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Kapitel 17

Painmakers freudige Erregung über den Knall sowie den Feuerball brachte seine Beine zum Zittern. Noch immer trug er die volle Montur, sodass sein freudiges Grinsen hinter dem metallenen Antlitz verborgen blieb. Ihm war nach Tanzen zumute. Da er sich noch nie derart der Freude hingegeben hatte, traute er sich schlicht nicht. Dabei gab es gleich zwei gute Gründe dafür: Zebulon Parker würde ab sofort aufhorchen. Es war gut, dass die Arbeiter ihn zuvor noch gesehen hatten, so konnte das Ganze nicht als Unfall oder Schlamperei eingestuft werden. Er wollte ihre Aufmerksamkeit. Er wollte, dass man von ihm wusste. Dass sie grübelten, wer dies tat und warum. Das Suhlen in deren Unwissenheit war es, das ihn so euphorisch werden ließ.

Anders als die Erinnerung an Jebediah Pocket.

Bei seinem letzten Blick hatte er dagelegen wie ein verendeter roter Krake, dessen Gliedmaßen wirr abstanden. Da sollte Genugtuung in ihm schwelen, ein Funken Erleichterung über den zweiten Sieg umher wabern. Doch da war nichts. Diese bittersüße Rache hatte gar keinen Geschmack. Eher wirkte sie fade. Warum war das so? War es diesem Bastard all die Jahre genauso gegangen? Falls ja, weshalb hatte er überhaupt weitergemacht? Vielleicht hatte er selbst nur noch nicht Jebs Level mentaler Instabilität erreicht. Wenn Painmaker ehrlich zu sich war, bereitete ihm dies sogar Sorge.

Natürlich predigte jeder, man solle nicht Gleiches mit Gleichem vergelten. Leeres Geschwätz, das nicht im Ansatz den Schmerz und die Pein vergessen lassen konnte. Gleichwohl merkte er nun, dass ein kräftiger Schlag in dessen Gesicht es ebenfalls nicht vermochte. Er bereute dennoch nichts. Jeb musste seine Lektion lernen. Jemand mit einer derart schwarzen Seele würde seinen gesamten Lebensweg mit Leid und Tränen pflastern.

Painmaker erreichte die Kante eines Simses, hinter dem sich die verschachtelten Dächer kleinerer Lagerhäuser erstreckten. Er war im Industrieviertel von Metalhain angelangt. Anstatt den Heimweg anzutreten, ließ er sich darauf nieder und ließ die Beine baumeln. Der Weg, der nun unter ihm verlief, war einer der ersten gewesen, die er in seiner neu gewonnenen Freiheit gegangen war.

Drei Jahre zuvor, im April


Bradley blickte auf das Stück Papier hinab. Er hielt all das noch immer für einen schlechten Scherz. Alles, was seine Eltern ihm hinterlassen hatten, war ein Zettel mit einer Adresse und einem Spruch? Was zum Henker sollte das? Er wollte sich nicht eingestehen, dass er wütend war, und doch trat er die Dose vor seinen Füßen fort. Ihr Scheppern hallte von den Wänden der angrenzenden Gasse wider und belebte für den Augenblick das ausgestorbene Viertel.

Sein spärliches Wissen über die Straßen dieser Stadt hatte ihn ins Industrieviertel geführt. Umgeben von nackten Backsteinwänden, dunklen Fensterreihen und Schornsteinen unterschiedlicher Höhen und Materialien war vermutlich nur die Hölle noch trostloser. Bradley verlor mit jedem weiteren Schritt den Antrieb, noch länger durch diese Straßen zu gehen. Stünde wenigstens ein Anhaltspunkt dabei.

»So ein Scheißdreck!«, machte er seinem Ärger Luft, knüllte sein überschaubares Erbe zusammen und schob es in die Hosentasche.

Es war ihm gerade einfach egal. Neun Jahre Pein und jetzt suchte er ein beschissenes Gebäude im Nirgendwo. Das Schicksal wischte sich an ihm ganz sicher die Füße sauber. Bradley legte den Kopf in den Nacken und atmete aus. Nur für einen Augenblick blinzelten Sterne durch die dicke Wolkendecke.

Er lachte auf. »Was soll das werden, lieber Herrgott? Willst du mir die Schönheit des Lebens zeigen?«, rief er hinauf, dabei war ein Lottogewinn wahrscheinlicher als eine sternenklare Nacht. »Das hättest du ganz sicher auch anders machen können.« Dann schlug seine Stimmung um. »Du bist ein mieser Kackverräter! Meine Eltern waren anständige Menschen, was haben sie dir getan, um mit einem frühen Tod gestraft zu werden?«

Aber war dem so? Waren sie anständige Menschen gewesen?

Bradleys Kopf sank nieder und er starrte auf das finstere Steinpflaster. Der Begriff Eltern definierte in keiner Weise, was er über sie wusste. Sie waren verheiratet gewesen, beide Ingenieure, hatten viel gearbeitet. Ihn mit Liebe überschüttet, auch wenn sie selten daheim gewesen waren und ein Kindermädchen sich um ihn gekümmert hatte. Und sonst? Was genau hatten sie getan? Wo gearbeitet? Für wen? Zu wissen, dass er eigentlich nichts wusste, wog fast schwerer als ihr eigentlicher Verlust.

Bradley richtete den Blick zurück auf die leere Straße. Dann würde er halt so lange umherlaufen, bis die angegebene Adresse auftauchte. Auch wenn die Müdigkeit allmählich seine Gliedmaße ergriff, genoss er die Bewegung, die Freiheit tun und lassen zu können, was er wollte. Selbst wenn es nur unsinniges Umherwandern war. Den rotbraunen Gebäuden in seiner Nähe war es ohnehin egal. Hier und da durchbrachen Türme die Geradlinigkeit, wuchsen Glaskuppeln aus den Dächern heraus oder schlangen sich Arme aus dunklen Eisenrohren um Ecken und Winkel. Bradley blieb stehen, um sich einige der Bauten genauer anzusehen. Deren verspieltes Äußeres ließ einige davon lebendig erscheinen. Das Industrieviertel war gar nicht so langweilig wie erwartet. Man benötigte das richtige Auge für dessen Schönheit.

Während er dahin schlenderte, vergaß er ganz, wie sein Ziel lautete. Also zog er den zerknüllten Zettel hervor.

»Verfluchter Mist«, motzte er das Papier an.

Ausgefaltet war die Adresse noch lesbar, beim Code auf der Rückseite sah dies jedoch anders aus. Eine der vier Zahlen war so unglücklich durchtrennt, dass ihm mehre Optionen zur Auswahl standen.

»Ganz große Klasse, Bradley Lenville. Wirklich ganz große Klasse.«

Um sich von seinem Frust über sich selbst abzulenken, überprüfte er die Straßenschilder.

Nein.

Nein.

Moment mal!

Tatsächlich ging zu seiner Rechten genau die Straße ab, die sein Zettel ihm als Ziel auswies.

»Du hast echt mehr Glück als Verstand, du Torfkopf.«

Nun lächelte er doch wieder.

Die Straße unterschied sich nicht nennenswert von den anderen, lediglich die Materialien der Gebäude waren in anderen geometrischen Formen zusammengesetzt und mit Rohren fest verzurrt. Immer wieder pendelte sein Blick zwischen den Seiten hin und her, um Hausnummern auszumachen. Selbst an Eingängen bevorzugte man offensichtlich die Anonymität.

Frustriert ließ er die Schultern hängen.

»Wie soll man sich denn hier zurechtfinden?«

Er suchte die Nummer 43. Eine Zahl, die weiter vorn, weiter hinten oder irgendwo dazwischen sein konnte, solange er nicht wusste, bis wohin der Nummernkreis ging. Es war zum Verrücktwerden.

»Dann eben anders.« Er drehte sich um die eigene Achse. »Meine Eltern waren praktisch orientiert und wussten Ruhe sehr zu schätzen. Ein Gebäude mit Zugang direkt zur Straße, wo jeder reinstolpern kann, kommt also eher nicht in Frage.«

In der Ferne ragten die Hallen höher auf, besaßen sogar unförmige Aufbauten. Noch nicht ganz, wonach Bradley suchte, aber die Richtung war besser. Nach zehn weiteren Minuten war er in dem besagten Abschnitt angelangt und sah sich erneut um.

Die Nummer 23 stand an einer Eingangstür, die weder zu einem Wohnhaus noch zu einem Fabrikgelände passen wollte.

»Wer sagt es denn, dann wohl noch ein Stück geradeaus.«

Er folgte den Gebäuden, die immer eckiger wurden und weiter hinauf reichten. Niemals hätte er dieses Viertel dem Industriebereich zugeordnet. Es war irgendwie zu schön, beinahe ansehnlich.

40.

»Hier muss es irgendwo sein.«

Statt aufschlussreicher Kennzeichnungen gab es lediglich blanken Stein und kalten Stahl. Keine der Türen verriet etwas. Nein, nicht ganz. Um eine Ecke herum, nicht unmittelbar von der Straße einsehbar, gab es einen weiteren Zugang, neben dem ein kleiner Kasten angebracht war. Bradley sah hinauf. Ein breites, vierstöckiges Gebäude lag vor ihm, zu dem die Türgröße nicht recht passen wollte. Vielleicht war es ein Nebeneingang?

Nach einem Blick zurück auf die verwaiste Straße ging er darauf zu. Der Kasten war mit einer Metallschnalle verriegelt, um der Witterung nicht ausgesetzt zu sein. Sie zu öffnen, war jedoch kein Hindernis. Bradleys Freude über das Tastenfeld blieb indes verhalten.

»Und nun?«

Der Zettel? , kam es ihm in den Kopf. Sein Blick blieb an dem Spruch hängen.

»Was immer du mir damit sagen willst, Mom, ich habe keinen blassen Schimmer.«

Da half nur ein Blick auf die Tasten. Chrom. Darauf erkannte er keinerlei Abnutzungsspuren und da alle Zahlen schwarz eingeprägt waren, konnte er noch nicht einmal vom Dreck darauf etwas ableiten.

»Ihr seid auf Nummer sicher gegangen.«

Tatsächlich erinnerte ihn der Anfang an einen Nachtgruß, den seine Mutter ihm jeden Abend für seine Träume mit auf den Weg gegeben hatte: Zu dritt begeben wir uns in die Nacht, uns gemeinsam am Morgen dann die Sonn’ anlacht. Eigentlich hatte er nie verstanden, was sie damit sagen wollte, doch ihre Freude dabei hatte sich zwangsläufig auf ihn übertragen.

»Ist das möglich?«

Bradley starrte auf den Zettel und sprach zu sich selbst.

»Zu dritt – Drei – begeben wir uns in die Nacht – ohne N ist es die Acht –, uns gemeinsam – noch mal Drei – am Morgen die Sonn’ anlacht. Die Sonne könnte für die Null stehen.«

Er wollte es versuchen. Eine bessere Idee hatte er ohnehin nicht. Rasch tippte er die Folge ein und entlockte den Tasten leises Klacken.

Es surrte.

Hastig zog Bradley am Knauf. Die Tür war offen.

Er lachte. »Mom, du bist unglaublich!« Gleich darauf überkam ihn wieder die Traurigkeit. »Du hast gewusst, dass ich irgendwann hier auftauchen würde. Oder dieser Moment hat dir einfach viel bedeutet.«

Den Kopf gesenkt, schob Bradley sich in die Dunkelheit. Bevor die Metalltür ins Schloss fiel, erhaschte er den Blick auf einen Schalter an der Wand. Er tastete danach und kurz darauf sendeten drei schwache Lampen ihr karges Licht über ihm in ein stählernes Treppenhaus. Die Leuchten waren je auf einer der Etagen angebracht. Bradley sah fasziniert hinauf. Von hier unten machte es den Eindruck, in ein schwarzes Spinnennetz zu schauen, das sich wild und unstrukturiert zwischen den Außenwänden spannte. Einige Rohre verliefen in der Mitte des Gerüstes zwischen dem Boden und dem unbekannten Obergeschoss. Der Anblick gefiel ihm sehr. Verborgen vor fremden Augen, lag so viel Liebe fürs Detail in der Gestaltung des Treppenhauses, dass er gar nicht anders konnte, als hinaufzugehen.

Seine Schritte echoten durchs Metall, huschten durch den Raum wie neugierige Geister. Wie erwartet, war dieser Zugang für eine einzige Etage bestimmt, die ganz oben lag. Mit der zunehmenden Anzahl Stufen wurde er schneller, bis die malträtierte Lunge ihm Einhalt gebot und er schnaufend auf dem letzten Absatz ankam. Da war es wenig von Vorteil, dass der dort wartende Zugang ihm zusätzlich die Luft raubte.

Bradley starrte auf ein metallenes Ungetüm, so groß und robust wie eine Tresortür. Sie machte Eindruck, vor allem aber neugierig. In der Mitte befand sich lediglich ein großer Ring, an dem er beherzt drehte. Die Mechanik war genauso schwer, wie sie aussah. Er musste sein gesamtes Gewicht dranhängen, damit sie sich bewegte. Kaum war der Spalt groß genug, ließ er los und stützte sich auf den Oberschenkeln ab.

»Jetzt weiß ich … wo Mom ihren festen Händedruck … her hat«, hechelte er. »Dann wollen wir mal.«

Von der gegenüberliegenden Seite begrüßten ihn drei große Fenster, die Metalhains nächtlichen Schimmer müde und träge hereinwarfen. Sie zeigten ein mystisches Reich skurriler Formen und trügerischer Schatten. Intuitiv tastete Bradley an der rechten Wand entlang und fand den nächsten Schalter. Flackernd und sirrend huschte die Elektrizität durch die Leitungen, erweckte eine Armada von Lampen zum Leben.

»Heiliger Bimbam!«, raunte er beim Anblick des großen Raumes. »Was ist das?«

Er brauchte einen Moment und klammerte sich an die Brüstung der Empore, um die Vielfalt an Eindrücken zu verarbeiten. Die abgetrennten Räume zur Linken wirkten wenig aufregend. Ganz im Gegensatz dazu schrie die rechte Seite geradezu: Labor! Diverse Apparaturen standen herum, Kabel flossen unterhalb einer Zwischendecke entlang, sogar der Boden war mit dunklen Steinfliesen verkleidet, als benötigte dieser Abschnitt noch mehr wissenschaftliches Flair.

Stufe um Stufe schlenderte Bradley hinab und steuerte auf den dunkel daliegenden Abschnitt zu. Unmittelbar neben einem großen Tisch stand eine Figur. Ihr goldener Schimmer wirkte dort völlig deplatziert. Wie ein Kunstobjekt, das man in einer Kohlegrube präsentierte. Er konnte nicht anders und ging hinüber. Bei näherer Betrachtung entpuppte sich die Figur als eine Art Roboter. Ein filigranes Ding, das in Form und Proportionen einem Menschen recht ähnlich sah. Einzig der Kopf wirkte mit der offenen Rückseite und dem durchgehenden Metallgesicht wie eine Maschine.

»Wow.«

Bradley hob die Hand, um dem Drang, es zu berühren, nachzugehen.

Der Roboter zuckte.

Bradley erstarrte. Als der Kopf sich sachte hob, stolperte er rückwärts in den Raum. Wie in der Geschichte von Pinocchio, als die Holzpuppe zum Leben erwacht. Die runden Glaslinsen taxierten ihn, dann hob das Ding die Hand zum Gruß.

»Ihr müsst Master Lenville sein.«