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Kapitel 27

Müde linsten die dunklen Augen des Patentamtes in die Nacht. Der quaderförmige Bau war einer der wenigen freistehenden im Stadtzentrum von Metalhain. Dies war gut und schlecht zugleich. Zwar waren die angrenzenden Wege und Straßen einsehbar, dafür gab es jedoch keinen Zugang über die nahe gelegenen Dächer. Bei der Sondierung war Painmaker bereits aufgefallen, dass etliche Wachen im Gebäude patrouillierten. Das Licht ihrer Taschenlampen huschte wie Augen durch die unzähligen Räume. Ein Zeichen, dass er auf dem richtigen Weg war, denn weshalb sonst sollte es Wachen in einem Amt geben?

Sein Wunsch, einfach mit einem riesigen Knall für Chaos zu sorgen und seinem Frust freien Lauf zu lassen, wurde damit zunichtegemacht. Zu allem Überfluss waren sämtliche Zugänge im Erdgeschoss gut gesichert. Das Dach erwies sich damit als einziger Zugang. Painmakers erster Gedanke war, den Rotorrucksack zu nutzen, doch dessen Wummern würde unweigerlich Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Also blieb ihm lediglich die richtige Uhrzeit ohne Passanten und ein solides Fallrohr an der Fassade.

Völlig entkräftet und durchgeschwitzt zog er sich über die Dachkante und verweilte, trotz der mechanisch verstärkten Muskelkraft, erschöpft auf dem Rücken liegend. Cube hatte zwar die Ersatz-Atemeinheit montiert, doch die war nicht so leistungsstark. Im Anzug stauten sich die Hitze und die verbrauchte Luft. Allein diese Strapazen schürten seinen Zorn nur weiter. Zum ersten Mal glaubte er, zu verstehen, weshalb jemand Spaß daran haben konnte, einem anderen einfach so wehzutun. Es wäre eine befremdliche Form der Befriedigung, der Erleichterung und des Abbaus innerer Spannungen.

Das Dach war weitläufig und mittig von einer gläsernen Kuppel durchbrochen. Durch unzählige Glasscheiben brachte sie Licht in die obere Etage und erlaubte ihm Einblick in sonst verborgene Areale. Durch die Besuche mit seinen Eltern kannte Painmaker das Gebäude gut. In all den Jahren würde man es kaum verändert haben. Einzig die Sicherungen bereiteten ihm Sorge. Er umrundete die Kuppel. Jede einzelne Scheibe war durch einen filigranen Draht gesichert. Brach eine Scheibe, ging mit großer Wahrscheinlichkeit der Alarm los. Der offensichtlichste Eingang war keiner mehr.

Beim Aufstieg waren ihm schmale Fenster in der oberen Etage aufgefallen, gerade breit genug, um mitsamt der Montur hindurchzugelangen. Das würde allerdings ein Kraftakt werden. Er hatte bewusst auf die Kletterausrüstung verzichtet, um agiler und schneller zu sein. Das rächte sich nun.

Zurück an der Kante konnte Painmaker Elemente des stählernen Außenskeletts nutzen, das als Gestaltungselement in die Fassade eingearbeitet worden war. Zu seinem Glück bot der Sims vor der Fensterreihe genug Platz. Auf der anderen Seite der Scheibe lag ein Büro, dessen Tür geschlossen war. Immerhin, das würde das Geräusch des brechenden Glases im Gebäudeinneren dämpfen.

Er legte die Handfläche auf und intensivierte den Druck, bis ein Riss entstand. Dann wiederholte er die Prozedur, bis Elemente herausbrachen und er sie einzeln herausnehmen konnte. Schließlich schlüpfte er ins Innere.

Mit wenigen Schritten war Painmaker an der fensterlosen Tür, lauschte, öffnete sie einen Spaltbreit und spähte auf den Gang hinaus. Er ärgerte sich über seine eigene Dummheit. Von den Sicherungen auf dem Dach abgelenkt und von der aufkommenden Müdigkeit benebelt, wäre es einfacher gewesen, die andere Seite des Gebäudes zu nehmen, die ihn direkt ins gewünschte Archiv brachte. Nun musste er hinüberschleichen und dabei unentdeckt bleiben.

Direkt zu seiner Linken lag der Treppenaufgang. Von ihm zweigten drei Abschnitte ab, rechts die Büros, geradeaus das Archiv für Fahrzeuge und links ein abgesicherter Bereich für Prototypen, der bewusst nicht beschildert war. Auch wenn die Logik es gebot, bei den Fahrzeugen zu schauen, konnte Painmaker sich kaum vorstellen, dass man etwas derart Brisantes in solch einem weniger geschützten Bereich aufbewahrte.

Ihm schwirrte eine Erinnerung im Kopf umher, dass zu dem Bereich mit den Prototypen lediglich drei Personen Zutritt hatten. Die beiläufige Bemerkung des Direktors hatte seinerzeit mehr verraten, als ihm lieb war. Wer dort hinein wollte, wurde grundsätzlich von zwei Wachen begleitet. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass dieser Bereich für Zebulon Parker weniger geheim war und sie sich gewiss an den Ideen anderer für diese SkyCity, wie er und Cube dieses Ding mittlerweile nannten, bedient haben mochten. Nun galt es nur noch, dort hineinzugelangen.

Eine knapp sechs Meter hohe Backsteinwand reichte bis zur Decke hinauf. Für die riesige Licht spendende Glaskuppel fand diese aber keinen Abschluss, sondern endete einfach im luftleeren Raum. Sollte es wirklich so simpel sein? Diese Höhe konnten die Federn in seinen Stiefeln meistern. Painmaker trat vom Bürotrakt auf die Freifläche des Treppenhauses und erschrak, wie laut die metallenen Stiefel auf dem Marmorboden widerhallten.

Schritt für Schritt tastete er sich an die Balustrade des Aufgangs heran und horchte in die unteren Etagen. Zwei Lichtsäulen huschten durch das Treppenhaus und zogen sich mit den dumpfen Lauten eines Gespräches wieder zurück in die Tiefen des Gemäuers.

Er gelangte zu langsam zur Wand, seine Stiefel klackten über den hellhörigen Boden. Endlich am Ziel sah er hinauf und schätzte den notwendigen Schwung ab. Er würde jedes bisschen Spannung in den Federn brauchen. Ein letztes Mal prüfte er die Handschuhe, dann drehte er das Handgelenk.

Die Kante der Backsteinwand schoss ihm entgegen, nur um plötzlich an Geschwindigkeit zu verlieren. Die Schwerkraft zog an ihm, noch bevor er die Kante erreichte. Gerade rechtzeitig streckte er die Hände aus und konnte sich festhalten. Über einen möglichen Sturz hatte er sich bewusst keine Gedanken gemacht. Es gab ohnehin nur eine Richtung: nach vorn. Das Metall der Handschuhe machte es jedoch schwer, am Stein Halt zu finden. Winzige Stückchen brachen heraus und schlitterten in der Tiefe über den Marmor.

Lichtschein sauste die Stufen hinauf.

Ein Gespräch überlagerte das Schaben von Metall, als Painmaker sich hinaufzog und sich auf der anderen Seite der Mauer an die Kante hängte.

X

»Ich habe doch gesagt, hier ist nichts«, meinte der kleinere der Wachmänner.

Der Schein ihrer Lampen wanderte über die Fenster der Kuppel, während der Wind sachte über die Konstruktion strich.

»Das Ding hier ist wie Fort Knox, Roger. Selbst auf den Toiletten gibt es Sicherungen.«

»Ja, Brian, weil die andauernd die Handtücher klauen.«

Gut zu wissen.

Painmaker hoffte, dass die beiden ihre Plauderstunde alsbald wieder nach unten verlegten. Ihm fiel die Konzentration in diesem Backofen zusehends schwerer. Zudem wurden die Finger feucht.

»Du musst echt lockerer werden, Roger. Mit deiner Anspannung machst du alle nervös.«

»Weshalb seid ihr nicht gründlicher?«, monierte der Neuling stattdessen. »Ich habe wegen so etwas schon einmal meinen Job verloren, das passiert mir kein zweites Mal.«

»Ist ja gut. Komm schon, wenn wir für unsere Runde zu lange brauchen, reißen die anderen nachher wieder blöde Witze.«

Dunkelheit legte sich unter die Kuppel. Painmaker blickte über die Schulter und konnte den Raum erstmals in Augenschein nehmen. Etliche Reihen von Regalen standen dicht an dicht und reichten bis zu ihm hinauf. Es brauchte nur ein wenig Schwung und er gelangte an das rettende Gestell. Langsam kletterte er hinab und versuchte, mehr über die Struktur des Raumes herauszufinden. Im Kleid der Nacht keine leichte Aufgabe. Was an Licht über die Kuppel seinen Weg hineinfand, wurde von den Tiefen der Regale verschluckt. Zumindest ähnelte dieser Raum keiner Bibliothek, denn die Pläne lagen in flach ausziehbaren Schubladen. So würde wenigstens etwas Licht auf sie scheinen, wenn er sie öffnete.

An den zahlreichen Gängen war keine Kennzeichnung angebracht. Nur die winzigen Buchstaben an den Schubern ließen erahnen, dass es eine Logik geben musste. Das brachte ihn nicht weiter. Painmaker überlegte, wie er flinker an die Sache herangehen konnte. Der Plan für solch eine fliegende Stadt musste riesig sein, also brauchte es einen großen Auszug. Eine Sortierung nach Firmen oder gar Anwendungen ergab Sinn, allerdings würde Zebulon Parker ganz sicher nicht so vorhersehbar sein. Ihm gefiel die Auswahl an Optionen gar nicht.

Er begab sich ans Ende des willkürlich gewählten Ganges und lehnte sich an die Außenwand zwischen zwei Fenstern. In dem zusätzlichen Licht bemerkte er, dass nicht alle Regale hoch aufragten. Am linken Ende des Raumes gab es einen flacheren Abschnitt, wo diese ihm nur bis zur Brust reichten. Das musste einen Grund haben. Er ging hinüber und sah sich um.

Groß und breit stand ein halbes Dutzend Schränke dort, deren Auszüge so lang wie Menschen waren. Das sah nach der richtigen Spur aus.

»Mal sehen«, flüsterte er und ging die Reihe ab.

Die vielen kleinen Buchstaben folgten dem Alphabet. Stellte sich nur noch die Frage, wie sie im Bezug zum Inhalt standen. Unternehmen? Erfindungen? Fahrzeuge? Vielleicht sogar nach Erfinder? Zu viele Möglichkeiten und zu wenig Zeit, es herauszufinden. Kurzerhand trieb es ihn zum Z. Es war einen Versuch wert. Hier gab es drei Auszüge. Zwei beinhalteten jedoch nur Pläne für abstrus anmutende Zeppeline, ein weiterer ein unverhältnismäßig großes Stück Papier zu einem mechanischen Zylinder. Offensichtlich standen die Buchstaben für Erfindungen.

Aber wie nannte sich dieses Ding über den Wolken? Wenn die Erfinder genauso kreativ waren wie er und Cube, dann konnten die Pläne hier überall sein.

»Scheiße.«

SkyCity , das war das Erste, was ihm zu diesem fliegenden Ungetüm eingefallen war. Also S. Zwei Blöcke weiter gab es gleich ein Dutzend Ebenen, die mit dem Buchstaben gekennzeichnet waren. Ins Auge fielen jedoch drei, an denen ein Schloss hing. Etwas, das in einer gesicherten Abteilung noch ein weiteres Mal gesichert war, weckte definitiv die Neugierde.

Painmaker besaß jedoch kein Werkzeug und unnötiger Lärm würde den Weg über die offene Konstruktion des Raumes finden. Er legte die rechte Hand um das Schloss und drehte es im Uhrzeigersinn. Die Öse, an der es befestigt war, mochte zwar aus Stahl sein, bei zu viel Bewegung brach diese aber wie Holz. Unter der einwirkenden Kraft ächzte das Metall. Immer wieder ließ er los, um nachzufassen, aber auch um den Lärm in Grenzen zu halten. Als sich die Öse den 180 Grad näherte, knackte es. Anstatt zu brechen, gab jedoch das Holz nach. Eine weitere Drehung und Painmaker hielt das Schloss in der Hand. Nur das Ergebnis zählte.

»Du bist ein verdammtes Genie!«, lobte er sich flüsternd selbst.

Er legte das Stück Metall samt Holzresten oben auf den Korpus und zog das erste Fach heraus. Ein langer, ausufernder Plan kam schwach zum Vorschein. Die Linien der Zeichnung waren so fein, dass lediglich eine Erscheinung deutlich wurde – und diese ähnelte erstaunlich dem Gebilde über den Wolken.

»Heilige Scheiße!«

Ein Schlüssel kratzte an der Tür.

Painmaker fuhr herum und lauschte in Richtung Eingang. Jemand war im Begriff, den Bereich zu betreten. Hastig schob er das Fach wieder zu und begab sich geduckt hinter den flachen Schrank in Deckung.

»Wenn dich der Aufseher hier drin erwischt, Roger, bist du deinen Job definitiv los. Ich habe noch nie mit jemandem zusammengearbeitet, der die Hosen so voll hatte, obwohl alles leer ist«, sagte der andere leise, aber mit hämischen Unterton.

»Wer nörgelt denn hier von uns beiden? Hast du die Kiesel auf der anderen Seite auf dem Boden gesehen? Wo sollen die denn herkommen?«

Das Gespräch löste sich in helle Lichtsäulen auf, die neugierig in die Gänge schauten. Ihr Schimmer war nur schwer durch die undurchsichtigen Regale zu sehen. Die beiden teilten sich auf, übernahmen jeweils eine Seite des Raumes. In stetigen Wiederholungen huschten die Lichtkegel an der Außenseite nach vorn und verschwanden dann.

Über die Deckung hinweg versuchte Painmaker etwas auszumachen, um die Eindringlinge abzulenken. Nicht einmal eine Lücke gab es, in die er sich hätte zurückziehen können. Aus dem Augenwinkel bemerkte er dafür das Schloss, das noch immer auf dem Schrank lag.

Vorsichtig tat er einen Schritt beiseite. Die schwere Montur auf dem Steinboden erzeugte einen hohen metallischen Ton.

Augenblicklich verharrten die beiden Lichtkegel.

Es bedurfte noch eines Schrittes, um sich so weit hinüber zu beugen, dass er das Schloss zu greifen bekam. Das Wummern in der Brust echote im Anzug. Erst als die Kegel sich wieder bewegten, tat er den nächsten Schritt und schnappte sich in einer fließenden Bewegung das vermaledeite Anhängerschloss.

Ruckartig schoss das Licht um die letzte der hohen Regalreihen. Es beschien den Abschnitt vor den flachen Schränken.

»Da ist nichts, wir sollten verschwinden«, sagte der Wachmann.

»Du hast es auch gehört, also tu nicht so, als wäre es allein meine Einbildung gewesen«, motzte der Mann namens Roger und schenkte seinem Kollegen einen finsteren Blick.

Stöhnen von der anderen Seite. »Wer sagt denn, dass nicht einer von uns das Geräusch verursacht hat?«

»Es sind nur noch drei Gänge, willst du jetzt echt kneifen? Wenn es schiefgeht, hängst du genauso drin.«

Sein Gegenüber verdrehte die Augen. Er deutete an, dass sie den nächsten Gang gemeinsam angingen. Mit einem Ausfallschritt sprangen sie weiter und leuchteten in einen leeren Abschnitt.

Noch zwei.

Mit den Fingern zählte Roger gut sichtbar runter und sie landeten im vorletzten Gang. Auch dieser war leer.

»Wenn das nicht so albern wäre …«, kam es von gegenüber.

»Was zum Henker habt ihr hier verloren?«, donnerte es von der Tür her. Ein kleiner Mann mit Schnauzer und dicker Brille stapfte energisch herbei, die winzige Taschenlampe wischte herum wie ein zu feuchter Mopp über Fliesen. »Das ist ein Sicherheitsbereich, niemand hat hier Zutritt, nicht einmal ihr!«

»Verzeiht, Mr Bottom, es gab Anhaltspunkte …«, begann Roger mit geschwollener Brust.

»Anhaltspunkte?«, überschlug sich Mr Bottoms Stimme. »Ihr seid doch kein Detektiv, Goldbloom! Seht zu, dass Ihr Euren Job woanders macht.«

»Ja, Sir«, gab die Wache kleinlaut zurück.

Aus einzelnen Schritten wurde ein arhythmischer Reigen von Gummisohlen. Die Wachen zogen sich aus dem Archiv zurück.

Painmaker kauerte in der letzten Reihe. Er konnte kaum glauben, wie viel Glück er soeben gehabt hatte. Gerade rechtzeitig war er zwischen den Schränken hindurch einen Gang weiter gerutscht. Die Bewegungen der Wachleute hatten dabei seine eigene Geräuschkulisse überdeckt. Weder stand ihm der Sinn danach, sich mit ihnen anzulegen, noch würden sein Herz oder die Atemeinheit eine Auseinandersetzung aushalten.

Erst als die Tür ins Schloss fiel und die Stimmen nach einer Weile abebbten, erhob er sich langsam. Die Kraftunterstützung des Anzugs kompensierte ein wenig die weichen Beine. Sogar die schwere Hand zitterte. Painmaker trat zurück an den Schrank, zog die Schublade wieder auf und wandte sich dem riesigen Stück Papier zu. Ihm schwirrte so sehr der Kopf vom Adrenalin, dass er kurzerhand alle Pläne herausnahm und sie zu einem Stapel faltete. Im Nu verschwand dieser im Stauraum des linken Oberschenkels.

Nichts wie raus hier.

Langsam ging er zur Tür und lauschte. Es war ruhig. Da sie kein Sichtfenster besaß, zog er sie auf und blickte in den leeren Vorraum. Kaum dass er den Fuß in den Rahmen setzte, bemerkte er seinen Fehler.

Man hatte die Tür nicht abgeschlossen.

Und es hatten sich keine Schritte entfernt.