Die Geschichte von Phil und Angela liefert ein weiteres Beispiel dafür, wie drastisch sich die Verschiebung der Machtverhältnisse durch den Datenraub auf das Leben vieler Menschen auswirken kann. Die Narrative, die uns zur Erklärung oder Rechtfertigung dessen, was mit unseren Daten geschieht, angeboten werden, zeichnen allerdings ein viel positiveres, ja hoffnungsvolles Bild. Phil spricht von den Vorteilen KI-gestützter Personalentscheidungen, von der Möglichkeit, mit mehr Bewerberinnen und Bewerbern in Kontakt zu treten, als es bei klassischen Verfahren möglich ist, und von der dem Menschen überlegenen Urteilskraft der KI. In diesem Kapitel werden wir all diese Narrative, die einen Zivilisationsfortschritt behaupten, genauer unter die Lupe nehmen.
Es gibt eine generelle Ähnlichkeit zwischen dem alten und dem neuen zivilisatorischen Narrativ, die aber nur dann deutlich zutage tritt, wenn wir es aus dem Blickwinkel der Kolonialgeschichte betrachten. Diese rechtfertigte den Landraub mit einer Reihe von Vorstellungen, die oft genug in direktem Widerspruch zu den Realitäten vor Ort standen. Da war das Ziel der christlichen Missionierung, dessen Unvereinbarkeit mit den unchristlichen Realitäten vor Ort schon damals bei manchen Anstoß erregte. Zweitens gab es die rassistische Vorstellung von der Überlegenheit der Europäer, insbesondere ihres Wissens und ihrer Wissenschaft. Drittens die Vorstellung von den größeren wirtschaftlichen Fähigkeiten und der Rationalität der Kolonisatoren, der vor allem die Briten anhingen – als Anglikaner konnten sie sich schließlich schlecht darauf berufen, vom Papst dazu autorisiert worden zu sein, weltweit Land zu beschlagnahmen, um das Christentum zu verbreiten. Darüber hinaus gab es komplexe Vermischungen dieser drei Motive, die sich etwa im Narrativ vom »Manifest Destiny«, der »offensichtlichen Bestimmung« des Westens und insbesondere der USA, ausdrückten oder die Beherrschung der Welt als »Bürde des weißen Mannes« (nach dem bekannten Gedicht von Rudyard Kipling) beschrieben. Gemeinsam war ihnen allen die Vorstellung, dass sich Europa auf einer »zivilisatorischen Mission« befand und der Welt durch militärische Eroberung und die Verbreitung seiner sozioökonomischen und kulturellen Werte seinen Stempel aufdrücken sollte. Diese Narrative wurden im Laufe der Zeit weiterentwickelt, um die umwälzenden Veränderungen der globalen Machtverhältnisse durch den Landraub zu rechtfertigen. Fairerweise muss gesagt werden, dass es anfangs unter den Kolonisatoren durchaus Diskussionen darüber gab, wie sich diese Art von Reichtumserwerb begründen ließe. Aber das stellte den Kolonialismus niemals ernsthaft in Frage, sondern führte lediglich zu raffinierteren Rechtfertigungsnarrativen.[1]
Der Datenraub unserer Tage steckt noch in den Kinderschuhen, und zweifellos werden sich auch seine Legitimationsnarrative noch weiterentwickeln. Doch schon jetzt zeichnen sich klare Muster ab. Nein, die Befürworter von Big Data und künstlicher Intelligenz sagen nicht, dass sie die Menschheit auf ein höheres Zivilisationsniveau heben wollen. Zumindest drücken sie es nicht so unverblümt aus. Der Grund für diese Zurückhaltung ist in der Kolonialgeschichte selbst zu suchen. Während der Kämpfe, die zum Zusammenbruch der politischen Strukturen des historischen Kolonialismus führten (beispielsweise des britischen Kolonialreichs in Indien und des französischen in Südostasien), gerieten zivilisatorische Narrative insgesamt in Misskredit. Als Gandhi gefragt wurde, was er von der westlichen Zivilisation halte, antwortete er angeblich: »Ich denke, die wäre gar keine so schlechte Idee.«
Folglich werden neue Narrative – oder zumindest Narrative, die man als neue verkaufen kann – als Ersatz für die umstrittenen zivilisatorischen Narrative von einst benötigt. Die Befürworter einer groß angelegten Datenextraktion verwenden eine andere Sprache und berufen sich auf Ziele, gegen die nur schwer etwas einzuwenden ist. Weiter behaupten sie, als Unternehmen oder Staaten über die Macht zu verfügen, sie auch umzusetzen. In verschiedenen Kreisen propagiert man die Idee von der »AI for Social Good«, die mit Hilfe künstlicher Intelligenz positive Veränderungen für Menschen auf der ganzen Welt herbeizuführen verspricht. Andere Narrative sehen einen historischen Fortschritt am Werk, der uns »das zweite Maschinenzeitalter« oder »die vierte industrielle Revolution« beschert. Dem lässt sich schwer etwas entgegensetzen, jedenfalls wenn man davon ausgeht, dass die geschichtliche Entwicklung stets linear verläuft.[2] Diese Vorstellung und die damit verknüpfte, dass ganz selbstverständlich der Westen die Welt in die Moderne führt, sind selbst ein Erbe des historischen Kolonialismus, wie wir in Kapitel 1 gesehen haben.
Doch der Datenraub stützt sich auf weitere zivilisatorische Narrative, die auf den ersten Blick nichts mit der Geschichte des Kolonialismus zu tun haben. Da wären das Narrativ des Komforts und das Narrativ der Vernetzung, das die Verbindung zwischen Menschen und Dingen durch Technologie zum Ideal erhebt. So überzeugend diese beiden Narrative auf den ersten Blick erscheinen, sie verschleiern nicht nur die Realität des umfassenden Datenraubs, sie haben, jedenfalls wo es um die Vernetzung von Menschen geht, auch ziemlich toxische Nebeneffekte.
Die Parallelen zur Kolonialgeschichte werden noch deutlicher, wenn man sich die Details anschaut: Nicht nur, dass die von Leuten wie Mark Zuckerberg propagierte Mission der Vernetzung an das religiöse Sendungsbewusstsein mancher historischer Kolonisatoren erinnert, auch die Sprache, der sie sich in Zusammenhang mit Big Data und KI bedienen, knüpft an die in Kapitel 1 erörterte Vision der Kolonialwissenschaft an, wie wir im letzten Abschnitt des Kapitels sehen werden.
Teilweise geraten diese Geschichten gar zur Beschwörung einer zivilisatorischen Mission, die den Datenraub als verantwortungsvolles Handeln eines wohlwollenden Kolonisators erscheinen lässt. Solchen Großnarrativen ist mit Analyse schwer beizukommen, weil sie so verlockend und unanfechtbar erscheinen. Sie bilden einen ambitionierten Begründungsversuch der Datenextraktion und tragen erheblich dazu bei, dass der Datenkolonialismus zu einer bestimmenden Kraft in der Welt geworden ist.
Dieser Prozess kommt zu den stärker auf der Hand liegenden Kontinuitäten des Kolonialismus hinzu, die sich ebenfalls in Angelas Geschichte widerspiegeln. Wirtschaftliche Abhängigkeit von fernen US-Konzernen gehört zu den Realitäten der gesamten modernen Geschichte der Philippinen. Werkzeuge wie die KI bieten nun ganz neue Möglichkeiten, das Leben der Menschen und die Arbeitswelt mittels datengesteuerter Strukturen der wirtschaftlichen Kontrolle zu unterwerfen. Diese Kontrolle erstreckt sich über den gesamten Erdball, wird aber wie eh und je von Unternehmen im Globalen Norden ausgeübt.
Nicht genug damit, dass Angela gegen geringe Bezahlung prekäre Akkordarbeit zu leisten hatte, bei der sie ständig mit belastenden Dingen konfrontiert war. Als sie diesen Job verlor und sich um einen neuen bewarb, musste sie auch noch eine Bewerbungsprozedur über sich ergehen lassen, in deren Verlauf sie von einer KI bewertet wurde, die auf der Grundlage von Daten zahlreicher Menschen mit ähnlichem Schicksal trainiert worden war. Zwar sind an solchen Prozessen immer noch Menschen beteiligt, aber sie spielen eine immer geringere Rolle. Gewöhnlich unterwerfen sie sich den Empfehlungen eines undurchschaubaren Systems, dessen Autorität Phil in unserem Beispiel fraglos akzeptiert und das Angela nicht anfechten kann. Dieser einschneidende Wandel stellt nicht nur eine Fortsetzung uralter kolonialer Ungleichheiten dar, er offenbart auch die neuen zivilisatorischen Narrative, die den Datenraub legitimieren sollen, wo immer er stattfindet.
Dass die Zivilisation durch immer mehr Daten vorankommt, ist eine moderne Version der Geschichte von des Kaisers neuen Kleidern: inhaltsleer, aber in der Praxis erstaunlich effektiv.