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Kapitel 34

Beinahe zurückhaltend erklang das Knirschen unter Bradleys harten Sohlen, als wollte es die Totenruhe nicht stören. Der Weg wand sich an niedrigen Büschen entlang, über verwinkelte Stufen und vorbei an endlosen Reihen von Marmorblöcken. In regelmäßigen Abständen warfen niedrige Lampen warmes Licht darauf. Er musste sich eingestehen, dass ihm das Herz bis zum Hals schlug. Bradley war sich nicht sicher, ob die junge Ms Logmorton die Wahrheit gesagt hatte. Zumindest sprach seine bloße Existenz dafür.

Der Richway Park Cemetery war einer der gehobenen Friedhöfe in Metalhain. Hier lagen die Gebeine der wohlhabenderen Schicht. Daher war diese Parkanlage gut gepflegt und weniger stark besucht. Dennoch hatte Bradley bis zur hereinbrechenden Nacht warten wollen, um hierherzukommen.

Beim Anblick der wenigen großen Familiengruften wurde ihm flau im Magen. Sein Geist war all die Jahre derart mit dem Wunsch nach Rache vergiftet gewesen, dass er sich mit dem Verbleib seiner Eltern nicht auseinandergesetzt hatte. Aylsworth Harcourts Aussage zu seinen Recherchen hatte etwas Endgültiges besessen. Er wollte ihm nichts andichten, hätte sich dennoch mehr Elan für seine Nachforschungen gewünscht. All das war nun jedoch zweitrangig, sofern Ms Logmorton Recht behielt.

Der Außenring des Friedhofs schmiegte sich an die dichte Vegetation, die sich liebevoll um die monumentartigen Gräber legte. Wie ein Naturgeist, der sich um den Verbleib seiner einstigen Schöpfungen kümmerte. Bradley hielt inne und ließ den Blick über die zahlreichen Anlagen gleiten. Eine von ihnen barg die Ruhestätte seiner Eltern. Doch welche?

Er zog den Mantelkragen dichter um den Hals und besah sich jede einzelne. Eine dichte Folge von Erwartung und Enttäuschung. Schließlich entdeckte er die Spitze eines unscheinbaren Obelisken, der auf einem quadratischen Sockel stand. Henrietta Lenville stand in der oberen Zeile, Lysander Tadel Lenville in der zweiten. Kein Todesdatum, kein Gruß, aber auch kein dritter Name. Sie hatte wirklich gewusst, dass er am Leben war.

Der schmale Steinweg wirkte wie die Pforte in ein grünes Paradies. Eine Lampe war unmittelbar davor platziert und tauchte das Grab in warmes Licht. Bradley blieb davor stehen. Seine Beine verweigerten ihm den Dienst. Sosehr er sich an diesen Ort gewünscht hatte, umso endgültiger war nun dessen Botschaft.

»Hallo, Mom, hallo, Dad«, flüsterte er.

Er musste sich hinknien, der Augenblick raubte ihm die Kraft.

»Wir hatten keine Gelegenheit, einander auf Wiedersehen zu sagen«, versuchte er sich an einem Einstieg. Die Worte schnürten ihm die Kehle zu.

»Auch wenn es gedauert hat, ich habe euch gefunden.«

Er fasste den Mut, ein wenig näher zu rutschen, um mit den Fingern über den kalten Stein zu streichen. Es war die schönste Berührung seit fast dreizehn Jahren.

»Ich brauche euch sicherlich nicht zu erzählen, wie es mir ergangen ist. Wie oft habe ich mir gewünscht, dass wir alle wieder vereint wären. Aber nicht so. Es gab da immer etwas, wofür ich kämpfen wollte, und das war die Ehre unserer Familie.«

Er hielt die Hand vor den Mund, um die aufkeimenden Emotionen im Zaum zu halten.

»Was soll ich sagen? Niemand erreicht sein Ziel, wenn er nicht zu laufen beginnt. Ich danke dir, Mom, für deinen Hinweis. Eure kleine Zuflucht ist toll.«

Alles, was ihm an Gedanken in den Sinn kam, wirkte irrelevant. Wahrscheinlich hatten sie ihn ohnehin die ganze Zeit begleitet. Wie sonst hätte er all diese Strapazen überstehen sollen? Also redete er sich den Druck von der Seele.

»Ich kann mit ihm nicht länger unter einem Dach wohnen«, begann er. »Cube, so nenne ich ihn, ist nun bei Demetrius. Wie sich herausstellte, war er selbst an dessen Entwicklung beteiligt und dort kann er seiner Bestimmung weit besser gerecht werden als bei mir.«

Mit sachtem Nicken unterstrich er seine Entscheidung.

»Mr Harcourt konnte endlich vernünftige Aussagen über eure Vermögenswerte in Erfahrung bringen. Danke, dass ihr so gut für mich vorgesorgt habt. Dies hat mir geholfen, eine Entscheidung zu fällen. Das Kinderheim gehört in wenigen Tagen mir. Aus irgendeinem Grund ist Ms Craft verpflichtet, lebenslang dort zu arbeiten. Es wird sie ungemein freuen, dass ich nun der neue Eigentümer werde.«

Sein kurzes Auflachen lockerte seine Haltung sichtlich.

»Ich habe mir vorgenommen, aus diesem dunklen Ort ein Zentrum der Hoffnung zu machen. So wie ihr mir eine Chance gegeben habt, behütet ins Leben zu starten, soll dies auch denen möglich sein, die niemanden mehr haben.«

Er sah zu Boden.

»Ich bin lange vom Schmerz und der Wut blind gewesen. Die Wolken über meinem Herzen haben sich gelichtet. Ein Stück weit zumindest. Bitte vergebt mir die Entscheidungen der letzten Jahre. Was ich getan habe, geschah mit der richtigen Intention, aber gewiss war der Weg nicht der ehrbarste.«

Er griff in die Innenseite des Mantels und nahm die Painmaker-Maske heraus. Ein Antlitz, das im Schimmer des Lichtes und der friedlichen Umgebung völlig deplatziert wirkte. Bereits in den letzten Tagen hatte er die Verbindung zu dieser Rüstung verloren. Vor allem aber zu dem, was sie beherbergt hatte. Painmaker war nach wie vor ein Teil von ihm. Tief in seinem Inneren schlummerte er und mochte, solange er dafür sorgte, dort den ewigen Schlaf der Gerechten fristen.

Bradleys Kopf war voll mit Worten und Gedanken. Er wusste, dass es nicht nötig war, sie auszusprechen. Das wohlig warme Gefühl in seiner Brust sagte ihm, dass sie gehört wurden.

»Ich … werde euch wieder besuchen.«

Langsam strich er über die Buchstaben der Namen, lächelte und fand zurück in den Stand. Die Lampe zu seiner Linken flackerte zweimal kurz. Dann verschwand er in den Weiten der Anlage.