Die gesellschaftlichen Strukturen, die heute die kontinuierliche Extraktion von Daten aus unserem Leben so einfach machen, dass sie uns geradezu natürlich vorkommt, sind seit Jahrhunderten in der Entwicklung. So plötzlich und wie aus dem Nichts die Geschäftsmodelle und wissenschaftlichen Prinzipien von Big Tech und KI aufgetaucht scheinen, sie sind fest in viel älteren, gut etablierten Prozessen verankert. Wie wir bereits bei der Diskussion über billige Daten gesehen haben, verschwinden kolonialistische Impulse nicht einfach eines Tages: Sie werden stetig neu konfiguriert und angepasst.
Um diese Kontinuitäten nachzuvollziehen, müssen wir verstehen, wie sich die westliche Wissenschaft und der Kapitalismus Seite an Seite mit dem Kolonialismus entwickelt haben. Dies ist ein Thema, das bereits viele Bände gefüllt hat, daher wollen wir hier nur darauf hinweisen, dass die Notwendigkeit, die Kolonien zu beherrschen und zu verwalten, zur Entwicklung von Wissensformen geführt hat, die diese Aufgabe erleichterten. Und diese Formen des Wissens – die modernen westlichen Wissenschaften wie Botanik, Geologie, Anthropologie und Zoologie – führten zu technologischen Durchbrüchen, die es den Konzernen ermöglichten, die Welt zu beherrschen. Schauen wir uns genauer an, wie sich dieser Prozess entwickelt hat.
Steven Harris beschreibt die erheblichen Investitionen in die Wissenschaft, die getätigt wurden, damit Kolonialeinrichtungen aus der Ferne operieren konnten.[1] Mit dieser Aufgabe waren Gesellschaften wie die Casa de la Contratación de Indias oder die East India Company betraut. Mexiko musste von Madrid, Delhi von London aus gesteuert werden, und das zu einer Zeit, als man noch weitgehend handschriftlich oder allenfalls gedruckt miteinander kommunizierte. Wissenschaftler und Erfinder entwickelten im Auftrag dieser Gesellschaften die dazu nötigen neuen Instrumente.
Während die gängige Geschichtsauffassung uns die Wissenschaft als Ergebnis der Bemühungen einzelner männlicher Genies (Galileo, Bacon, Newton usw.) darstellt, zeigt Harris, dass der Kolonialismus eine Art Big Science förderte, die von weniger bekannten Wissenschaftlern getragen wurde. Ihre Leistungen sind sicherlich nicht von geringerer Bedeutung als die ihrer weltberühmten Kollegen, wenn sie auch weniger Würdigung finden. Ein globales Netzwerk von Wissenschaftlern und Spezialisten arbeitete zum Nutzen verschiedener Institutionen und Auftraggeber zusammen, häufig in den Kolonien. So importierte Spanien zwischen 1717 und 1738 jährlich 45 Tonnen Heilpflanzen aus Amerika, zwischen 1747 und 1778 stieg diese Menge auf 155 Tonnen pro Jahr an. Das Wissen über die Verwendung dieser Pflanzen stammte von den indigenen Völkern, wurde jedoch von medizinisch bewanderten Missionaren in den Kolonien systematisch gesammelt und kommerzialisiert – nicht umsonst wurde die Chinarinde, aus der man damals den fiebersenkenden Stoff Chinin gewann, auch »Jesuitenrinde« genannt.[2]
Gegen Ende des 17. Jahrhunderts hatten diese Big Sciences (medizinische Botanik, Astronomie, Geographie, Naturgeschichte, Meteorologie, Navigation usw.) ihre Arbeitsweise schon so »modernisiert«, dass man von verteilten oder virtuellen Teams sprechen könnte, wie sie heute üblich sind. Für die verschiedensten Disziplinen waren königliche Gesellschaften oder Akademien gegründet worden. Sie arbeiteten an neuen Technologien und Werkzeugen, die teils von präkolumbianischen Erfindungen in der Medizin, der Architektur, der Astronomie, dem Transportwesen übernommen oder inspiriert waren – von Kabelhängebrücken über Injektionsspritzen bis hin zu oralen Verhütungsmitteln.[3] Dabei erzeugten sie große Datenmengen, die in Berichten, Tabellen, Karten und Handbüchern gespeichert wurden. In den botanischen Gärten von Amsterdam und Leiden oder den Royal Botanic Gardens im Londoner Stadtteil Kew wurden neue Sorten von Kaffee, Kakao, Mais und Früchten gezüchtet, die für die Ernährungsgewohnheiten der europäischen Bevölkerung optimiert waren.[4]
Mit anderen Worten: Die kolonialistische Expansion und Verwaltung wurde von globalen Konzernen (Big Tech) betrieben. Sie beschäftigten Hunderte von Wissenschaftlern und Fachleuten (Big Science), die in ihrem Auftrag die geistigen und technologischen Strukturen für die politische, militärische und kulturelle Unterwerfung der Welt im Interesse der Profitmaximierung schufen. Dies erforderte die Sammlung und Analyse riesiger Mengen von Informationen aus den Kolonien (Big Data), die zu einem wichtigen Aktivposten für ihre Steuerung und Verwaltung wurden.
Ein großer Teil der von den Kolonisatoren gesammelten Informationen wurde zur Überwachung und Kontrolle der kolonisierten Völker verwendet (Big Brother). Diese dehnte sich auch auf die politische Verwaltung der Bevölkerung aus und führte zum Bau von Sicherheitszäunen zur Trennung von Bevölkerungsgruppen, der panoptischen Anlage von Gefängnissen, um eine lückenlose Überwachung der Gefangenen zu ermöglichen, und verschiedenen Frühformen der biometrischen Datenerfassung. Dies alles wurde in den Kolonien zum Standard, bevor es in europäischen Städten eingeführt wurde.[5]
Daher bildet die lange Geschichte des Kolonialismus, nicht nur die letzten Jahrzehnte der digitalen Revolution, den beste Ausgangspunkt, um zu verstehen, wie diese Prozesse konvergieren. Schon vor Jahrhunderten – lange vor GAFA (Google, Apple, Facebook und Amazon), seinen chinesischen Entsprechungen BATX (Baidu, Alibaba, Tencent und Xiaomi) und all den anderen, die heute zur Klasse der Datenkolonialisten gezählt werden müssen – konnte man also von Big Tech sprechen, das mit Hilfe der gesammelten Innovation von Big Science und Big Data als Big Brother auftrat. Das bedeutet nichts anderes, als dass das, was mit unseren Daten geschieht, weder kapitalistisches business as usual noch eine problematische neue Variante des Kapitalismus ist, die es zu zähmen gilt. Die heute praktizierte massive Datenextraktion, sei es zum Betrieb von Plattformen oder zur Fütterung der generativen KI, ist nur die Fortsetzung einer schon lange geübten Organisation der Welt durch Volkswirtschaften, Gesellschaften und Machtverhältnisse, die schon immer zutiefst von Ungleichheit und Ausgrenzung geprägt war.[6] Betrachtet man die Dinge in diesem größeren Kontext, wird deutlich, dass der enorme Umfang und die Folgen des heutigen Phänomens Datenextraktion eine klare Parallele in der Geschichte haben: den Beginn des historischen Kolonialismus.