Die Geographie der Verantwortlichen für den Kolonialismus war schon immer kompliziert. Schließlich hatte die einheimische Bevölkerung von Kolonialmächten wie Großbritannien große Vorteile durch den Kolonialismus, auch wenn sie die Realität dessen, was in diesen »fernen« Kolonien geschah, wenig zu betreffen schien. Der Kolonialismus förderte ein massives Wirtschaftswachstum in der Heimat, wie gerade in jüngerer Zeit Kampagnen zur Bewusstmachung der massiven und langanhaltenden wirtschaftlichen Abhängigkeit Großbritanniens vom Sklavenhandel in Erinnerung gerufen haben.[1] Auch heute gibt es noch Ausbeutung aus der Ferne, die mit dem Datenkolonialismus verbunden ist: Arbeiter im Globalen Süden, die die unterbezahlte manuelle Arbeit der Vorbereitung des Trainingsmaterials von KI-Modellen erledigen oder die Rohstoffe für unsere elektronischen Geräte abbauen. Aber die Geographie des Datenkolonialismus unterscheidet sich stark von der des historischen Kolonialismus, findet der neue Kolonialismus sein Zielobjekt doch überall: das menschliche Leben, sofern es sich freiwillig – oder auch unfreiwillig – auf Datenbeziehungen einlässt.
Wie der Datenkolonialismus die Menschen tangiert, hängt davon ab, wo sie sich befinden, welchen sozialen Status sie haben, welcher Art von Arbeit sie nachgehen und in welcher Beziehung zur langen Geschichte der Macht, insbesondere der des Kolonialismus, sie stehen. Wer zu den Eliten aus der Wirtschaft oder anderen Bereichen der Gesellschaft gehört, mag sich vielleicht darüber empören, dass sein Foto in einer Clearview-Datenbank auftaucht und seine Plattform- und Browsing-Daten wahrscheinlich zu einem Profil verarbeitet werden, aber im Endergebnis wird die Datenextraktion ihre Position in der Elite nur bestätigen. Wer jedoch zu den zahlreichen wirtschaftlich Benachteiligten gehört, ob nun im Globalen Süden oder im Globalen Norden, wird bereits aus erster Hand erfahren haben, wie die Macht der ständigen Datenextraktion zur Bewertung der eigenen Person eingesetzt wird. Wer immer einen Kredit oder Sozialleistungen beantragt oder dessen einzige Arbeitsmöglichkeit von der Bereitschaft abhängt, sich der Überwachung zu unterwerfen, sieht sich mit dieser Macht konfrontiert.
Hinter all dem verbirgt sich eine unbestreitbare Wahrheit. Wir alle, wo auch immer wir leben, tragen als Nutzer der Plattformen und Apps, die zunehmend unseren Alltag bestimmen, dazu bei, dass deren Regime der Datenextraktion aufrechterhalten wird. Unsere fraglose Duldung ihrer Nutzungsbedingungen ist ein wesentliches Element des Deals mit dem Datenkolonialismus.
Die Frage wird den Nutzern oft in rein individualistischen Begriffen gestellt: Meine Daten sind gefährdet oder nicht, die Übertragbarkeit meiner Fotos zwischen Plattformen muss geschützt werden. Dies lässt den Datenkolonialismus wie einen Kompromiss erscheinen, den jeder von uns individuell für sich selbst abwägen kann. Aber das ist in doppelter Hinsicht irreführend. Erstens: Wie wir in Kapitel 3 festgestellt haben, ergeben sich die Vorteile für die Unternehmen nicht daraus, dass wir als Einzelne unsere Daten preisgeben, sondern aus der Tatsache, dass wir alle dies tun, und aus den daraus resultierenden Beziehungen zwischen den Daten.[2] Zweitens: Der Wandel der Machtverhältnisse rührt daher, dass wir alle gleichzeitig unsere Gewohnheiten ändern, weshalb der Datenkolonialismus keine bloß individuelle Angelegenheit sein kann. Unsere sozialen Beziehungen werden zunehmend davon geprägt, wie Daten aus unserem gemeinsamen Leben extrahiert werden, was Teil der neu entstehenden Gesellschaftsordnung des Datenkolonialismus ist.
Unsere Teilnahme an dieser neuen Gesellschaftsordnung macht uns jedoch noch lange nicht zu Mitgliedern der Klasse der Datenkolonialisten. Dieser Status ist allein denjenigen vorbehalten, die von der Ausbeutung der Datenbestände profitieren, und der Zugang zu dieser Klasse hängt stark von Ungleichheiten ab, die ein Erbe des historischen Kolonialismus sind. Auch aus den Reihen der alten Eliten haben es nicht alle geschafft, sich ihren Platz in der Klasse der Datenkolonialisten zu sichern (jedenfalls deutet nichts darauf hin, dass beispielsweise die Eliten der Grundbesitzer in den USA oder im Vereinigten Königreich mit größerer Wahrscheinlichkeit Datenwissenschaftler oder auch Investoren von Big Tech werden), aber sie haben mit Sicherheit dazu beigetragen, ein ungerechtes System zu schaffen, das die neuen Kolonialistenklassen nun mit modernen Mitteln ausnutzen.
Wir anderen – die Konsumenten digitaler Plattformen und Arbeitnehmer in der datengeprägten Welt – müssen ständig unsere Einwilligung zur Ordnung des Datenkolonialismus bestätigen. Von uns wird verlangt, dass wir vernetzt sind: Wir müssen Apps installieren, Plattformen beitreten, ständig Updates durchführen. Die Dateneliten brauchen uns und unsere Geräte, um ohne Unterbrechung an die Systeme der Datenextraktion angeschlossen zu bleiben.
Erst kürzlich wurde im politischen Kontext vorgeführt, wie Menschen in aller Welt in Datenbeziehungen gelockt werden.[3] Im August 2022, im Vorfeld des indischen Unabhängigkeitstages, wurden die Anhänger der regierenden Bharatiya Janata Party (BJP, »Indische Volkspartei«) von ihrem Vorsitzenden, Premierminister Narendra Modi, aufgefordert, vor ihrem Haus die Nationalflagge aufzuziehen und ein Foto davon auf einer eigens eingerichteten Website zu veröffentlichen. Die Kampagne trug den Titel Har Ghar Tiranga – Trikolore vor jedem Haus. Digitalrechtsaktivisten waren besorgt, dass es nicht allein um Nationalstolz ging. Schließlich sollte jedes Bild mit einem Geotag versehen werden, das den Standort des Hauses des Unterstützers mit seiner Telefonnummer und allen anderen für das Hochladen des Fotos erforderlichen Daten verknüpfte. Sechzig Millionen Inderinnen und Inder folgten dem Aufruf und wurden mit einer Urkunde des Kulturministeriums belohnt. Zu ihnen gehörte auch Mamta, eine vierundfünfzigjährige Lehrerin aus Uttar Pradesh: »Ich fühle mich so stolz, als hätte ich einen Krieg gewonnen.« Auf die Frage, ob sie keine Probleme für ihre Privatsphäre sehe, antwortete sie, sich darüber keine großen Gedanken gemacht zu haben.[4]
Welche Ideen, welche Phantasien müssen wir pflegen und entwickeln, um den Verlockungen der neuen Klasse der Datenkolonialisten zu widerstehen?