Nach ihrer Rückkehr öffnete Grace im Hotel ihren Laptop, während Ellis mit Larry telefonierte und ihm erklärte, dass Connies Schmuck am Abend von einem Kurier der Bank abgeholt werden würde. Sie saßen auf dem kleinen Balkon mit dem wunderbaren Blick auf das Meer, und die warme Nachmittagssonne badete die Palmen in einem goldenen Schein.
»Ich besorge uns Wein und einige Kleinigkeiten«, sagte Ellis, nachdem er das Telefonat beendet hatte. Bevor Grace etwas erwidern konnte, war er vom Tisch aufgesprungen. Sie fragte sich, was die Eile sollte, als ob er nicht schnell genug von ihr wegkommen konnte. Auf der zwanzigminütigen Busfahrt zurück von Portofino war er erneut ungewöhnlich still gewesen und hatte die ganze Zeit nur stumm aus dem Fenster gestarrt. Dann war er aus dem Bus gestürmt und hatte am Aufzug fast nicht auf sie gewartet.
Warum war er plötzlich so distanziert? Sie hatten im Aufzug nebeneinandergestanden, und Ellis hatte nicht viel mehr als ein, zwei Worte herausgebracht, während sie erklärte, wie schön es gewesen sei, mehr über Connies Leben zu erfahren, und das von jemandem, der sie gekannt hatte, als sie noch jung und voller Leben gewesen war. Und wie toll es doch sei, dass Georgie und Tom versprochen hatten, in Kontakt zu bleiben, wo sie doch bald auch wieder nach England zurückkehren würden.
Sie hörte, wie Ellis von seinem Zimmer aus abermals telefonierte, seine Stimme drang durch die Balkontür, die nur angelehnt war.
»Jennifer, hey Schatz, ich bin morgen schon zurück … ja, ich freue mich auch auf dich.« Schamlos lehnte sich Grace in ihrem Stuhl zurück, um besser hören zu können. Aber Ellis musste sich von der Tür entfernt haben oder tatsächlich Wein und Knabberzeug kaufen gegangen sein, denn sie konnte nur noch die Zikaden vernehmen, die im Laub zirpten, und das Rauschen des Meeres.
Grace konzentrierte sich wieder auf die Tastatur ihres Laptops und öffnete einen Ordner, der »Connies Sachen« hieß. Sie scrollte durch die Liste der Dokumente, bis sie bei »Briefe« und »diverse Unterlagen« angekommen war. Vielleicht hatte sie sich ja noch nicht alles angesehen. Ah, da … Sie klickte ein Foto an und sah, dass es auf März 1946 datiert war, also auf den Zeitraum nach der Hochzeit von Connie und Giovanni. Der Text zum Foto war wie ein Tagebucheintrag, nur dass die Seite aussah, als wäre sie aus einem Notizheft herausgerissen worden. Grace schlüpfte aus ihren Sandalen, zog ihre Beine an und begann zu lesen.
Heute ist der Tag, an dem ich zur Mutter werde. Zu einer richtigen Mutter für meine liebe Tochter Lara. Giovanni fährt mich nach Tindledale, damit ich sie mit nach Hause nehmen kann, nach London, und dann mit uns nach Italien, wohin wir nächste Woche segeln. Mit Mutter und Vater ist bereits alles geregelt. Ich habe ihnen kurz nach meinem letzten Besuch bei Lara geschrieben und deutlich gemacht, dass ich sie jetzt ganz bei mir haben möchte. Ich habe sie in diesen letzten zwei Monaten ohne Besuch so sehr vermisst! Aber es ging nicht anders, denn Mutter schrieb mir, dass Lara an Masern erkrankt sei und es daher in meinem jetzigen Zustand zu gefährlich sei, sie zu besuchen. Da meine Schwangerschaft gerade erst von einem Arzt in der Harley Street bestätigt worden ist, meinte auch Giovanni, es wäre besser zu warten, bis Lara wieder gesund sei.
Grace spürte, wie ihr leichter ums Herz wurde bei dem Gedanken, dass Connie ein zweites Mal schwanger gewesen war – doch dann fragte sie sich, wo das Kind wohl jetzt war. Sie fand einen Papierblock und notierte sich:
Noch ein Kind.
Geboren irgendwann Ende 1946.
Grace las weiter, vielleicht stieß sie ja noch auf den Namen des zweiten Kindes. Doch mit einem Mal schwand ihre Hoffnung: Nonna Maria hätte es mit Sicherheit erwähnt, wenn Connie kurz nach ihrer Ankunft in Italien ein Kind zur Welt gebracht hätte. Stattdessen hatte sie explizit gesagt: »Connie hatte kein Kind bei sich, als sie nach Italien kam« und »Ein Baby ist immer ein Geschenk«. Deshalb war sich Grace jetzt ziemlich sicher, dass die Schwangerschaft nicht erfolgreich verlaufen war. Dafür sprach auch, dass in den Tagebüchern kein anderes Kind erwähnt wurde. O Connie, wie hast du nur all diesen Kummer ertragen können?
Dennoch hörte Grace nicht auf, mehr in Erfahrung bringen zu wollen.
Ich bin so glücklich und kann es kaum erwarten, meine Tochter in die Arme zu schließen und ihr zu sagen, dass sie mit ihrer Mommy nach Hause geht. Wenn ich daran denke, dass es bald so weit ist, fließt mein Herz vor Liebe über, denn sie ist solch ein sonniges, fröhliches kleines Mädchen, und ihr Daddy wäre so stolz auf sie.
Grace lächelte, glücklich über Connies Glück. Aber als sie weiterlas, spürte sie, wie ein Gefühl der Angst sich ihrer bemächtigte. Sie hielt die Luft an …
Sie ist fort. Ich kann die Worte kaum aufschreiben. Mutter und Vater haben sie mir weggenommen. Mein liebes, süßes Mädchen mit den funkelnden Augen und den rabenschwarzen Locken, meine geliebte Lara ist fort. Als wir beim Cottage ankamen, antwortete niemand auf mein Klopfen an der Tür. Das Haus war verschlossen. Deshalb ging Giovanni zum Herrenhaus, zwei Felder weiter, am anderen Ende des Landsitzes, auf der Suche nach Vaters Freund. Lord Montague hat einen wichtigen Posten im Innenministerium und wirkte recht kurz angebunden, als er mit Giovanni zum Cottage zurückkehrte. Aber als er meine Verzweiflung bemerkte, die ich kaum unterdrücken konnte, stimmte er zu, die Tür vom Cottage zu öffnen, damit ich selbst nachsehen konnte.
Ich rannte durch jeden Raum, sah in jeden Schrank, unter und hinter jedes Möbelstück, wie eine Verrückte. Ich öffnete sogar Großvaters Standuhr in der Diele, und zum Glück tat ich das, denn sonst hätte ich nicht Laras winziges silbernes Armband gefunden. Aber ich wusste es. Noch als ich wie verrückt suchte, wusste ich, dass es umsonst war: dass Mutter mir mein Baby genommen hatte. Das Baby, das ich ihrer Meinung nicht hätte bekommen sollen. Das Baby, das sie auf dem Land versteckt gehalten und als ihr eigenes ausgegeben hatte, wie ich später erfuhr, als Lord Montague von meiner Schwester sprach, der kleinen Lara. Alles, was mir von meinem süßen, lieben Mädchen geblieben ist, sind das silberne Band, der pinkfarbene Teddy von ihrem Daddy Jimmy und die Babykleidung, die ich ihr gestrickt hatte. Beides lag in dem Wäscheschrank im Flur. Natürlich ist Lara inzwischen zu groß für Babykleidung, aber ich finde es doch grausam, dass Mutter und Vater die einzigen Sachen zurückgelassen haben, die Lara von ihren wahren Eltern besaß, Jimmy und mir.
Wenn ich das Jäckchen, die Mütze und die Schühchen an meine Brust drücke, kann ich noch ihren herrlichen Babyduft riechen, und ich werde diese Sachen hüten, bis ich meine geliebte Lara wiedersehe. Dem lieben Giovanni ist es gelungen, Lord Montague während eines Gesprächs von Mann zu Mann zum Plaudern zu bringen, unter der Voraussetzung, dass ich im Wagen wartete, weil er mich nicht noch weiter in Unruhe versetzen wollte. Also tat ich das, den Teddy fest umklammert, den Jimmy auf dem Jahrmarkt gewonnen hatte.
Lord Montague erzählte Giovanni, dass Mutter und Vater abgereist waren, um sich um Tante Rachael in Manhattan zu kümmern. Amerika. Sie sagten, es wäre ihr Pflicht, Tante Rachael unter die Arme zu greifen, da sie gesundheitlich angeschlagen sei. Die Kinder ihrer Freunde in Deutschland und Polen würden sich darauf verlassen, dass Tante Rachael ihnen bei der Überfahrt nach Amerika finanziell helfe. Man könne sie nicht länger leiden lassen, da sie jetzt Waisen seien. Als Juden seien sie von den Nationalsozialisten verfolgt worden, und sie hätten bereits unvorstellbares Leid in den Todeslagern erlebt, aus denen die Alliierten sie befreit hätten.
Lord Montague versicherte Giovanni, er habe alles arrangiert, sodass Mutter, Vater und Lara die nötigen Papiere besäßen, um im Februar bequem an Bord der Queen Mary von Southampton Richtung Manhattan zu reisen. Auch wenn ich Mutter und Vater nicht dafür zürnen kann, dass sie Tante Rachael zur Hilfe kommen und all jenen, die gelitten haben und nichts mehr besitzen, so haben sie mir doch meine geliebte Tochter gestohlen. Denn sie ist bereits seit einem Monat fort und hatte vermutlich nie die Masern. Als ich das hörte, weinte ich, schluchzte sogar laut, ohne mich darum zu scheren, ob meine Not Lord Montague unangenehm war.
Grace ertrug nicht länger das, was sie da eben erfahren hatte, und schloss den Laptop. Sie selbst musste ein Schluchzen unterdrücken, überwältigt von ihren Emotionen angesichts Connies Qualen. Wie konnten sie nur? Wie konnten Connies Eltern nur so grausam sein und ihr das Kind wegnehmen? Der Verrat machte Grace aber auch wütend. Die Art, wie dieser hochnäsig klingende Lord Montague Connies Herz entzweigerissen hatte. Denn auch er war an dieser Irreführung beteiligt gewesen. Er hatte die Dokumente besorgt, hatte Lara fortgeschickt, unwissentlich oder nicht, aber er hatte es getan. Und so war Connie erneut im Stich gelassen worden. Nein, mehr als das, sie war von ihren hinterhältigen, kaltherzigen Eltern betrogen worden, die sich eindeutig einen feuchten Dreck um die Gefühle ihrer Tochter scherten. Ganz abgesehen von denen ihrer Enkeltochter.
Was diese Trennung wohl bei Lara angerichtet hatte? Hatte die beiden das denn gar nicht gekümmert? Und hatte Lara überhaupt gewusst, dass Connie sie zu sich nehmen wollte, um sie zu umsorgen und gemeinsam ein wunderbares Leben in Italien zu beginnen, umgeben von Liebe und von Menschen, die wussten, wie man Spaß hatte und lachte? Stattdessen wuchs sie bei puritanischen Kontrollfreaks Tausende Meilen entfernt auf. Und weil man damals nicht jeden Tag nach Amerika aufbrach, musste Connie außer sich gewesen sein bei der Erkenntnis, dass möglicherweise Jahre vergehen würden, bis sie ihr einziges Kind wieder zu Gesicht bekäme. Und so musste es passiert sein, denn Grace war jetzt davon überzeugt, dass Conni und Giovanni nach Amerika gereist waren, um Lara zu besuchen, um ihr an ihrem zwölften Geburtstag die Kette zu ihrer Bat-Mizwa zu überreichen. Wenn Lara 1940 zur Welt kam und 1946 sechs Jahre alt war, dann hatte es weitere sechs Jahre gedauert, bis Connie sie wiedersah. Und das nur, falls sie Lara überhaupt hatte sehen dürfen – was, wenn nicht? Was, wenn Connies hasserfüllte Eltern das verhindert hatten und sie deshalb mit der Davidstern-Kette zurückgekehrt war?
»Warum solltet ihr das getan haben? Warum ein derart unmenschliches Verhalten?«, sagte Grace zu sich selbst und stellte sich an den Rand des Balkons. Sie stützte die Ellbogen auf dem Geländer ab und legte den Kopf in die Hände, die Schultern angespannt vor Mitgefühl, als sie sich Connies Leid vorstellte. Dann hob sie entschlossen den Kopf, starrte in den strahlend blauen Himmel und flüsterte Connie ein stummes »Es tut mir leid« zu. Eines stand jetzt fest: Sie würde Lara finden, egal, was es kostete. Und dann … dann würde sie versuchen, zumindest einen Teil des Schadens, den die Eltern Connie zugefügt hatten, wiedergutzumachen. Grace würde Lara die Tagebücher und die Briefe zeigen, würde sie spüren lassen, welche Liebe ihre Mutter für sie empfunden hatte. Und sie würde ihr Connies sorgsam verwahrten Besitz übergeben, der, davon war Grace überzeugt, nur auf Laras Rückkehr wartete. Connie hatte alles von Wert zusammengesucht und in Sicherheit gebracht, damit ihre Tochter es eines Tages fand. Jetzt fehlte nur noch, dass Grace Lara fand.
Bitte, lass Lara noch am Leben sein.