Dieser historische Rahmen hilft uns, über die Skandale und Marktunsicherheiten, die üblicherweise das Thema Big Tech beherrschen, hinauszuschauen.
Aktuell wird diskutiert, dass es mit dem »Freifahrtschein« für Big Tech bald zu Ende gehen könnte. Zwar haben Amazon, Apple, Facebook, Google und Microsoft während der Pandemie Rekordgewinne erzielt – 1,4 Billionen Dollar im Jahr 2021, ein Anstieg um 55 Prozent von einem bereits recht hohen Niveau[1] –, doch die jüngsten Trends sprechen nicht nur für eine Verlangsamung des Wachstumstempos, sondern legen eine Reihe weiterer Probleme von Big Tech offen.
Verstärkt wird diese Tendenz durch eine weltweite Verschärfung der Datenschutzbestimmungen, die dem Extraktivismus engere Grenzen setzt. Die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) der Europäischen Union ist dafür ein gutes Beispiel, aber auch 35 der 50 US-Bundesstaaten erwägen neue Datenschutzbestimmungen.[2] Tatsächlich scheint die Vormachtstellung von Meta (Facebook) und Alphabet (Google) auf dem Markt für digitale Anzeigen zu schwinden. Lag der Marktanteil dieser beiden Konzerne im Jahr 2017 noch bei 54,7 Prozent, wird er für 2024 auf nur noch 43,9 Prozent prognostiziert.[3] Das ist zwar immer noch beachtlich, aber dennoch ein Rückgang, womöglich auch ein Zeichen für gesunden Wettbewerb. Darüber hinaus werden die Tech-Konzerne von juristischen Problemen geplagt. Meta gelang es erst kürzlich, den Rechtsstreit um den Cambridge-Analytica-Skandal gegen eine Zahlung von 725 Millionen US-Dollar beizulegen, musste sich aber sogleich wieder vor europäischen Gerichten über die Verwendung seiner Nutzerdaten für Werbezwecke streiten.[4] Sämtliche großen Tech-Unternehmen haben weltweit laufende Gerichtsverfahren, die mal das Wettbewerbsrecht, mal den Datenschutz betreffen oder in denen es um Falschinformation und Manipulation geht. Vorwürfe wegen sexueller Ausbeutung und algorithmischer Diskriminierung stehen ebenfalls im Raum.[5]
Auch für Start-ups, deren Finanzierung angesichts knapper werdenden Risikokapitals teurer geworden ist, sieht es inzwischen nicht mehr so rosig aus.[6] Experten sind weniger optimistisch, dass sich die hohen Wachstumsraten in diesem Sektor endlos fortsetzen werden, auch wenn viele dieser Unternehmen nach wie vor äußerst profitabel sind.[7]
Bedeutet dies vielleicht, dass es mit Big Tech bereits zu Ende geht und der Datenkolonialismus zusammenbricht, bevor er überhaupt sein volles Ausmaß erreicht hat? Wohl kaum. Zu den Reaktionen auf diese Krise gehört eine Entlassungswelle. In den USA ansässige Tech-Unternehmen kündigten im Jahr 2023 131000 Beschäftigten (Stand März, weitere Kündigungen werden im weiteren Verlauf des Jahres erwartet) und mehr als 93000 im Jahr 2022.[8] Allerdings finden viele dieser Entlassenen eine neue Beschäftigung.[9] Nach dem Kauf von Twitter entließ Elon Musk 50 Prozent der Belegschaft.[10] Dies zeigt wieder einmal, dass im Auf und Ab der Wirtschaft stets die Arbeitnehmer und nicht die Aktionäre das Nachsehen haben. Nichts macht dies augenfälliger als die ärmlichen Slums aus Blech, Pappe und Plastik der Amazon-Beschäftigten rund um die hochmodernen Verteilzentren, wie sie beispielsweise im mexikanischen Tijuana aus dem Boden geschossen sind. Ein ähnliches Bild bietet sich vielerorts, wo Amazon tätig ist, auch wenn die Gehälter und Lebensbedingungen im Globalen Norden generell etwas besser sind. Amazon erhält nicht selten Steuererleichterungen und andere Anreize für den Bau seiner Logistikzentren unter der Prämisse, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Allerdings sind diese häufig nicht nur schlecht bezahlt (in Tijuana erhalten die Amazon-Beschäftigten beispielsweise nur 2,60 Dollar pro Stunde), sondern bieten auch in der Regel weniger Vorteile als die Jobs, die sie ersetzen.[11]
Eine andere Reaktion auf die Krise könnte einfach darin bestehen, die derzeitigen extraktivistischen Praktiken noch zu verstärken, um die Folgen auch auf die Verbraucher und Bürger statt bloß die eigenen Arbeitnehmer abzuwälzen. Naomi Klein diagnostizierte hier bereits einen »Katastrophen-Kapitalismus«, in dem Unternehmen und Regierungen unter dem Vorwand von Natur- und Finanzkatastrophen noch repressivere Maßnahmen durchsetzen.[12] Die Covid-Pandemie liefert ein gutes Beispiel für diese Dynamik. Nach Untersuchungen des European Center for Not-for-Profit Law, des International Network of Civil Liberties Organizations und Privacy International wurden Überwachungstechnologien während des Covid-Notstands von Regierungen zum Missbrauch persönlicher Daten, der Unterdrückung abweichender Meinungen, und zur Umwidmung von Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung für die Überwachung von Bürgern genutzt.[13] Hinzu kam als neuer Trend, dass extraktivistische Technologien zunehmend auch vom privaten Sektor angeboten werden.[14]
Daraus muss man die Lehre ziehen, dass der Technologiesektor angesichts wirtschaftlicher Schwierigkeiten in Zusammenarbeit mit Regierungen wahrscheinlich jederzeit Mittel und Wege finden wird, seine Probleme zu externalisieren und an die Öffentlichkeit weiterzugeben, womöglich in Form von verstärktem Datenextraktivismus auf Kosten von Arbeitnehmern und Verbrauchern. Deshalb wird der derzeitige Wirtschaftsabschwung auch kaum das Ende des Datenkolonialismus einläuten. Selbst der Zusammenbruch großer sozialer Medienplattformen wie Meta oder gar das Ende des Überwachungskapitalismus, das manche vorhersagen (wir selbst sind da eher skeptisch),[15] werden nicht das Aus für den Datenkolonialismus bedeuten, reicht dieser doch, wie wir noch zeigen werden, weit über diese beiden Phänomene hinaus.