Einsame Daten-Abenteurer

Aus einem gewissen Blickwinkel betrachtet ist die Geschichte von Big Tech im Grunde die Geschichte des Datenkolonialismus. Die Hauptakteure sind in der Regel große Unternehmen (Konzerne, Regierungen), aber wie beim historischen Kolonialismus spielen auch hier einzelne Abenteurer eine bedeutende Rolle, die sich als Eroberer und Konquistadoren an dem beteiligten, was Susan Cahill den »Surveillance Frontierism«, den Wilden Westen des Überwachungsstaats, genannt hat.[1]

Ein beredtes Beispiel dafür war, als sich im Mai 2022 zwei mächtige Männer die Hände zu einem Abkommen reichten, von dem sie sich große Vorteile versprachen. Der eine war Brasiliens damaliger Präsident Jair Bolsonaro, der andere Elon Musk, CEO von Tesla und SpaceX und inzwischen Eigentümer

Wir haben einen weiteren dieser Abenteurer getroffen: Den Australier Hoan Ton-That, den Kopf hinter Clearview AI, dessen Gesichtserkennungs-App im Januar 2020 für Schlagzeilen sorgte.

Rufen wir uns das Grundrezept dieser App ins Gedächtnis: Zuerst werden Milliarden von Bildern von Facebook, YouTube, Venmo und aus jeder sonstigen erdenklichen Quelle zusammengeklaubt und mit hochentwickelter KI verarbeitet, um sie so gut es geht voneinander zu unterscheiden. Die daraus resultierenden Metadaten werden dann verwendet, um irgendeinen Entscheidungsprozess zu unterstützen, zum Beispiel den einer Organisation, die wissen möchte, ob ein Gesicht, das auf einem Foto halb verdeckt in einem ungünstigen Winkel zu sehen ist, mit dem auf einem Facebook-Post identisch ist. Wenn man dieses Rezept an Strafverfolgungsbehörden in den USA und anderswo lizenziert, hat man ein Werkzeug, von dem die Justiz nur träumen kann. Nichts spricht dafür, dass Facebook, YouTube oder andere Plattformen diese Nutzung Milliarden lächelnder

Ton-That sah überhaupt nichts Falsches an dem, was er tat. Als unternehmungslustiger Mensch, »mit dem Internet aufgewachsen«, wie er von sich sagt, wiederholte Ton-That im Grunde nur, was Mark Zuckerberg in kleinerem Maßstab als Harvard-Student getan hatte, als er ohne eine Erlaubnis einzuholen die Porträts seiner Kommilitoninnen für FaceMash, den Vorläufer von Facebook, herunterlud.[3] Ein moralisches Problem sahen sie beide nicht. Für Ton-That war es schlicht »die beste Nutzungsmöglichkeit der Technologie«.[4] Dabei handelten Ton-That (und Zuckerberg) in klassisch kolonialistischer Manier: sich einfach etwas unter den Nagel reißen, weil es nun einmal da ist und darauf zu warten scheint, dass es sich jemand nimmt.

Lassen wir einmal die von der Huffington Post aufgedeckten Verbindungen – um es höflich auszudrücken – des Personals von Clearview AI (und sogar Ton-Thats eigenen sozialen Netzwerken) zu rechtsextremen Aktivisten in den USA beiseite.[5] Und zumindest für den Moment wollen wir auch nicht weiter die erschreckenden Folgen betrachten, die Ton-Thats Techniken für die persönliche Freiheit haben. Konzentrieren wir uns stattdessen auf den grundsätzlicheren Punkt, dass Ton-That im Grunde nichts anderes tut, als die Kerntechniken des Datenkolonialismus anzuwenden: Zuerst erobert man ein Datengebiet, bearbeitet es und generiert neue Datenprodukte, die man vollständig kontrolliert und anschließend verkauft, ohne sich um mögliche Folgen zu kümmern. Oder mit anderen Worten: EXplorieren, EXpandieren, EXtrahieren und EXterminieren.

Eines der Patente von Palantir beschreibt einen ganz ähnlichen Vorgang: Eine Porträtaufnahme auf einem Smartphone wird an einen Server gesendet, der die Person durch Abgleich

Es gibt jedoch keinerlei Beweise für Verbindungen zwischen Palantir und Ton-Thats Unternehmen. Aber wären die nötig? Die Idee besitzt Eigendynamik.

Clearview offerierte der Polizei eine kostenlose dreißigtägige Testversion seines Tools. Rasch erkannten die Ordnungshüter, dass das Gesichtserkennungsprogramm von Clearview auf eine viel größere Datenbank zurückgreift und über einen viel flexibleren Algorithmus verfügt als beispielsweise das Programm des Staates Florida. Schließlich hatte sich Ton-That das riesige Datenterritorium von Facebook, YouTube und Co. zunutze gemacht. Dabei musste sich Clearview nicht einmal groß darum kümmern, genaue Ergebnisse zu liefern, es genügte, dass sie eine brauchbare Handhabe für Strafverfolgungsentscheidungen darstellten. Clearview versprach im Jahr 2020 nicht mehr, als mindestens 75 Prozent der tatsächlichen Übereinstimmung zu finden.[7] Das genügte vollauf, um Clearview weltweit bekannt zu machen.

Die ungenehmigte Nutzung (man könnte auch von »Piraterie« sprechen) eines Teils der Beute des Datenkolonialismus durch Clearview wurde mancherorts mit Schrecken zur Kenntnis genommen. Es kam zu Klagen gegen den Datenverkauf an den privaten Sektor (Datenschutzbehörden in Griechenland und Großbritannien erwirkten Geldstrafen), der US-Bundesstaat Illinois verhängte ein Verbot. Doch diese negativen

Doch die Entwicklung vom einsamen Abenteurer zum Leiter militärischer Operationen vollzieht sich im Zeitalter von Big Data genauso wenig zufällig wie bei der Eroberung Amerikas oder Indiens. Sicher, der geopolitische Kontext ist heute ein ganz anderer. Wir befinden uns mitten in einem neuen Kalten Krieg zwischen dem Westen, China und Russland. Aber das Wichtigste ist die territoriale Ausdehnung.

Manchmal scheinen die einsamen Abenteurer des Datenkolonialismus nur die besten Absichten zu hegen. Nehmen wir Alex »Sandy« Pentland, einen MIT-Professor, der 2011 von Tim O’Reilly, dem Schöpfer des Begriffs »Web 2.0«, zu den sieben mächtigsten Datenwissenschaftlern der Welt gezählt wurde.

Pentlands Interessen gehen über die Datenwissenschaft im engeren Sinne hinaus, er hat praktisch einen ganz neuen Zweig der Sozialwissenschaft entwickelt, um eine Grundlage für seine besondere Art der Datenanalyse zu schaffen. In seinem 2015 erschienenen Buch Social Physics schlägt Pentland vor, die

Und was ist das Ziel dieser massiven Datenverarbeitung? Die Entwicklung einer neuen Art von gesellschaftlichem Wissen, ausgehend vom Makro-Verständnis der Funktionsweise und Replikation sozialer Netzwerke. Pentland hat diesen Ansatz auch auf Organisationen angewandt. Seine sogenannte »sociometric badge«, eine Art »Soziometer«, ein tragbares, elektronisches Gerät, das es ermöglicht, soziale Interaktionen zu quantifizieren und damit die »Kultur« einer Organisation zu messen, wurde unter anderem von McDonald’s aufgegriffen. Er hat diese Idee auch auf gesellschaftliche Interaktionen im Allgemeinen und sogar auf ganze Länder angewandt (sein Programm »Data for Development« sammelte mobile und demographische Daten für die gesamte Elfenbeinküste).[10] Zu Pentlands Unternehmen gehören Endor.com, eine Blockchain-basierte Plattform, die von sich behauptet, KI-Prognosen, also die Art von Vorhersagemodellen, die derzeit bei Unternehmen sehr gefragt sind, allgemein verfügbar zu machen,[11] und Cogito, ein führendes Unternehmen im Bereich KI-gesteuerter Stimmanalysen von Personen.[12] Zwar hat sich Pentland in seinen jüngsten Arbeiten darauf konzentriert, wie Datenkapital in den Dienst von Gemeinschaften gestellt werden kann,[13] es bleibt jedoch

Man kann sich über die Vorzüge von Pentlands unternehmerischen Initiativen streiten, jedenfalls zeigen sie noch deutlicher als die von Ton-That Züge einer neuen Wissenschaft für das Zeitalter des Datenkolonialismus. So wie Botanik und Zoologie einst entstanden, als die Kolonialmächte lernten, ihre neuen Ländereien zu beherrschen, so haben wir heute die »soziale Physik«, die Wissenschaft, die den Anspruch erhebt, die Phänomene des riesigen Archipels der Datenkolonie zu kartieren.