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London, in der Gegenwart

Grace Quinn liebte ihren Job in der Cohen’s Convenient Storage Company. Eigentlich war es sogar das Einzige, was ihr derzeit richtig Freude bereitete. Abgesehen von ihrem Strickzeug und einem großen Becher heiße Schokolade mit einem Schuss Kirschlikör, wenn sie abends in ihre alten Filme flüchtete. Sie liebte die Klassiker. Das Gefühl, in eine Welt voller Nostalgie und Glamour hineingezogen zu werden, wo niemals etwas Schlimmes geschah – so schien es jedenfalls. Fred und Ginger, Doris Day. »Whip Crack Away«! Sie war ein großer Doris-Day-Fan und hatte durch ihre Filme unglaublich viel über Timing und Präzision gelernt. Das kam auch ihren eigenen Tanzkünsten zugute. Und Gene Kelly. Du sollst mein Glücksstern sein. Sie würde niemals müde werden, sich dieses Meisterwerk anzusehen. Auch wenn ihr absoluter Favorit – natürlich – die legendäre Audrey Hepburn in Ein süßer Fratz war. Vor allem, wie in der Technicolor-Szene Audrey und Fred »’S Wonderful, ’s Marvellous« sangen, während sie auf den Gewässern eines idyllischen Châteaus ein Floß bestiegen und tanzend davontrieben. Aber diese Magie konnte für Grace immer erst dann wirken, wenn ihre bettlägerige Mutter Cora endlich eingeschlafen war – was in letzter Zeit ständig später geschah.

Grace lauschte, während sie in ihre Schuhe schlüpfte, ihr Haar bürstete und das Chaos ihrer kupferbraunen Locken zu einem mehr oder weniger ordentlichen Knoten band, ob von oben, aus Coras Zimmer, etwas zu hören war. Sie betete stumm, dass sie es aus dem Haus und zur Arbeit schaffen würde, bevor ihre Mutter erneut nach mehr Frühstücksflocken und Toast brüllte. Grace hatte ihr bereits eine große Schale Cornflakes und zwei Toasts mit Butter und Marmelade gebracht, aber es hatte gestern im Laden nicht mehr das Brot mit den extra dicken, knusprigen Scheiben gegeben. »Deshalb brauche ich mehr, um satt zu werden, Grace«, hatte Cora gesagt, als sie weitere Toasts einforderte. Und dann hatte sich ihre Mutter in letzter Zeit auch noch angewöhnt, sie zu rufen, um die Lampe auf dem Schränkchen neben ihr anzuknipsen. Ihre eigene Hand, nur wenige Millimeter entfernt, spiele wieder verrückt. Das war vergangene Nacht gleich viermal vorgekommen.

Tja, es sollte wohl nicht sein.

»Grace. Grace. Grace! Himmelherrgottszeiten, wo steckst du?«, donnerte Cora mit ihrem schweren irischen Akzent und pochte mit dem Gehstock auf den Fußboden, sodass der Lampenschirm an der Wohnzimmerdecke gefährlich zu schwanken begann.

Resigniert legte sie die Haarbürste hin. Umklammerte die Kante des Kaminsimses mit beiden Händen, schloss die Augen, ließ den Kopf kurz sinken und atmete tief ein, bevor sie die Luft wieder ausstieß und jede Zelle ihres Körpers nach einem letzten Rest an Durchhaltevermögen durchforstete. Sie war müde. So müde. Nachdem sie die Augen wieder geöffnet hatte, musterte Grace ihr Gesicht im Spiegel. Ihre Augen waren um die grüne Iris herum gerötet, und ihre helle, sommersprossige Haut wirkte noch blasser als sonst, falls das überhaupt möglich war. Cora hatte eine schlechte Nacht gehabt, und Grace war deshalb bis drei Uhr morgens wach gewesen. Das würde nun der dritte Tag in Folge sein, an dem sie zu spät zur Arbeit kam. Und auch wenn ihr Chef Larry sehr verständnisvoll war, wurde er doch auch nicht jünger. Seit seiner Knieoperation im letzten Jahr fiel es ihm schwer, die morgendlichen Rundgänge zu machen: die Flure der Lagerhalle abzuschreiten, die Temperaturregler zu überprüfen und die schweren Metallwagen zurück in ihre Bucht neben dem Fahrstuhl zu schieben. Ja, er war immer gut zu ihr gewesen – das Mindeste, was sie für ihn tun konnte, war pünktlich zu sein. Grace fand es alles andere als fair, ihm die ganze Arbeit zu überlassen.

Aber eigentlich war in letzter Zeit nichts so richtig fair. Nicht für Larry. Nicht für sie selbst. Was konnte daran fair sein, dass keiner ihrer Geschwister ihr unter die Arme griff? Cora hatte vier erwachsene Kinder, und dennoch blieb es letztlich an Grace hängen, der jüngsten Tochter, sich um ihre extrem fordernde Mutter zu kümmern. Abgesehen von den gelegentlichen Besuchen ihres besten Freundes Jamie. Er lebte in dem Reihenhaus nebenan, und sie waren gemeinsam hier in Woolwich aufgewachsen. Er arbeitete inzwischen als Geburtshelfer im Queen Elizabeth Hospital, und er schaute vorbei, wann immer er konnte, um ihr beim Umlagern ihrer Mutter zu helfen. Ab und an kaufte er Cora auch Rubbellose. Cora liebte Rubbellose und war überzeugt, ihr »fetter Gewinn« wäre nur noch eine Frage der Zeit. Und dann, so sagte sie, würde sie einen »professionellen Pfleger anstellen und sich eine Suite im Savoy Hotel in London buchen, wo die Dinge anständig gemacht« würden.

Grace hatte das alles schon tausendmal gehört, und insgeheim hoffte sie, der »fette Gewinn« würde einen Zahn zulegen und möglichst bald auftauchen, um ihrer beider Willen. Cora weigerte sich schlichtweg, ein staatlich geführtes Pflegeheim in Betracht zu ziehen. Sie behauptete, nur ein hochpreisiges Heim, auf dem Niveau eines Fünf-Sterne-Hotels, wäre für sie das Passende, und sie würde sich auch zu Hause nicht von irgendwelchem »Pöbel«, sprich: Fremden, helfen lassen. Also musste Grace sich allein um alles kümmern. Sie war sich durchaus bewusst, dass sie langsam, aber sicher unter der Belastung, sich gleichzeitig um ihre Mutter zu kümmern und ihrem Vollzeitjob nachzugehen, zerbrach. Aber sie wusste keinen anderen Ausweg. Vor allem, nachdem sich Cora geweigert hatte, sich fürs Pflegegeld einstufen zu lassen – Grace’ Einkommen war alles, was sie zum Leben hatten. Sie hatte versucht, ihre Geschwister einzubeziehen, aber die waren fortgezogen und hatten alle irgendwelche wichtigen Jobs … Nun ja, wichtiger als ihr Job in einer Firma für Lagerhaltung in einem Gewerbegebiet in Greenwich und nur zehn Minuten mit dem Bus von Cora entfernt, das meinten sie eigentlich. Also ackerte Grace weiter. Schließlich konnte sie ihre Mutter nicht einfach im Stich lassen, ihr den Rücken zuwenden, wo doch Cora aufgrund ihrer gesundheitlichen Probleme, die noch von ihrem beträchtlichen Körperumfang verstärkt wurden, nicht ohne Hilfe das Bett verlassen konnte.

Nein. Cora brauchte sie.

»Was ist denn, Mum?«, fragte Grace, als sie Coras Zimmer betrat und fast an der schweren, nach Maiglöckchen-Puder riechenden Luft erstickte.

»Wofür hast du das hier bitte besorgt?«, fragte Cora anklagend, und ihr teigiges Gesicht verzog sich finster.

»Was meinst du, Mum?« Grace sah sich im Zimmer um.

»Guck doch!« Cora hob ihre Bettdecke an: Ihre fleischigen nackten Arme und Beine und ihr restlicher, von einem Nachthemd bedeckter Körper waren mit weißem Talkumpuder überzogen. Grace sank das Herz. Es war, dem goldenem Reisewecker zufolge, der auf der Kommode stand, acht Uhr fünfundzwanzig, und sie sollte um neun auf der Arbeit sein. Nie im Leben würde sie das hier rechtzeitig wieder in Ordnung bringen: das Bett abziehen und dabei ihre Mutter vorsichtig umlagern, wie der Pfleger vom Sozialdienst es ihr gezeigt hatte, und dann das talkumgepuderte Laken durch ein frisches ersetzen. Um als Nächstes das Pulver von Coras Körper zu waschen und ein neues Nachthemd für sie zu finden. Grace hatte erst heute Morgen das letzte Nachthemd aus der Schublade genommen und anschließend eine Ladung Wäsche angestellt, die sie zum Trocknen aufhängen wollte, wenn sie in der Mittagspause nach Hause hetzen würde. Aber sie konnte ihre Mutter nicht den gesamten Vormittag über so zurücklassen. Cora nieste bereits, weil sie Puder eingeatmet hatte, und ihre Haut würde schwitzen und dann wund werden, was noch mehr Cremes und zusätzliches Umlagern nach sich ziehen würde, um schmerzhaftes Wundliegen zu verhindern.

Also fand sich Grace damit ab, erneut zu spät zu kommen – und Larry wieder mal im Stich zu lassen. Rasch zog sie ihr Handy aus ihrer Jeanstasche und tippte eine SMS an ihn, bevor sie sich an die Arbeit machte. Wenn sie sich beeilte und Cora ihrer Aufforderung nachkam, sich an dem Haltegriff des Bettgalgens festzuhalten, während sie sie auf die Seite rollte, hatte Grace vielleicht noch eine Chance, es bis zehn zur Arbeit zu schaffen.

»Wie ist das passiert?«, fragte Grace zögernd, denn ihre Mutter neigte zu Wutanfällen, und das wäre das Letzte, was sie jetzt ertragen konnte. Cora würde ihr dann ganz sicher nicht helfen, und das ganze Prozedere würde doppelt so lange andauern.

»Du hast das Falsche gekauft!«, schimpfte Cora. »Ich hab gesagt, du sollst das Gute von Marks and Sparks besorgen, nicht das Billige von Pound Shop. Deshalb ist der Deckel abgefallen, als ich es geschüttelt habe.«

»Aber wofür hast du das Talkum überhaupt gebraucht, Mum? Ich habe dich doch heute Morgen nach dem Waschen eingepudert«, erinnerte Grace sie, während sie begann, das Laken von der Matratze zu lösen.

»Nein, hast du nicht.«

»Doch, habe ich«, erwiderte Grace sanft. Sie war sich dessen ganz sicher.

»Du musst es vergessen haben. Du warst schon immer so vergesslich. Deine ältere Schwester hingegen … Bernadette vergisst nie etwas. Ob Geburtstag, Weihnachten oder Muttertag, sie schickt mir immer eine hübsche Karte. Und Blumen. Guck sie dir an, da drüben stehen sie. Wie schön sie sind. Und frisch. Sie duften einfach herrlich!«, schwärmte Cora.

Grace warf einen Blick auf die rosafarbenen Lilien, die am Sonntag zusammen mit einer Karte gekommen waren. In ihr entschuldigte sich Bernie dafür, dass sie nicht zu Coras Geburtstag kommen könne, weil ihr Mann Liam sie und die Kinder zum Mittagessen ausführe. Das Gleiche war schon im Jahr zuvor passiert. Und im Jahr davor. »Du könntest von unserer Bernadette schon noch das ein oder andere lernen, das steht mal fest.«

»Schade nur, dass sie uns nicht besucht hat. Es wäre doch nett gewesen, sie zu sehen, meinst du nicht auch?«, bemerkte Grace, während sie ihre Mutter auf die Seite hievte. Sie konnte sich nicht erinnern, wann ihre Schwester sie das letzte Mal in ihrem gemeinsamen Elternhaus besucht hatte. Aber kaum hatte sie das gesagt, bereute sie es auch schon.

»Nun, das wird sie kaum können, wie sollte sie! Sie hat so viel zu tun. Es ist wichtig für eine Mutter, Zeit mit ihren Kindern zu verbringen«, dozierte Cora. »Außerdem arbeitet Bernadette so hart am Empfangsschalter dieser Privatbank – du weißt doch, die Kunden müssen eine spezielle Klingel drücken, nur um in das Gebäude gelassen zu werden. So wichtig ist diese Bank – warum solltest du ihr da einen freien Tag missgönnen?«, fuhr sie fort, und dann: »Aua!« Cora schlug ihrer Tochter auf den Handrücken, weil eine ihrer silbergrauen Haarsträhne aus Versehen an Grace’ Hemd hängen geblieben war.

»Entschuldige, Mum«, murmelte Grace und befreite mit ihrer brennenden Hand vorsichtig das Haar ihrer Mutter.

»Sei halt etwas vorsichtiger. Kein Wunder, dass dein Freund die Fliege gemacht hat, wenn du so mit ihm umgegangen bist. Der arme Mann hat bestimmt befürchtet, du könntest ihm mit deiner grobschlächtigen Art noch wehtun. Und du wirst ja nicht gerade jünger, Grace, das steht mal fest.« Cora hielt inne, um bestürzt – oder angewidert? – den Kopf zu schütteln. »Du kannst nicht zulassen, dass das, was mit diesem wunderbaren Matthew geschehen ist, den Rest deines Lebens ruiniert. Nein, du musst dich zusammenreißen und dich bei diesem neuen Kerl ein bisschen mehr anstrengen. Sonst wird er dich ebenfalls abservieren für eine Jüngere und Hübschere.«

Grace stöhnte innerlich auf und sah zur Decke, weil sie diese Tirade in den letzten Jahren mindestens eine Trilliarde Mal gehört hatte, so kam es ihr jedenfalls vor. Sie dachte an ihren Ex-Verlobten, Matthew. Die Liebe ihres Lebens. Aber der war jetzt mit einer anderen Frau verheiratet.

Grace und Matthew hatten sich in der Tanzschule kennengelernt und ineinander verliebt, als sie nach dem Studium gemeinsam auf Kreuzfahrtschiffen gearbeitet hatten. Dann, später, hatten sie beide verschiedene Rollen bei Musicals in London bekommen. Alles war sorglos und schön gewesen, bis Cora zunehmend mehr von ihrer Zeit beansprucht hatte. Wieder und wieder hatte sie spät abends angerufen und Grace und Matthew wachgehalten – obwohl die beiden völlig erschöpft waren, nachdem sie in zwei Shows getanzt hatten. Natürlich hatte das Auswirkungen auf ihre Auftritte am nächsten Tag gehabt, wenn sie beim Tanz aus reiner Müdigkeit dumme Fehler machten. Bis sich Matthew eine Verletzung am Knöchel zuzog, die ihn seine Rolle in König der Löwen kostete, im West End Theatre, die lang erträumte große Chance. Im Rückblick erkannte Grace, dass die Spannungen zwischen ihnen beiden danach zugenommen hatten: Sie hatte das Gefühl gehabt, ihrer Mutter helfen zu müssen, während Matthew sich ständig auf die Zunge beißen musste, wenn es Cora wieder einmal gelungen war, ihre Beziehung zu unterhöhlen.

Und jetzt war Matthew glücklich mit seiner Ehefrau, einer Yogalehrerin – topfit und munter, mit wippendem Haar –, und seinen pausbäckigen Zwillingen im Krabbelalter. Sie wohnten in einem Cottage in den Cotswolds, hübsch wie eine Pralinenschachtel, mit einem kleinen Bach am hinteren Ende des Gartens (eher eine Wiese) voller Blumen. Und wenn das noch nicht genügend Glückseligkeit für einen einzelnen Menschen war – seit Kurzem hatte er auch noch einen schokoladenbraunen Labradorwelpen. Grace wusste das von seinen Facebook-Beiträgen, die sie sich ab und zu ansah. Normalerweise am frühen Abend, nachdem sie zu viel heiße Schokolade mit Kirschlikör getrunken hatte und ihr Selbstwertgefühl irgendwo auf dem Fußboden lag. Denn das Bild von jenem Tag, als sie ihn zusammen mit dieser munteren Yoga-Frau in ihrem Bett vorgefunden hatte, würde ihr für immer ins Gedächtnis eingebrannt sein.

Vor zwei Jahren war das geschehen, und ihr Herz war in eine unendliche Zahl nicht mehr zusammensetzbarer Einzelteile zersprungen, als die Yoga-Lady sich lässig von Matthews nackten Hüften erhoben und in das angrenzende Bad verschwunden war. Mit einem kleinen Zwischenstopp, um sich kurz zu bücken und ihren postkartengroßen Tanga vom Boden aufzuheben. Später erklärte Matthew, er habe nackt mit einer anderen Frau im Bett gelegen, weil er gedacht hatte, Grace würde »den ganzen Tag« bei ihrer Mutter verbringen, »wie sonst auch«. Anscheinend war es ihm zu einsam geworden.

Nach Matthews Auszug hatte Grace wochenlang versucht, einfach weiter zu funktionieren. Doch dann war sie in eine Depression gefallen, ausgelöst durch schlaflose Nächte, in denen sie wieder und wieder vor sich sah, wie Matthew von einer nackten Frau mit Knackarsch liebkost wurde – und das in ebenjenem Bett, in dem sie gerade zu schlafen versuchte. Und da sie die Miete alleine nicht stemmen konnte, verlor sie bald auch das Apartment, in dem sie zusammengewohnt hatten. Woraufhin sie in ihr Elternhaus zurückzog.

Ihre Mutter war damals noch nicht ans Bett gefesselt gewesen, aber sie hatte trotzdem bereits Unterstützung bei den tagtäglichen Aufgaben benötigt. Weil Grace sich in einem tiefen Loch der Trauer um die Beziehung und die gemeinsame Zukunft mit Matthew befand und sich gleichzeitig ihre Leidenschaft für die Künste in Luft aufgelöst hatte, gab sie ihren Job als Tänzerin bei einer West-End-Show auf und wurde stattdessen zur Pflegekraft ihrer Mutter. Eine einsame Rolle, die Grace damals gerade recht kam, weil sie sich so noch mehr von sich selbst zurückziehen konnte und von der Außenwelt und all den Gefahren, die dort auf sie lauerten. Wie zum Beispiel lüsterne, muntere Yogalehrerinnen! Ihr Einsiedlerleben fühlte sich auf eine gewisse Weise wie ein Schutzraum an, in dem sie sicher war vor potenziellem Herzschmerz. Denn an jenem schrecklichen Tag war ihre Welt tatsächlich in unzählige Stücke zerbrochen. Sie hatte Matthew ihr Leben anvertraut, und es war, als hätte er ihr die Luft zum Atmen geraubt. Sie hatte wieder und wieder darüber nachgedacht, mindestens eine Million Mal. Hatte unentwegt den Moment abgespult, als Matthew seine vor Ekstase halb geschlossenen Augen geöffnet und sie in dem Türrahmen entdeckt hatte. Da stand sie, zur Salzsäule erstarrt. Sah alles mit Zeitverzögerung, wie von einem Satelliten übertragen. Die zwei wunderschönen Körper, wie sie sich langsam und in perfekter Harmonie bewegten, versunken in ihrem gemeinsamen Sinnestaumel.

Aus den Wochen, die Grace eingeschlossen im Haus verbrachte, wurden Monate. Bis sie, ein Jahr später, weil sie wusste, dass es so nicht weitergehen konnte, allen Mut zusammennahm und ihren Hausarzt um Hilfe bat. Agoraphobie, durch eine Depression ausgelöst, lautete die Diagnose des Arztes. Er überwies sie an einen Therapeuten, der für sie einen Plan mit Aufgaben erstellte, die ihr helfen sollten, ihr Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl wiederaufzubauen. Und das hatte auch funktioniert, bis zu einem gewissen Punkt jedenfalls.

Kurze Zeit später hatte sie angefangen, für Larry Cohen in der Lagerhaltung zu arbeiten, anfangs als Mädchen für alles. Der Therapeut kannte jemanden, der jemanden kannte, der Larrys Frau Betty kannte, und die Cohens suchten jemanden, der sie unterstützen konnte. Betty und Larry wurden ja nicht jünger, und es fiel ihnen zunehmend schwer, die ganze Arbeit zu zweit zu leisten, denn ihre erwachsenen Kinder lebten weit weg.

Und so übte sich Grace, unterstützt durch Larrys freundliche Geduld und die Ermutigungen des Therapeuten, darin, wieder bestimmte Orte aufzusuchen – solange sie die vertraute Strecke dorthin nahm. Wie zum Beispiel der Weg zur Arbeit oder zur Bücherei oder die Straße hinunter zum kleinen Lebensmittelladen an der Ecke. Das war schön einfach. Und sicher. Sie wusste, woran sie war, auch wenn das bedeutete, dass sie die Schritte bis zum Bus zählen musste, um ihre Atmung zu beruhigen.

Auf diese Weise hatte sie »diesen neuen Typen« kennengelernt, Phil. Er hatte eines Morgens gesehen, wie sie vor sich hin murmelte, die Schritte bis zum Bus zählte, und hatte sie angesprochen. Auf ihrem Heimweg von der Arbeit war er erneut an der Bushaltestelle gewesen und hatte angeboten, sie bis zur Haustür zu begleiten. So hatte alles angefangen.

»Du wirst bald fünfunddreißig, also solltest du gut darüber nachdenken, bevor du noch mehr Männer vergraulst. Wenn du dich nicht endlich zusammenreißt und jemanden zum Heiraten findest, wirst du niemals Mutter«, unterbrach Cora die Gedanken ihrer Tochter. »Und ich werde auch nicht ewig da sein, und dann bist du vollkommen auf dich allein gestellt!«

Grace knabberte an ihrer Unterlippe, während sie sich schwor, erneut mit ihren Geschwistern zu reden. Es musste sich etwas ändern. Sie arbeitete auch hart. Und was gäbe sie nicht für einen Tag ohne die schlechte Laune ihrer Mutter und ohne ihre grausamen Kommentare. Ganz zu schweigen von einem entspannten Essen im Restaurant! Außerdem beschwerte Phil sich ständig, dass Grace kaum noch Zeit für ihn habe. Cora vermieste ihm anscheinend das Leben. Und auch wenn Grace mit ihren Schuldgefühlen zu kämpfen hatte, weil sie so etwas Schreckliches über ihre eigene Mutter dachte, so musste sie doch zugeben, dass es ihr inzwischen ganz ähnlich ging.