Als sie am nächsten Tag in das Taxi stieg, das sie nach Portofino bringen sollte, war Grace noch ziemlich wackelig auf den Beinen. Ein Blick auf Ellis, und sie konnte sehen, dass es ihm genauso ging. Seine Ray-Ban saß fest auf seiner Nase, und sein sonst so gebräuntes Gesicht wirkte etwas blass. Seine dunklen Locken waren auch verstrubbelter als üblich.
Sie waren bis zum späten Abend in der Villa geblieben, hatten den grandiosen Sonnenuntergang bestaunt, der die Italienische Riviera in ein Meer von Farben tauchte, und draußen auf der Veranda zu Abend gegessen. Ein köstliches Mahl, von einem Chefkoch gezaubert: Stromboli mit Schinken und Mozzarella, danach Jakobsmuscheln und Linguine mit Pesto, und zum Abschluss marinierte Kirschen mit Mascarpone und Amaretti. Mehrere Flaschen Prosecco aus der Region begleiteten das Essen, und ein Grappa rundete das Ganze ab. Er war so hochprozentig, dass Grace hörbar nach Atem rang und sich an die Kehle fasste, nachdem sie ihn probiert hatte. Ellis war die Erfahrung erspart geblieben, weil sein Handy – bei Tom neu aufgeladen – in dem Moment geklingelt hatte. Es war Jennifer, die mit ihm sprechen wollte. Grace hatte gehört, wie er zu ihr sagte, dass es in Italien spät am Abend sei und dass er am nächsten Morgen mit ihr telefonieren würde. Aber sie musste auf dem Gespräch insistiert haben, denn Ellis entfernte sich, um in Ruhe telefonieren zu können.
Auf der Fahrt zurück zum Hotel war es Grace nicht entgangen, dass Ellis ungewöhnlich einsilbig war. Vielleicht hatte es auch an dem Taxifahrer gelegen, der die ganze Zeit geplappert hatte und dabei wild gestikulierte, während er die Haarnadelkurven nahm, gefährlich nahe am Klippenrand. Sie hatte den Türgriff so fest umklammert, dass ihre Fingerknöchel noch schmerzten, als sie endlich im Bett lag. Und das schien erst wenige Stunden her zu sein. Sie setzte ihre Sonnenbrille auf und nahm noch einen Schluck aus ihrer Wasserflasche.
»Tut mir leid, dass ich so spät dran bin«, sagte sie, als sie auf dem Armaturenbrett sah, dass es bereits zehn nach elf war. Sie hatten ausgemacht, sich um elf Uhr vor dem Hotel zu treffen. »Ich hab länger gebraucht, um in die Gänge zu kommen.«
»Kein Problem«, erwiderte Ellis fast förmlich und schaute weiter aus dem Fenster. Sie schnallte sich an und fragte sich, was mit ihm los war. Nun, sie hatte ihn noch nie verkatert erlebt, und vielleicht wurde er ja dann so: abwesend und still. Einsilbig.
»Alles okay bei dir?«, fragte sie.
»Ja, klar. Und bei dir?«
»So einigermaßen. Ich bin nur nicht lange Nächte und Grappa-Shots gewöhnt. Aber es hat Spaß gemacht. Und wie hast du den Abend empfunden?« Sie versuchte es erneut.
»Ja. Es hat Spaß gemacht.« Er würdigte sie weiterhin keines Blickes.
Grace, die nicht die Absicht hatte, sich ihren Tag zu ruinieren, beschloss, ihn nicht weiter zu bedrängen. Sie lehnte sich in dem abgewetzten Ledersitz zurück und konzentrierte sich auf die Aussicht. Sie saß auf der dem Meer zugewandten Seite und starrte gebannt auf die zerklüftete, steinige Küste. Sie musste an Audrey Hepburn in der Galaxy-Schokoladenwerbung denken, untermalt von ihrem berühmten Song »Moon River« aus Frühstück bei Tiffany. Pastellfarbene Häuser kamen in Sicht, und es gab keine Tankstellenketten, keine Costa-Coffee-Filialen, die in London an jeder Straßenecke zu sehen waren. Grace malte sich aus, wie Connie damals die Strecke nach Portofino gefahren war, nur mit offenem Verdeck, und dann weiter nach San Fruttuoso. Alles hatte sie so wunderschön in ihrem Tagebuch beschrieben.
Als sie in Portofino aus dem Taxi stiegen, war Grace erleichtert, als der Fahrer ihnen sagte, dass sie sich nicht weit entfernt von der zentralen Piazza befanden, nur ein kurzer Weg bis dort, und ihnen auch erklärte, wie sie am besten zu den Geschäften und Cafés in Küstennähe kamen.
»Wollen wir als Erstes zum Hafen gehen?«, fragte sie und erklärte, sie würde gerne die Stelle finden, wo Connie für das Foto posiert habe, das aus ihrem Tagebuch gefallen sei.
Grace hatte einen Scan davon gemacht und suchte jetzt auf ihrem Handy danach. »Hier ist es.« Sie drehte das Display in Ellis’ Richtung.
»Gute Idee. Lass uns die Stelle suchen, und da mache ich dann ein Bild von dir«, sagte er lächelnd.
Grace freute sich, dass seine Stimmung sich wieder zu bessern schien. Vermutlich war ihm einfach nur mulmig und noch etwas unwohl gewesen. Sie konnte nicht von ihm erwarten, dass er jede Sekunde, die sie zusammen verbrachten, in Hochstimmung war. Sie waren schließlich nur … Sie hielt inne und fragte sich, was sie eigentlich genau waren. Sie entschied sich für »Freunde«, wechselte dann aber doch zu »Kollegen«, die nett zueinander waren.
Kurz darauf war sich Grace sicher, dass sie den Platz gefunden hatte, an dem das Schwarz-Weiß-Foto aufgenommen worden war. Zu ihrer Linken konnte sie die Reihen mit hohen, schmalen Häusern sehen, nur dass sie nicht grau, sondern farbig waren: in einem warmen Orange, in Gelb, einem pudrigen Rosa oder in einem schlichten Weiß. Zwischen den Laternen hingen bunte Wimpel, sie gaben dem Ort etwas Fröhliches. Die Cafés und die Geschäfte mit den ausgefahrenen Markisen und Papierlaternen, die in der warmen Brise schwankten, waren auch Jahre später noch die gleichen. Und das romanische Gebäude auf der Hangseite, von dem sie inzwischen wusste, dass es die Chiesa di San Martino war, befand sich im richtigen Winkel, das bestätigte ein Blick auf das Foto. Hier also musste Connie gestanden haben. Es war verrückt, exakt an der Stelle zu sein, an der Connie in ihren Zwanzigern hier gewesen war. Aber es hatte auch etwas Trauriges, weil Grace sich unwillkürlich fragte, wie Connie von einem Ort wie diesem, umgeben von solcher Schönheit, in eine Wohnung in London hatte umziehen können …
»Unglaublich, sich vorzustellen, dass Connie und Giovanni hier gestanden haben«, sagte Ellis und schob seine Sonnenbrille hoch, um das Bild auf Grace’ Handy besser betrachten zu können. »Ich vermute, genau hier«, sagte er und zeigte auf einen Punkt vor ihnen.
»Ja, das glaube ich auch«, erwiderte Grace strahlend. Was für eine Erfahrung! Diesen Moment wollte sie in vollen Zügen genießen, statt sich Gedanken über Connies mögliches Schicksal zu machen.
»Okay. Dann bring dich in Stellung, ich will dich fotografieren.«
Ellis nahm ihr das Handy aus der Hand. Grace hatte gerade ihr Haar und ihr Kleid geordnet, als ein alter Mann mit einer schwarzen Schiebermütze auf dem Kopf neben Ellis stehen blieb und auf Italienisch etwas zu ihm sagte. Dann machte er ihm ein Zeichen, sich neben sie zu stellen, vermutlich, damit er ebenfalls auf dem Bild sein würde. Ellis erwiderte etwas auf Italienisch, aber der Mann bestand darauf.
»Zeig ihr, dass du sie liebst«, sagte er mit starkem Akzent auf Englisch, packte Ellis am Arm und bugsierte ihn neben Grace. »Bellissimo!«, rief er aus, berührte mit den Fingern seine Lippen. Nur dass er noch nicht zufrieden war und Ellis ein Zeichen machte, seinen Arm um Grace zu legen.
»Hast du etwas dagegen? Wir wollen doch den alten Mann glücklich machen, oder?«, flüsterte Ellis und hüllte sie in seinen Zitrusduft ein.
»Natürlich nicht.« Grace lächelte, und als Ellis sanft ihre Schulter umfasste, erlaubte sie sich, für einen Moment zu glauben, dass sie mehr war als eine Kollegin oder Freundin. Ihr Körper bebte vor Glück, genoss seine Nähe. Es war unglaublich, und doch – es ergab keinen Sinn. Sie wusste, dass er mit Jennifer zusammen war, auch wenn ihr Körper das anscheinend nicht kapiert hatte. Und Ellis musste es ebenfalls spüren, dessen war sie sich sicher, denn er zog sie sogar noch etwas enger an sich heran, jetzt, wo sie ihren Arm um seinen festen Rücken geschlungen hatte. Sie spürte seine straffen Bauchmuskeln.