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Kapitel 2

Das Zuschlagen der massiven Eisentür hallte als kurzer, aber harter Klang in den Steinwänden des Labors nach. Ein Ton, der das Gefühl von Sicherheit vermittelte, weil einfach nichts durch den zentimeterdicken Stahl dringen würde. Direkt dahinter stand Painmaker auf einem Gittersteg. Eine Konstruktion, die den Höhenunterschied zur restlichen Ebene ausglich und einen erhabenen Blick über den riesigen Raum erlaubte. Für einen Moment lehnte er sich auf das Geländer und ließ die Spuren des Regens an sich hinabgleiten. Feines Trommeln der zahlreichen Tropfen. Die Belüftung seiner Rüstung schnaubte, im Helm kreisten die Gedanken wie gefangen umher.

Er schritt die Stufen zu seiner Linken hinab und betrat die Halle. Einst ein Labor war es nun seine Zuflucht. Auf dem Weg zum erstbesten Tisch entledigte er sich der schweren Handschuhe und ließ sie lautstark auf den Holzdielen niedergehen. Dann entriegelte er die Sicherung des Helmes und genoss das Zischen des Druckausgleichs. Auch wenn ihm dieses Ding die Luftzufuhr erleichterte, strengte es auf Dauer an.

Das Entkleiden machte aus Painmaker Bradley Nemo Lenville.

»Guten Abend, Master Lenville«, kam es von der linken Empore. Eine drahtige Gestalt, gänzlich aus Metall gefertigt, blickte auf den Heimkehrer hinab. »Ist dies Öl hinter Euch? Besitzt der Anzug eine Leckage?«

Bradley wandte sich um, begutachtete die nasse Spur und schüttelte den Kopf. »Bloß Wasser. Es gießt wie aus Eimern. Erklärt übrigens auch das Rauschen direkt über uns, Cube.«

Sein Finger deutete auf die gewölbte Glaskuppel, die sich als Licht spendender Streifen von der Tür bis hin zu drei aufragenden Bogenfenstern am anderen Ende hin spannte. Würde die Schwärze der Nacht nicht dahinter warten, lägen sonst helle Vierecke über dem Mobiliar.

»Oh, Ihr habt recht, Sir. Meine Arbeit hat mich offenbar zu sehr in Beschlag genommen.«

Cube war das, was man gemeinhin als Roboter bezeichnete. Wenngleich ihm dies nicht gerecht wurde. Er war ein mechanisches Wesen, traf eigenständige Entscheidungen und konnte völlig autonom agieren. Grazil wie eine feine Dame, eloquent wie ein Gentleman. Besonders machte ihn vor allem die Spracheinheit. Seinen Namen verdankte er seinen kubischen Grundzügen und weil Painmaker sich keine Mühe gegeben hatte, ihm einen vernünftigen zu verpassen. Cube störte es wenig, gab es doch weitaus schlimmere Bezeichnungen für jemanden wie ihn: Blechbüchse, laufender Eimer oder gar seelenloses Eisengestell. Er war der Auffassung, dass Menschen bei der Formulierung von Gemeinheiten kreativer als bei manch einer Lösungsfindung waren.

»Diese war nicht zufällig in der Küche angesiedelt?«, nahm Bradley den Faden wieder auf. Demonstrativ klopfte er sich auf den Bauch.

»Nein, Sir, aber eine Verlagerung in diese Räumlichkeit wäre kein Umstand. Wünscht Ihr etwas Bestimmtes?«

Begleitet von Klappern und Stöhnen nahm Bradley den Brustpanzer ab und prüfte ihn auf Beschädigungen. Er war seine Lebensversicherung. In dessen Mitte prangte eine Lampe, deren gläserner Schutz ihm für nur einen Augenblick sein verschwitztes Gesicht zeigte. Die Züge eines beinahe Einundzwanzigjährigen. Blondes Haar klebte an der Stirn und über die rechte Wange zog sich eine lange Narbe. Ihm war dieser Anblick zutiefst zuwider.

»Zwei schlichte Sandwiches reichen«, brummte er hinauf und befreite sich von der restlichen Ausrüstung. Während Cube aus der Sicht verschwand, steuerte Bradley auf eines der Arbeitszimmer auf der linken Seite zu. Nie hatte er in diesen Räumen je einen der Arbeiter gesehen. Ihm war lediglich bekannt, dass dies alles einmal seinen Eltern gehört hatte. Bis vor drei Jahren hatte er nicht einmal gewusst, dass es diesen Ort überhaupt gab.

Das Zimmer maß vier mal acht Meter. Die braunen Kirschholzdielen verliefen unter allerhand Gerümpel und zusammengeschobenen Möbeln entlang. Alles beschienen von einem Bullauge, das den nächtlichen Schimmer der Stadt darauf warf. Mit einem Schalter brachte Bradley zwei winzige Lampen nach einigem Flackern zum Aufleuchten. Ihr orangegelbes Licht legte sich weich über die schwere weinrote Tapete. Er trat an eine riesige Korkwand, an der unzählige Zettel und Bilder hingen. Zwischen einigen der Nadeln hatte er Fäden gespannt. Die Etappen und Verbindungen seiner bisherigen Jagd. Denn das war er. Ein Jäger.

Mit einem Schritt war er beim Zettel, der den Namen Blaylock Jared Darknoll trug. Die Skizze eines Strichmännchens prangte darüber, eine von vier, unter denen weitere Namen vermerkt waren. Langsam strich er den Namen durch. Entgegen seiner Erwartung brachte es keinerlei Befriedigung. Nicht einmal für einen Augenblick kroch etwas Erleichterung in sein Herz. Vielleicht brauchte es mehr Zeit.

Jebediah Reynard Pocket stand auf einem weiteren Zettel und dort ergänzte er die genannte Arbeitsstätte: Luftschiffhafen. Es war nicht viel, doch die erste heiße Spur seit geraumer Zeit, gerade ihn zu finden.

Beim Anblick der weiteren Papierschnipsel ballte Bradley die Fäuste. Bei jedem einzelnen von ihnen geriet sein Blut in Wallungen. Die Wut war einfach da, so wie man Hunger bekam beim Anblick eines gedeckten Tisches. Und sie würde erst verschwinden, wenn er satt war. Hoffte er zumindest.

Das Geräusch metallener Schritte kam um die Ecke.

»Eure Sandwiches, Master Bradley. Ich habe mir erlaubt, Salat, Cocktailsauce und etwas Hähnchen zwischen den Toastscheiben zu platzieren.«

Bradley wandte sich Cube zu und zog eine Augenbraue hoch. »War das gerade so etwas wie Humor?«

Der Roboter hielt inne. »Eigentlich war es eine Feststellung, aber jetzt, wo Ihr es sagt, kann diese in der Tat als humorvolle Äußerung verstanden werden.«

Die Punkte in der beinahe durchgehenden Front seines Gesichts, die einen Mund andeuteten, erlaubten kein Lächeln. Sein Geräuschmodulator erzeugte dennoch so etwas wie einen zufriedenen Laut.

» Danke schön.«

Bradley nahm seinem Gehilfen den Teller ab und biss genüsslich in den Toast. Auch wenn Cube weder riechen noch schmecken konnte, war, was immer er zubereitete, ein Gaumenschmaus.

»Wart Ihr erfolgreich, Sir?« Er stand weiterhin im Türrahmen, hatte die Metallhände in einer erstaunlich menschlichen Geste auf Hüfthöhe verschränkt und sah auf die Ergänzungen der Tafel. »Dem durchgestrichenen Namen nach scheint Euer Vorhaben einen positiven Ausklang gehabt zu haben.«

»Man kann sagen« – Bradley schluckte den Bissen hinunter – »er brannte förmlich darauf, sich mir mitzuteilen. Wir hatten zu Beginn unsere Schwierigkeiten, sind dann aber ganz gut warm miteinander geworden.«

Als Bradley sich nicht weiter regte, hakte Cube nach. »Es tut gewiss gut, wenn man mit einem Teil der Vergangenheit abschließen kann. Wenngleich Ihr derzeit nicht diesen Eindruck vermittelt. Besaßen wenigstens die Informationen die notwendige Ergebnistiefe?«

Von dem jungen Mann erntete er nur einen kurzen Seitenblick. »Das ist es nicht. Ich habe viel Zeit investiert, um ihn ausfindig zu machen. Sogar eine Finte hatte ich mir überlegt, damit er bis in die Nacht dort bleibt und uns niemand stört.«

Cube hörte aufmerksam zu, Bradley stellte derweil den Teller ab, auf dem noch das zweite Sandwich lag.

»Bei diesem Widerling war einfach nichts. Kein Glanz in den Augen, kein Betteln, vor allem aber keine Reue. Es war, als hätte er mit allem schon viel früher abgeschlossen. Als gäbe es nicht einmal etwas, für das er morgens aufstand.«

»Wäre dies denn von Bedeutung gewesen?«

»Wenn man sich der Frage widmet, was solche Menschen zu ihren Handlungen bewegt, schon. Es wirkte, als gäbe es in ihm keine fühlende Seele. Als wäre alles Menschliche aus ihm gewichen. Oder aber es war nie dort.«

Cube legte den rechten Zeigefinger ans Metallkinn. »Das erscheint mir wenig einleuchtend. Ohne eine Seele …«

»Im übertragenen Sinne«, fiel Bradley ihm barsch ins Wort. »Natürlich kann er ohne Seele nicht leben.«

»Gewiss, Sir. Ich wollte darauf hinaus, dass auch unmenschliches Handeln von einer Seele ausgeht. Könnte es nicht eher eine Frage ihres Zustandes sein, der derlei Taten bedingt? Etwas so Zartes kann leicht brechen.«

Bradley sah Cube überrascht an. Solch philosophischen Tiefgang hatte er von dem Roboter gar nicht erwartet. Schon gar nicht bei einer Frage zur Menschlichkeit. Doch er hatte einen Punkt, den er selbst nur zu gut nachvollziehen konnte. Hass war das Erste, das ihm in den Sinn kam. Aber Hass war nicht einfach da, nicht von jetzt auf gleich. Er entwickelte sich, war mehr das Ergebnis als eine Quelle für Taten. Das wusste er selbst nur zu gut.

»Konntest du mehr zu den anderen herausfinden?«

Cube senkte den Blick. »Nein, Sir. Es verkompliziert die Nachforschungen ungemein, sie aus diesen Räumlichkeiten durchzuführen.« Eine sachliche Formulierung der Umstände. »Menschen neigen anscheinend dazu, Anfragen über Rohrpost mit deutlich weniger Enthusiasmus zu bearbeiten.«

»Es könnte an dem Umstand liegen, dass Anfragen generell mit sehr wenig Enthusiasmus bearbeitet werden. Persönliches Erscheinen erhöht den Faktor des Unangenehmen, weshalb man bestimmte Individuen gern schneller loswerden möchte.«

Cube verstand, worauf er hinauswollte. »Ihr wisst, Sir, dass ich nicht dafür gemacht bin, in den Straßen von Metalhain zu wandeln.«

Natürlich wusste er das. Es machte die Dinge nur nicht einfacher.

»Wie dem auch sei.« Bradley sah zurück auf die Korkwand. »Bleib dran, sie werden uns nicht ewig ignorieren können.«

Mit zwei klackenden Schritten trat der Roboter an die Wand und tippte mit dem bronzenen Finger auf die Karte von Jebediah Reynard Pocket. »Wie mir scheint, habt Ihr zumindest in einem Fall eine heiße Spur.«

Statt freudiger Zustimmung verschränkte Bradley die Arme und hielt den Blick auf den Zettel gerichtet. »Nur bedingt. Das Gelände ist riesig, gut bewacht und bis auf wenige Stunden immer gut besucht. Ich befürchte, wir benötigen mehr Glück als verlässliche Informationen.«

»Wenn Ihr erlaubt, würde ich mir dazu Gedanken machen. Wir könnten zum Frühstück dann einige Optionen durchgehen.«

Bradley nickte nur und biss in das verbliebene Sandwich.

»Ich mache Euch das Bett fertig. Es ist genug warmes Wasser zum Duschen da. Habt eine geruhsame Nacht, Master Lenville.«

Cube wandte sich ab, seine hellen Schritte verebbten auf dem Weg in die obere Ebene.

Beim nächsten Bissen hielt Bradley inne. Seine Hand zitterte. Es konnte gut und gern die Erschöpfung sein, die klamme Kleidung oder die Anspannung über einen ersten kleinen Erfolg. Er wunderte sich jedoch, dass dieser ihm keinerlei Genugtuung verschaffte. Sollte er sich dadurch nicht besser fühlen? Das war doch genau, was er beabsichtigte. Vielleicht war es noch zu früh und sein Kopf konnte oder wollte es noch nicht realisieren?

Bradley leckte die Finger ab und ging zur Tür. Dieser Gedankensturm würde heute Nacht nicht abebben. Zurück im Labor hielt er inne und ließ den Raum auf sich wirken. Bereits in der Vergangenheit hatte dieser eine beruhigende Ausstrahlung gehabt. Einige flackernde Birnen verteilten warmes Licht auf Wände, Tische, mechanisches Kleinzeug. Selbst die riesige runde Arbeitsbühne auf der anderen Seite mit ihren Schläuchen, Rohren und unzähligen elektrischen Apparaturen war nur ein dunkler schlafender Riese. Es war unnatürlich still. Dieser Ort lag oberhalb der Dächer der Stadt, nichts drang so weit hinauf. Und zu so später Stunde dröhnte auch kein Luftschiff mehr durch den dunstigen Himmel.

In den schwersten Stunden sah er die Schemen seiner Eltern durch diese Räume wandeln wie ein Schatten der Vergangenheit. Manchmal glaubte Bradley sogar, Stimmen zu vernehmen, Henriettas helles Lachen oder Lysanders kernige Stimme. Doch es waren bloß Erinnerungsfetzen, die ihm einen Streich spielten. Nie hatte er sie hier gesehen, nie war er je gemeinsam mit ihnen hier gewesen.

Bevor ihn die Melancholie gänzlich erfasste, straffte er die Schultern und ging hinauf in die obere Ebene, wo sein Zimmer lag.