Viele glauben vielleicht noch, ihr Leben sei bislang unberührt von den Datenterritorien der Agrar-, Bildungs- und Gesundheitstechnologie, andere bekommen die Auswirkungen dieser Innovationen schon jetzt zu spüren. Aber in einer Hinsicht wirkt sich der Datenkolonialismus bereits auf die gesamte Gesellschaft aus, und zwar in der Arbeitswelt, und hier insbesondere auf Arbeitskräfte mit niedrigem Status.
Die Arbeitswelt wird durch genau denselben Mechanismus umgestaltet, in dem wir den Kern des Datenkolonialismus ausgemacht haben: die Schaffung neuer Territorien, aus denen kontinuierlich Daten extrahiert und ausgebeutet werden können. Vor allem gering qualifizierte Beschäftigung wird durch digitale Plattformen und Schnittstellen verschiedenster Art in Datenterritorien unter der absoluten Kontrolle von Managern verwandelt, was bereits heute ganze Arbeitswelten bedroht.
Es ist nicht im Geringsten überraschend, dass kapitalistische oder kolonialistische Arbeitgeber so viele Informationen über ihre Arbeitskräfte sammeln, wie sie nur bekommen können. Schon Karl Marx zählte Überwachung zu den wichtigsten Instrumenten des kapitalistischen Managements,[1] und die ständige Beobachtung und Quantifizierung menschlicher Körper war ein Hauptmerkmal der vorkapitalistischen Sklavenplantagen und anderer Orte der kolonialistischen Ausbeutung.[2] Die »quantifizierte Arbeitskraft« (wie es Rechtswissenschaftlerin Ifeoma Ajunwa nennt) ist also nichts Neues.[3] Die Frage ist nun: Wie viel schlimmer wird all dies unter den neuen Kräfteverhältnissen des Datenkolonialismus, die gezielte und lückenlose Datenüberwachung so viel einfacher machen? Die Antwort lautet: viel schlimmer.
Im einfachsten Fall sind Beschäftigte durch die bloße Nutzung ihres Arbeitsplatzcomputers der ständigen Überwachung durch ihren Arbeitgeber ausgesetzt, unabhängig davon, ob sich dieser am anderen Ende der Welt oder im selben Gebäude befindet. Sogenannte »Bossware« (Plattformen wie Teramind, Veriato Vision und Clever-Control) sperren Arbeitnehmer in Datenterritorien ein, aus denen es kein Entrinnen gibt. Sie können jeden Tastendruck verfolgen, nach bestimmten Schlüsselwörtern suchen (die der Arbeitgeber vielleicht gerne verwendet sehen möchte), Screenshots des Desktops oder in regelmäßigen Abständen Video- und Audioaufnahmen machen und die verwendeten Programme abfragen, um sicherzustellen, dass keine Arbeitszeit vergeudet wird. Diese Systeme können auch E-Mails und Chat-Nachrichten am Arbeitsplatz überwachen. Durch die Corona-Pandemie hat der Einsatz solcher Techniken noch zugenommen. Einer Umfrage zufolge setzten im Jahr 2021 60 Prozent der amerikanischen Arbeitgeber Bossware zur Überwachung ihrer Arbeitnehmer ein (in Branchen wie Marketing und IT sogar deutlich öfter); eine andere Umfrage kam zu dem Ergebnis, dass 70 Prozent der großen Arbeitgeber in den USA dies bis 2025 tun werden.[4]
Es gibt weitere raffinierte Formen der computergestützten Überwachung. Ein Beispiel ist der Niedriglohnsektor mit seinen ohnehin prekären Arbeitsverhältnissen, etwa Reinigungskräfte oder Haushaltshilfen, in der überwiegenden Mehrzahl Frauen. Ihr nächster Job ist häufig nur eine SMS oder WhatsApp-Nachricht entfernt, so dass ein Telefon mit Internet-Verbindung den Unterschied zwischen Beschäftigung und Arbeitslosigkeit ausmachen kann – einer Beschäftigungsplattform wird es nicht entgehen, wenn man öfter unerreichbar ist, was den Rauswurf zur Folge haben kann.[5]
Ein Großteil der Arbeit im Niedriglohnsektor wird heute in Datenterritorien geleistet. Die daraus resultierende verstärkte datengesteuerte Überwachung hat umso mehr Bedeutung, als in den letzten vier Jahrzehnten in vielen Ländern eine tiefgreifende Umstrukturierung der Arbeitswelt stattgefunden hat, die weit über die Kräfte des Datenkolonialismus hinausgeht. Managementexperten sprechen in diesem Zusammenhang inzwischen vom »brüchigen Arbeitsplatz«. Je länger die Lieferketten werden, desto mehr versuchen Unternehmen, ihre direkte Verantwortung als Arbeitgeber zu reduzieren. Wie kaum anders zu erwarten, weist ihnen hierbei das Erbe des klassischen Kolonialismus den Weg, wird doch ein Großteil der Arbeit im Niedriglohnsektor auf Unternehmen im Globalen Süden abgewälzt.[6] Immer mehr Menschen arbeiten nun unter prekären Bedingungen ganz am Anfang der Lieferkette, wo der starke Konkurrenzkampf um Aufträge kleinen Unternehmen abverlangt, genauestens die geforderten Qualitätsstandards, Liefertermine und dergleichen einzuhalten. Wer aber gibt diese Standards vor? Da muss man nicht lange nachdenken: der Konzern an der Spitze der Lieferkette, sei es Apple, Walmart oder Tesco. Und wie werden diese Standards überwacht? Durch ständigen Datenfluss in der gesamten Lieferkette. Damit sind wir bei der Logistik, ein Bereich, der in Diskussionen über die Überwachung durch Big Tech, die sich hauptsächlich auf die sozialen Medien konzentrieren, häufig übersehen wird.
Die Auslieferungszentren der Logistikbranche sind das beste Beispiel. Wir alle wollen pünktlich unsere Pakete von Amazon erhalten, denken dabei aber kaum an die Person, die pausenlos getrackt wird, wenn wir auf »Sendungsverfolgung« klicken. Hier werden die Territorien der Datenextraktion nicht durch interaktive Plattformen geschaffen, mit denen wir in unserer Freizeit spielen, sondern durch die IT-Systeme von Konzernen. Die Überwachung von Dingen und Menschen in Warenlagern kann extreme Ausmaße annehmen. Bei der »sprachgesteuerten Kommissionierung« werden die Waren sowie die Bewegungen und die Zusammenarbeit der Arbeitnehmer permanent präzise durch GPS überwacht. Die britische Gewerkschaft GMB hat bereits vor mehr als einem Jahrzehnt davor gewarnt, dass die Intensität und Detailliertheit dieser Überwachung zum Gesundheitsrisiko für die Arbeitnehmer wird, da sie ständig unter Druck gesetzt werden, was zu mehr Unfällen und Verletzungen führt.[7] Die Datenerfassung direkt am Körper lässt keinerlei Spielraum, aber auch die scheinbar weniger aufdringliche Verpflichtung der Arbeitnehmer, jeden Arbeitsschritt durch einen Scan für das Workflowmanagement zu dokumentieren, wird gnadenlos eingesetzt. Garfield Hylton, der im Amazon-Verteilzentrum im britischen Coventry arbeitet, meint: »Wir nennen das ›am Scanner kleben‹ – man muss dauernd scannen, um sein konstant hohes Arbeitstempo nachzuweisen.« Andernfalls, so sagte er, taucht bald ein nörgelnder Manager auf.[8] Und die Beschäftigten haben kaum Möglichkeiten, sich zur Wehr zu setzen, wenn die Kontrollsysteme Fehler machen. Auch in Gewerkschaftskreisen sieht man diese Entwicklung zunehmend mit Sorge.[9]
Dabei muss der Tracker nicht einmal direkt mit dem Körper des Arbeitnehmers verbunden sein, es genügt, wenn er an der Maschine oder dem Fahrzeug angebracht ist, das er bedient. Für LKW-Fahrer hat sich die Arbeit durch Geräte, die die Fahrweise des Lkw aufzeichnen und an den Arbeitgeber zurückmelden, völlig verändert. Elektronische Fahrtenschreiber für LKW sind in den USA inzwischen obligatorisch geworden. Der Einbau solcher Geräte in das Führerhaus sorgt für völlig veränderte Machtverhältnisse. Der Fahrer, so die Soziologin Karen Levy, ist nicht mehr wie früher der souveräne Erzähler seiner Zeit auf der Straße, sondern nur noch eine Informationsquelle unter anderen für die Unternehmensdatenbanken.[10] Dies hat auch erhebliche Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl der Fahrer. Einer äußerte sich dazu in einer Befragung durch die Regulierungsbehörde folgendermaßen: »Ich will nicht wie ein Kind behandelt werden, das nicht selbst entscheiden kann, wann es Zeit zum Schlafengehen und Zeit zum Aufstehen ist. Unter solchen Bedingungen möchte ich nicht arbeiten.«[11]
Speditionsunternehmen, so berichtet Levy, nutzen allerdings nicht nur Datenquellen aus der Fahrerkabine, sie überwachen auch, wie ihre Fahrer die sozialen Medien nutzen. Daraus ziehen sie beispielsweise Rückschlüsse auf ihre grundsätzliche Eignung oder ihren Gesundheitszustand.[12] In diesem Prozess wird eine wichtige Grenze zwischen dem öffentlichen und dem privaten Leben des Arbeitnehmers eingerissen. Aber die neuen Regeln für das Datenterritorium der Arbeitswelt haben potenziell noch dramatischere Auswirkungen: Sie können ganze Arbeitsbereiche umgestalten und sogar völlig neue Arten von Arbeit schaffen, und das alles allein durch Datenfluss.
Damit kommen wir zur sogenannten »Gig Economy«: Plattformen für Crowdworking wie Amazons Mechanical Turk (MTurk), Remotasks und Upwork, Fahrerplattformen wie Uber und DiDi (China) und Online-Lieferdienste für Essen wie Deliveroo (Vereinigtes Königreich) und Meituan (China). Die führenden Big-Tech-Unternehmen unterhalten sogar eigene Crowdworking-Plattformen: Raterhub (Google) und UHRS (Microsoft). Man könnte auch von »Arbeit auf Abruf« sprechen. Der Prozentsatz der Menschen, die in diesem Bereich Beschäftigung finden, ist nach wie vor relativ gering (unter 10 Prozent), zumindest in reichen Volkswirtschaften wie den USA und dem Vereinigten Königreich. Doch schon gehen einige Schätzungen davon aus, dass freie Mitarbeiter bald etwa die Hälfte der Arbeitskräfte in den USA stellen werden.[13] Für Länder außerhalb des Westens gibt es kaum zuverlässige Zahlen, aber dass es sich um einen rasch wachsenden Sektor handelt, steht außer Zweifel. In der On-Demand-Wirtschaft werden Arbeitsplätze und Jobs über Plattformen verteilt und überwacht. So verändern sich ganze Geschäftsbereiche, und neue entstehen. Solche Plattformen beherrschen nicht nur den Markt, sie »werden zum Markt«, wie es Anita Gurumurthy und Nandini Chami ausdrücken, die die in Indien ansässige NGO IT for Change leiten.[14]
Die Betreiber von Gig-Apps behaupten häufig, ihre Dienste kämen der Gesellschaft als ganzer zugute. So reklamieren beispielsweise Transport- und Ridesharing-Plattformen für sich, Fahrer und Fahrerinnen würden durch sie besser verdienen und gleichzeitig würden die Umweltbelastungen des Autofahrens reduziert, auch wenn manches für das Gegenteil spricht.[15] Die wirklichen Vorteile von Gig-Plattformen für Manager ergeben sich jedoch aus der Auflösung traditioneller Beschäftigungsmuster durch den brüchig gewordenen Arbeitsplatz. Nicht nur ist die Rolle der großen Arbeitgeber zunehmend über lange Lieferketten verteilt, sondern alle Arten von Arbeitgebern (von der größten Big-Tech-Plattform bis hin zu Kleinunternehmern am Anfang der Lieferkette) lagern zunehmend Arbeiten aus, die sie nicht intern erledigen wollen. Das ist möglich, weil sie auf der ganzen Welt On-demand-Arbeitskräfte für einzelne Aufgaben gewinnen können, die sie über Plattformen wie MTurk, Cloudfactory, CrowdFlower und LeadGenius erreichen. Sie geben Unternehmen Zugriff auf große Pools von Arbeitskräften, häufig im Globalen Süden (beispielsweise in Kolumbien, Indien oder auf den Philippinen), die für sie genau umrissene Aufgaben zu festgelegten Zeiten und nach klar definierten Standards erledigen. Sie gleichen die Ausweisfotos von Uber-Fahrern ab, wenn deren verändertes Erscheinungsbild eine Systemabfrage ausgelöst hat, oder sie überprüfen die Finanzdaten kleinerer Transaktionen. On-demand-Plattformen umfassen ein breites Spektrum von Arbeiter- und Angestelltentätigkeiten.[16] Die grundlegenden Merkmale einer solchen Arbeit ergeben sich aus den bereits erläuterten Eigenschaften von Datenterritorien. Manager üben seit jeher beträchtliche und unter Umständen sogar tyrannische Macht in Arbeitsverhältnissen aus, doch On-demand-Arbeitsplattformen sind von vornherein so konzipiert, dass jeder Vorgang erfasst und kontrolliert wird. Der Betreiber der Plattform kann die Regeln jederzeit nach Gutdünken ändern, einer Arbeitskraft den Zugang zur Plattform verweigern oder sie willkürlich schlechter bezahlen.[17]
Um einer Person die Teilnahmemöglichkeit an einer solchen Plattform zu entziehen, muss man lediglich die paar Buchstaben und Zahlen in der Datenbank ändern, die sie repräsentieren – die Arbeitskräfte solcher On-demand-Plattformen werden nicht mehr durch Name und Gesicht identifiziert.[18] Das ist insofern stimmig, als Plattformen wie Uber schon seit langem darauf beharren, keine Menschen zu beschäftigen, sondern lediglich eine Datenbank zu verwalten. Glücklicherweise haben Gerichte in verschiedenen Ländern inzwischen begonnen, dies in Frage zu stellen. Im Vereinigten Königreich ist Uber mit seiner Weigerung, sich als Arbeitgeber zu verstehen, inzwischen gescheitert; auch in den USA entwickelt sich die Angelegenheit in diese Richtung.[19] Das ändert nichts an den grundsätzlichen Machtverhältnissen in den Datenterritorien, die die Autoren einer Studie über Shopping-Apps als »algorithmischen Despotismus« bezeichnen.[20]
Solche asymmetrischen Machtverhältnisse bestimmen heute die Arbeitswelt von einigen hundert Millionen Menschen in der ganzen Welt. Nahezu undurchsichtige Herrschaftssysteme gewähren ihren unsichtbaren Arbeitskräften nur wenig Würde, wenn überhaupt. Wenn Gig-Plattformen die Löhne von Arbeitnehmern senken können, die bereitwillig nach jedem angebotenen Job greifen (weil dies als Anzeichen dafür genommen wird, dass sie keine Wahl haben), und die Löhne von Arbeitnehmern erhöhen, die etwas länger überlegen (weil sie es nicht so nötig zu haben scheinen und daher einen Anreiz brauchen), wird deutlich, worauf das System abzielt: Gewinnmaximierung um jeden Preis, und sei es auf Kosten der Schwächsten.[21] Das Resultat: Arbeitnehmer mit niedrigem Status entfremden sich mehr denn je von der Gesellschaft.
Immer stärker tritt so die »algorithmische Grausamkeit« einer Arbeitswelt zutage, die aus der Ferne über Plattformen gestaltet wird. Für die Lebensrealität der Beschäftigten interessiert sich dort niemand – womöglich sind an der Organisation auch gar keine Menschen mehr beteiligt.[22] Bisher beschäftigen sich hauptsächlich wissenschaftliche Studien und journalistische Berichte aus China und anderen Ländern damit, was diese neue Arbeitswelt für die Beschäftigten bedeutet. Der Film Sorry We Missed You (2019) des britischen Regisseurs Ken Loach gehört zu den wenigen Ausnahmen. Er erzählt die Geschichte von Ricky, einem Paketboten, der seine sichere Stelle bei einem Lieferunternehmen aufgibt und seine Dienste bei einer Lieferplattform anbietet, die ihm keine Sicherheiten bietet. Die Belastungen seiner datengesteuerten Tätigkeit setzen seinem Familienleben und seiner Gesundheit stark zu. Am Ende erleidet er einen Nervenzusammenbruch. Der Film schildert, wie das Leben eines Menschen an der Gewalt der automatisierten Ausbeutung scheitert.
Die Abhängigkeit von Arbeit in der Gig-Economy ist weder im Globalen Norden noch im Globalen Süden gleichmäßig verteilt: Bevölkerungsgruppen, die unter dem historischen Kolonialismus zu leiden hatten (unter anderem ethnische Minderheiten und Einwanderer), sind tendenziell unter den »Geisterarbeitern« (wie Gig-Arbeiter manchmal genannt werden) häufiger vertreten als andere, zumindest in den USA.[23] Die Realität der Gig-Economy ist zu einem nicht geringen Teil kolonial geprägt. Aber das gilt auch für ihre allgemeine Organisation. Lokale Formen der Ressourcenverwaltung (die natürlich oft ausbeuterisch, aber zumindest lokal verhandelbar sind) werden durch gigantische globale Verwaltungssysteme ersetzt, deren Kern eine neue gesellschaftliche Realität darstellt: das Datenterritorium unter der absoluten Kontrolle seines Schöpfers.