten sich darauf gefreut, auf diese Weise mehr von Santa Margherita zu sehen und einen atemberaubenden Blick über die Riviera di Levante zu haben, weit weg von der Promenade und den Touristen. Aber sie hatten nicht damit gerechnet, wie anstrengend der Aufstieg dorthin sein würde. Grace wünschte sich, sie hätte mehr zum Frühstück gegessen. Auch wenn es köstlich gewesen war – heißer Kaffee mit einer großen Tüte cornetti, dazu gesalzene Butter und Pfirsichmarmelade aus der Region –, sie hatte nicht viel herunterkriegen können. Besorgt hatte sie alles in einer kleinen Bäckerei in der Nähe des Hafens, während Ellis auf dem gemeinsamen Balkon ihrer nebeneinanderliegenden Zimmer den Tisch gedeckt hatte. Dann hatten sie in aller Ruhe gefrühstückt, die Aussicht genossen und die Nähe des jeweils anderen. Ellis hatte gefragt, ob es ihr nach ihrem vertraulichen Gespräch am Abend gut gehe, und sie hatte das bejaht.
»Schau mal, da drüben ist ein schmaler Pfad«, sagte Ellis jetzt und zeigte ans Ende der Lichtung, wo eine alte weiße Steinhütte stand, umgeben von hohem Gras.
»Sollen wir uns das mal näher ansehen?«, fragte Grace, während sie mit dem Saum ihres T-Shirts wedelte, in der Hoffnung etwas frische Luft aufzuschnappen. Hier oben in den Bergen war es brütend heiß, vor allem auf dieser Lichtung ohne den geringsten Schatten.
»Klar«, sagte Ellis und stapfte weiter. »Grace, komm und sieh dir das an!«, rief er plötzlich aufgeregt. »Ich glaube, ich kann von hier die Villa sehen!«
Doch sie waren noch zu weit weg, um Näheres erkennen zu können. Seite an Seite gingen sie weiter, bis sie zu einer nächsten Lichtung mit einer weiteren verlassenen weißen Hütte kamen. Diesmal zogen Ziegen grasend über die Wiese, und die Glocken um ihren Hals bimmelten fröhlich.
Und dann tauchte sie in all ihrer Pracht auf.
Die rosafarbene Villa, in der Connie gewohnt hatte.
Das musste sie sein.
Sie war absolut fantastisch.
Ein beeindruckendes zweistöckiges Gebäude umsäumt von Pinien. Zu der Villa führte ein von Zitrusbäumen gesäumter Pfad. Der Duft der Orangen- und Zitronenblüten war berauschend. Die überdachte Veranda, die das Haus umgab, war mit Terrakotta gefliest, und die Torbögen wurden von pinkfarbenen Bougainvilleen umrankt.
»Wow. Wer wohl heute an einem solchen Ort wohnt?«, fragte sich Grace. Ein Filmstar oder ein Sänger vielleicht – die Villa war wirklich beeindruckend und brauchte vermutlich ein ganzes Team an Leuten, um sie zu unterhalten. Sie fragte sich, ob man es ihnen wohl erlauben würde, einen Blick hineinzuwerfen. Sie wollte zu gerne sehen, wo Connie gelebt und wo sie möglicherweise die Tagebücher geschrieben hatte.
Mit einer Hand schützte sie ihre Augen vor der blendenden Sonne und sah sich um: Weiter unten glitzerte das Meer, ein Kreuzfahrtschiff am Horizont, darüber ein wolkenloser blauer Himmel. Häuser in einem ausgeblichenen Rosa, Weiß, Blau oder Grün klammerten sich an die Berghänge, die Fensterläden weit geöffnet. Auf den schmalen, kurvenreichen Straßen fuhren Leute auf ihren Rollern. Sie konnte die Zikaden in den Bäumen zirpen hören, und in diesem Moment fühlte es sich für Grace an wie das Paradies. Und es sah auch so aus.
Sie schloss die Augen und füllte ihre Lungen mit dem würzigen Geruch von Zitronen, Meer und Pinien. Als sie wieder die Augen öffnete und das eindrucksvolle Panorama vor sich hatte, wurde ihr bewusst, dass auch Connie genau diesen Blick gehabt hatte. Vermutlich hatte sie sogar an dieser Stelle gestanden, schließlich führte dieser Weg zu Connies einstigem Zuhause.
»Lass es uns herausfinden.« Ellis nahm ihre Hand und rannte mit ihr den Weg zum Eingangstor hinauf. Rechts vom Tor befand sich eine Gegensprechanlage. Er drückte die Klingel. Keine Antwort. Grace versuchte es ebenfalls, vergeblich.
»Was jetzt?« Enttäuscht musterte sie das Tor. Es war verschlossen.
Während sie überlegten, was sie als Nächstes tun sollten, stolzierte eine schwarze Katze mit weißen Flecken auf sie zu.
»Wollen wir rüberklettern?« Ohne auf eine Antwort von ihr zu warten, überreichte er ihr Handy und Portemonnaie. »Damit die Sachen nicht aus meiner Hose fallen«, erklärte er. »Ich gehe als Erster, und dann kommst du nach.«
»Was?«, rief Grace entsetzt. »Das meinst du nicht ernst, oder? Wir können doch nicht einfach in Connies Haus einbrechen! Wir wissen ja noch nicht mal mit Sicherheit, ob es die richtige Villa ist. Nirgendwo sehe ich das Schild mit dem Namen drauf – du etwa?« Sie zermarterte sich das Gehirn, was sie stattdessen tun konnten. Ihr fiel aber so schnell nichts ein.
»Nein. Aber es muss es sein. Der Typ im Hotel hat dir doch den Tipp gegeben. Er hat sogar gemeint, dass Mr Donato hier gelebt hat. Komm, es wird schon gut gehen! Es ist niemand da, die Fensterläden sind alle geschlossen. Vielleicht ist es ja inzwischen ein Ferienhaus …«
»Aber es ist trotzdem falsch. Was, wenn es eine Alarmanlage gibt oder Wachhunde. Und schau mal hier …« Sie zeigte auf die Überwachungskamera oberhalb der Gegensprechanlage. Aber bevor sie ihn aufhalten konnte, hatte Ellis sich bereits so am Tor hochgezogen, dass er ein Bein über die Pforte schwingen konnte. Und schwupps – schon sprang er auf die andere Seite des Tors. Auf seinem Gesicht machte sich ein jungenhaftes Grinsen breit, und sein dunkelbraunes Haar fiel ihm vor die Augen. Unwillkürlich erhaschte Grace einen Blick auf den jungen Mann, der er einmal gewesen war, und das gefiel ihr. Selbst wenn er ihr eine Mordsangst einjagte mit dieser gefährlichen Aktion. Die Katze wollte wissen, wer da gekommen war. Sie lief auf Ellis zu, rieb sich an seinem Bein und drehte sich dann im Kreis, als wolle sie ihren Schwanz fangen.
»Schau, die Katze freut sich, mich zu sehen. Es scheint ihr überhaupt nichts auszumachen, dass wir hier sind.« Ellis bückte sich, um dem Tier über den Kopf zu streicheln. »Ah, sie heißt Gypsy«, fügte er hinzu und betrachtete ihr pinkfarbenes Halsband. »Na los«, ermutigte er nun Grace und streckte eine Hand durchs Gitter. »Reich mir Handy und Portemonnaie und dann deine Tasche. Ich kann eine Räuberleiter machen, falls du eine Hilfe brauchst.«
»Ich klettere da nicht rüber«, sagte Grace und musterte verzagt das eiserne Tor, das mindestens drei Meter hoch war. Sie versuchte den Schweiß zu ignorieren, der ihr den Rücken hinunterlief, und die aufsteigende Panik. Unbedingt wollte sie einen Blick in Connies großartige Villa werfen – aber was, wenn sie erwischt wurden? Was, wenn die Polizei auftauchte und sie hier vor Ort ins Gefängnis gesteckt wurden? Jamie hatte gesagt, sie sollte ihr Leben bestmöglich auskosten, sich auf Abenteuer einlassen und all das. Aber sich in einem fremden Land einsperren zu lassen, das ging einen Schritt zu weit. Das war verrückt.
»Warum kommen wir nicht später wieder und schauen, ob dann jemand da ist?«, schlug sie vor. »Oder wir können Nachbarn befragen, so wie wir es uns vorgenommen hatten.«
»Aber es gibt hier keine Nachbarn, Grace. Wir sind einen halben Tag lang gewandert, ohne dass wir an einem bewohnten Haus vorbeigekommen sind. Connies Villa liegt völlig abgeschieden. Giovanni di Donato war tatsächlich ein Einsiedler! Wir müssen nicht reingehen. Ich sage ja nicht, dass wir einbrechen sollen …« Mit einem verschmitzten Grinsen nahm er Gypsy auf den Arm.
»Tja, das ist ja schon mal was.« Grace sah sich um, ob vielleicht jemand kam. Die Überwachungskamera konnte mit der nächstgelegenen Polizeistation verbunden sein – vielleicht waren die Carabinieri schon auf dem Weg hierher. O je. Warum musste er nur so dreist und naseweis sein?
Fieberhaft überlegte Grace, was sie tun sollte. Keineswegs wollte sie sich von Ellis’ flehend dreinschauenden Augen und seinem süßen, aber gänzlich unangemessenen Lächeln beeinflussen lassen. Plötzlich hörte sie etwas hinter sich. Schritte. Im Lauftempo. Ein Mann schrie etwas auf Italienisch und dann in einem perfekten Englisch mit einem leichten italienischen Akzent: »Hey! Was machen Sie da?«
Grace wirbelte herum und sah einen großen und extrem gut aussehenden Mann, der auf sie zurannte, gefolgt von einer attraktiven Frau in einem wehenden Kaftan über einem Badeanzug im Leopardenmuster.
»Tom. Sei vorsichtig!«, rief die Frau und strich ihre schulterlangen, zu einem Bob geschnittenen braunen Haare zurück. »Sie könnten bewaffnet sein.«
»Georgie, bleib wo du bist. Ich kümmere mich darum«, mahnte der Mann energisch und schob die Ärmel seines blütenweißen Hemds hoch, als bereite er sich für einen Zweikampf vor. Mit seinem schwarzen, lockigen Haar, seinem perfekten Aussehen und der leidenschaftlichen Ausstrahlung erinnerte er Grace an den jungen Gregory Peck. Oder an Elvis Presley. Oder Cary Grant. Oder an eine Kombination all jener attraktiven Herzensbrecher, die sie so gerne in den alten Hollywoodfilmen bewunderte.
»Aber er hält Gypsy fest«, kreischte die Frau und lief direkt auf das Tor zu. Sie schubste Tom beiseite. Dann wandte sie sich Ellis zu, schob ihre Sonnenbrille hoch und fragte: »Sprechen Sie Englisch?«
»Na klar, Madam«, erwiderte Ellis entspannt und streichelte Gypsy. Grace schluckte. Vielen Leuten waren ihre Tiere sehr wichtig, weshalb sie wünschte, Ellis würde die Katze einfach auf den Boden setzen. Die Frau sah ziemlich wütend aus. Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt, ihre blauen Augen blitzten, und ihre Nasenflügel bebten. Grace bewunderte sie heimlich für ihre Unerschrockenheit.
»Gut. Dann lassen Sie sofort meine Katze los, oder ich …« Sie hielt inne, als würde sie überlegen, was passieren würde, sollte Ellis ihren Anweisungen nicht Folge leisten. »Oder ich klettere über das Tor und nehme sie Ihnen ab, und dann wird es Ihnen schrecklich leidtun. Was sind Sie, Amerikaner?«, fragte sie mit harter Stimme.
»Jep«, sagte Ellis, auf seinem Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Wachsamkeit und Belustigung.
»Nun, ich kann Ihnen versichern, dass ich schon mit sehr viel größeren Amerikanern fertiggeworden bin.« Sie zeigte mit einem ihrer golden lackierten Finger auf Ellis. Grace musterte heimlich ihre eigenen abgekauten Fingernägel und nahm sich vor, demnächst ein Nagelstudio aufzusuchen, als Teil ihres zukünftigen Plans. »Oh ja, ein Möchtegern-Cowboy am John F. Kennedy Airport! Und seine geballten Fäuste sind so dicht vor meinem Gesicht gewesen!« Sie hob eine Faust vor ihr Gesicht, um den Abstand zu demonstrieren. »Nachdem ich seine Reisedokumente durcheinandergebracht habe.«
»Georgie, ich glaube nicht, dass wir …«, mischte sich Tom ein, aber die Frau fuhr unbeirrt fort:
»Und ein russischer Geschäftsmann. Ich bin ihm knapp entkommen, nachdem er versucht hatte, mich in seinem Auto zu verführen. Und wissen Sie was, es stellte sich heraus, dass er illegal Waffen an die Bratva verkauft hat – das ist die russische Mafia, falls Sie’s nicht wissen. Geben Sie mir sofort meine Katze zurück. Durch die Stäbe.« Die Frau schob ihre Arme in Ellis Richtung.
Grace hielt die Luft an und hoffte, Ellis würde tun, was diese Georgie von ihm forderte. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Tom den Kopf schüttelte, aber sie war sich nicht sicher, ob er amüsiert darüber war, wie Georgie mit der Sache umging, oder ob er Ellis abschätzte, um ihm, falls nötig, was auf den Schädel zu geben.
»Ellis, bitte. Gib ihr die Katze«, sagte Grace und wandte sich dann an Georgie. »Es tut mir leid, wir hatten nichts Böses im Sinn. Wir sind in der Hoffnung hergekommen, hier jemanden zu finden, der vielleicht eine … äh … Freundin von uns gekannt hat. Sie hat einmal hier in der Villa gelebt …«
»Das stimmt«, mischte sich Ellis ein. »Und dann haben wir Gypsy gesehen.« Er streichelte die Katze noch einmal und gab sie dann an ihre Besitzerin zurück. »Ihre kleine Pfote klemmte in einer Wegfurche, jetzt sie ist wieder okay«, fügte er rasch hinzu, als er die Sorgenfalten auf der Stirn der Frau sah. »Aber ich dachte, es wäre das Beste, über den Zaun zu klettern und ihr zu helfen, für alle Fälle«, beendete er den Satz. Er vermied es, Grace anzusehen.
»Dann müssen wir Ihnen für Ihre Hilfe danken.« Der Mann trat vor und streckte die Hand aus, die Ellis höflich schüttelte. »Meine Frau vergöttert Gypsy, und als wir Sie auf der Überwachungskamera gesehen haben, mit ihr in den Armen … nun, Sie können sich vorstellen, wie das aussah.«
»Ja, das kann ich. Es tut mir leid.« Ellis war binnen Sekunden wieder über den Zaun geklettert und stand jetzt neben ihnen.
»Ich dachte, Sie wollten sie stehlen«, sagte Georgie. »Und entschuldigen Sie, dass ich mich dazu habe verleiten lassen, Ihnen von meinen früheren Erfahrungen zu erzählen. Nun« – sie wandte sich Grace zu –, »erzählen Sie mir doch mehr von Ihrer Freundin, wie war ihr Name? Vielleicht können wir Ihnen ja helfen.«
»Das wäre toll«, bemerkte Grace und wischte sich unauffällig den Schweiß von der Oberlippe.
»Aber es muss schon lange her sein, dass Ihre Freundin hier gelebt hat, denn meine Großmutter hat die Villa vor mehr als zwanzig Jahren gekauft, in den Neunzigern«, erklärte Tom.
Grace fragte sich, ob sich das ungefähr mit Connies Rückkehr nach London deckte. Ungefähr in dem Zeitraum musste Giovanni gestorben sein. Wieso war Connie nicht in ihrem wunderschönen Heim geblieben, mit diesem herrlichen Blick?
»Ihr Name war Connie, genauer gesagt Constance di Donato. Sie hat hier mit ihrem Ehemann Giovanni gewohnt, einem Künstler. Er starb vor über zwanzig Jahren.« Grace wühlte in ihrer Handtasche nach dem Papierfächer, den sie sich gestern Abend in einem kleinen Geschäft nahe der Promenade gekauft hatte.
»Einem bedeutenden Künstler, wie wir inzwischen herausgefunden haben«, fügte Ellis hinzu. »Wissen Sie, ich arbeite für das Auktionshaus Sackville and Bush in New York, und wir haben ein paar seiner Bilder auktioniert. Und Grace …« Er hielt inne. »Entschuldigen Sie, wir haben uns noch gar nicht richtig vorgestellt. Ich bin Ellis und das ist Grace.« Er zeigte in ihre Richtung. Tom und Georgie stellten sich ebenfalls vor, bevor Grace den Gesprächsfaden wieder aufnahm und mehr von Connie erzählte, wie sie versuchten, einen Verwandten aufzuspüren, dem ihr Erbe und der Inhalt des so wunderbar präsentierten Lagerraums zustehen würde.
»Wow!«, sagte Georgie. »Das ist ja ein richtiges Rätsel. Wie aufregend.« Sie wandte sich Tom zu: »Ob wohl deine Nonna Maria helfen könnte? Vielleicht kennt sie ja diese Connie oder erinnert sich an etwas, das Grace und Ellis helfen könnte, einen Angehörigen zu finden.«
»Ich bin mir sicher, sie würde gern helfen wollen. Aber sie ist sehr alt und ihr Gedächtnis von Demenz gezeichnet. Maria ist übrigens meine Großmutter mütterlicherseits«, beeilte sich Tom zu erklären. »Doch ich frage sie gerne. Geben Sie mir Ihre Handynummer, ich rufe Sie an, sollte ich etwas in Erfahrung gebracht haben.« Er griff in seine Jeanstasche, vermutlich um sein Handy herauszuholen und die Nummer einzutippen, aber es war nicht da. »Hast du dein Handy bei dir, Georgie?«, fragte er und klopfte sicherheitshalber noch mal seine Gesäßtaschen ab.
»Nein, ich habe es am Pool gelassen – wir sind so hektisch losgestürmt«, sagte sie und küsste Gypsy auf den Kopf.
»Und bei mir ist der Akku leer«, sagte Ellis und starrte auf sein Handy.
Grace begann, in ihrer Tasche nach ihrem Telefon zu kramen. »Wir könnten auch ein anderes Mal wiederkommen, wenn das für Sie leichter ist«, bot sie an, weil sie dringend in den Schatten wollte. Hätte sie doch nur keine Jeans und Turnschuhe angezogen! Georgie hingegen war passend angezogen mit ihren Flip-Flops, dem Badeanzug und dem Kaftan. Grace nahm sich vor, nach etwas Ähnlichem zu suchen, wenn sie morgen nach Portofino fahren würden.
»Hören Sie«, sagte Georgie. »Anstatt das alles hier draußen zu klären, wo wir nur in der Sonne rösten – warum kommen Sie nicht mit uns? Wir können im Schatten der Terrasse unsere Nummern austauschen. Und natürlich sind sie herzlich auf ein kaltes Glas selbst gemachter Limonade eingeladen, wenn Sie Zeit haben.« Sie lächelte Grace zu, die sie hätte umarmen können, so erleichtert war sie bei dem Gedanken, der sengenden Sonne zu entkommen.
»Sind Sie sich sicher?«, fragte Ellis. »Ich meine, wir sind einfach auf Ihr Grundstück …«
»Ja, das sind Sie«, bestätigte Georgie. »Aber Grace ja eigentlich nicht. Also kommen Sie, Schätzchen, lassen Sie uns der Hitze entfliehen.« Sie hakte sich bei Grace unter und führte sie zu einem Seiteneingang, als wären sie die besten Freundinnen, die sich schon seit Ewigkeiten kannten.
»Sie sind beide herzlich willkommen.« Tom lächelte Ellis zu.
Und während sie in den Schatten gingen, konnte Grace hören, wie Tom von einem alten Schulfreund erzählte, der vor Jahren angefangen hatte, bei Sackville and Bush zu arbeiten. Ob Ellis ihn vielleicht kannte? Schon plauderten die beiden, als wären sie ebenfalls alte Freunde.
*
Später – die Telefonnummern waren ausgetauscht und sie waren zum Du übergegangen –, saß Grace am Rand eines herrlichen Infinity Pools, nippte an der eiskalten Limonade und tauchte ihre Zehen in das erfrischend kühle Wasser. Georgie und Tom wohnten mit ein paar Freunden in einem Nebengebäude der Villa – deshalb waren die Fensterläden nach vorne hin auch geschlossen gewesen. Anscheinend fiel es Toms Nonna Maria schwer, die Villa für alle zur freien Verfügung zur stellen, denn vor ein paar Jahren war eine Pool Party außer Kontrolle geraten. In der Bibliothek war Rotwein auf dem kostbaren orientalischen Teppich gelandet.
Grace fragte sich, ob Connie ursprünglich den Teppich ausgesucht hatte. Sie verspürte eine leichte Enttäuschung, dass sie sich das Haus nicht von innen ansehen konnten. Aber es war wunderschön in dem Garten, und sie bewunderte die Palmen, die so groß waren, dass sie hier schon gestanden haben mussten, als Connie noch in der Villa wohnte.
Grace stellte sich vor, wie Connie im Garten herumgewerkelt hatte, einen Korb in der Armbeuge, um die sonnengereiften Feigen von dem hohen Baum zu ernten. Oder wie sie auf der Veranda gesessen, einen Cocktail getrunken und dabei den Ausblick genossen hatte, umgeben von köstlichen Zitrusaromen. Auch der Duft von Frangipani-Blüten schwebte in der Luft. Grace sah zum anderen Ende des Pools – es schien, als würde er im Meer oder in der Unendlichkeit verschwinden. Sie selbst hatte das Gefühl, sie befände sich auf dem Dach der Welt.
Sie schloss die Augen, ließ ihre Finger durch das kühle Wasser gleiten und stellte sich vor, sie würde hier in der Villa leben, mitten in den Fünfzigerjahren, mit einem attraktiven Mann, der ihr gerade einen Martini mixte. So musste es Connie ergangen sein. Connie, Giovanni und die kleine Lara saßen auf dieser Terrasse zusammen, unendlich glücklich, da weit entfernt von Connies kontrollsüchtiger Mutter.
Schließlich kehrten ihre Gedanken in die Gegenwart zurück. Sie zwickte sich, weil ihr das alles, was ihr in diesem Moment widerfuhr, so surreal vorkam. Das aufregende Gefühl, ganz spontan gehandelt zu haben, auch wenn Panik in ihr aufgestiegen war, als Ellis über das Tor kletterte. Im Rückblick war sie froh, dass er das getan hatte, denn sonst würde sie jetzt nicht am Pool sitzen und dieses berauschende Erlebnis genießen. Merkwürdig, in diesem Augenblick überlegte sie, wie es wohl gerade Matthew und seiner Yoga-Lady erging. Lagen sie vielleicht auch am Rand eines Infinity Pools und sonnten sich?
Hm, vielleicht war es am Anfang so gewesen, der Anfang war immer ein Paradies. Doch Matthews Facebook-Seite hatte zuletzt etwas anderes vermittelt. Sie hatte sich die angesehen, als Cora wegen des Spa-Wochenendes so ein Drama gemacht hatte. Matthew hatte sich über den Schlafmangel beschwert und darüber, dass er wegen der Zwillinge nicht am Jungs-Wochenende teilnehmen konnte. Doch er wolle »um nichts in der Welt« tauschen.
Vielleicht war das Gras auf der anderen Seite des Zauns gar nicht so viel grüner. Sie hatte viel zu viele Abende damit verbracht, ihrem Ex-Verlobten nachzuspionieren und sich mit dem zu konfrontieren, was sie als ein perfektes, unfassbar glückliches Leben wahrgenommen hatte – dabei war es in Wirklichkeit nur eine Fassade gewesen. Das konnte sie jetzt erkennen. Vielleicht lag das daran, dass sie gerade glücklich war.