Wir befinden uns heute mitten in einer Revolution unseres Verständnisses der Welt, zu der dieses Buch zum Thema Daten nur ein kleiner Beitrag ist. Diese Revolution besteht darin, zu begreifen, dass das gesamte Wissen, das wir in den letzten fünf Jahrhunderten über die Welt erlangt zu haben glauben, durch den kolonialen Landraub und seine Folgen geprägt ist.
Dies ist, gelinde gesagt, eine Herausforderung für die gängige Denkweise über Technologie, KI und überhaupt alles. Es ist nicht so, dass die grundlegenden Fakten des Kolonialismus jemals aus dem Blickfeld verschwunden wären. Im Gegenteil: In Kolonisatoren-Ländern wie dem Vereinigten Königreich wurden sie stets als Triumph der positiven Mission dieser Nationen für die Welt gesehen.
Die heute dringend erforderliche Revolution des Denkens verlangt jedoch, zwei Dinge anzuerkennen. Erstens, dass das, was man sich als »interne« Geschichte der europäischen und nordamerikanischen Gesellschaften vorgestellt hat, immer von einer größeren globalen Geschichte der brutalen Ausbeutung der Kolonialgebiete geprägt war. Diese wurde von den Kolonialstaaten als »externes« Element ihrer eigenen Geschichte angesehen, als etwas, das in weiter Ferne lag und ohne Bedeutung für ihre eigene Identität war. Und zweitens war die offensichtlich privilegierte Rolle Europas und Nordamerikas in den letzten fünf Jahrhunderten der Weltgeschichte, einschließlich der angeblich universellen Geschichte des Westens, das Ergebnis der kolonialistischen Ausbeutung, nicht deren Rechtfertigung.[1] Unsere westliche Sicht der Vergangenheit resultiert aus der Macht des Westens, darüber zu entscheiden, wie die Weltgeschichte erzählt wird, eine Macht, die sich direkt aus der kolonialen Vorherrschaft ergab, und die dafür gesorgt hat, dass andere Geschichten über die Bedeutung des Kolonialismus fast vollständig in Vergessenheit geraten sind. Während diese historische Auslöschung nun im Globalen Norden unhaltbar wird, stellt sich gleichzeitig heraus, dass im Globalen Süden die alternativen Geschichten niemals ganz in Vergessenheit geraten sind.
Unter den Bedingungen der Geschichtsauslöschung (eine unmittelbare Folge der Machtungleichheiten des Kolonialismus) erhalten die Vorstellungen von Geschichte und die Erinnerung an sie eine andere, unmittelbar praktische Bedeutung. Drei Autoren aus drei völlig unterschiedlichen Bereichen – der Wirtschaftsgeschichte, der Gesellschaftstheorie und der Ideengeschichte – können uns helfen, dies zu verdeutlichen.
Eric Williams wurde 1911 auf der Karibikinsel Trinidad geboren, damals eine britische Kolonie. Er gründete 1956 eine Partei und wurde als deren Vorsitzender 1962 der erste Premierminister des Landes, als Trinidad und Tobago seine Unabhängigkeit erlangte. Seine prägende Rolle für die politische Entwicklung des Landes sicherte ihm den Status des »Vaters der Nation«. Er war also in jeder Hinsicht ein erfolgreicher Kämpfer gegen den Kolonialismus. Nun, da die Unabhängigkeitskämpfe der ehemaligen Kolonien weitgehend abgeschlossen sind, wirkt William durch seine Ideen als politische Kraft fort.
Williams promovierte 1938 in Oxford und veröffentlichte 1944 ein Buch mit dem Titel Capitalism and Slavery, das die gängige Geschichtsdarstellung der industriellen Revolution Großbritanniens – als deren Helden gewöhnlich britische Innovatoren gelten, während die kolossalen kolonialen Reichtümer, die ihre Grundlage schufen, weitgehend unerwähnt blieben – völlig auf den Kopf stellte.
Auf der Grundlage umfangreicher Dokumentationen zeigte Williams, dass dieses gängige Narrativ ein dem eigenen Selbstwert dienender Mythos war, der wenig mit den Realitäten der englischen Wirtschaft des 18. Jahrhunderts zu tun hatte. Man machte es sich einfach und unterschlug kurzerhand die enormen Vorteile, die England aus dem berüchtigten Dreieckshandel zog, der den Verkauf englischer Industriegüter nach Afrika mit dem Transport von Sklaven in die englischen Kolonien und der anschließenden Lieferung von landwirtschaftlichen Produkten (Baumwolle, Zucker und Tabak) zurück nach England verband. Williams zitiert einen englischen Wirtschaftskommentator jener Zeit, der mit Stolz verkündete, das British Empire sei »eine großartige Kombination aus Amerikahandel mit einer Seemacht, errichtet auf afrikanischem Fundament«[2].
Williams stellte auch die Behauptung der Kolonisatoren in Frage, die Afrikaner seien aufgrund ihrer angeblich besonderen körperlichen Eignung für die zermürbende Arbeit auf den Plantagen versklavt worden. Der Autor machte einen viel einfacheren Grund für ihre Versklavung aus: der wirtschaftliche Vorteil billiger Arbeitskräfte. Zu den Vorbedingungen gehörte, dass die indigene Bevölkerung der Karibik durch die Folgen der Kolonialisierung schon weitgehend dezimiert worden war. Sobald dann Sklaven als Ersatzarbeitskräfte aus Afrika importiert wurden, waren sie für die dortigen Plantagenbesitzer »einfach da«, um ausgebeutet zu werden – ein Muster, das sich in der Kolonie, die später zu den Vereinigten Staaten wurde, wiederholte. Williams zufolge waren Afrikaner also nicht aufgrund körperlicher Eigenschaften für die Sklaverei prädisponiert; sie waren lediglich die billigste verfügbare Quelle für die Massen an Arbeitskräften, die die hochprofitable Plantagenwirtschaft erst ermöglichten.[3]
Damit war Williams den heutigen Debatten über die Beziehungen zwischen Kapitalismus und Kolonialismus um Jahrzehnte voraus. Er kratzte an der Fiktion, die industrielle Revolution Englands sei auf die wundersame Innovationskraft weißer englischer Unternehmer zurückzuführen, während die Hauptkomponenten rohe Gewalt und wirtschaftliche Aspekte waren, die sich insbesondere aus der Dynamik des Kolonialismus ergaben. Williams’ Berechnungen des wirtschaftlichen Beitrags der Sklavenarbeit im England des 18. Jahrhunderts wurden kontrovers diskutiert, dennoch sind seine Thesen eine Herausforderung für die Wirtschaftsgeschichte insgesamt wie auch für die Geschichte des Kolonialismus-Kapitalismus. Seine Botschaft: Es gibt keinen Kapitalismus ohne Kolonialismus oder ohne die Unterwerfung von Arbeitskräften, zu der auch die Sklaverei gehört.
Die Entlarvung des Mythos vom Kapitalismus als einer rein »internen« westlichen Entwicklung dauerte noch länger, da sie eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Sklavenplantagen der USA im 19. Jahrhundert erforderte. Bereits in den 1930er Jahren hatte der Schwarze Historiker und Soziologe W.E.B. Du Bois die zersetzenden Folgen dieser Plantagen für die amerikanische Gesellschaft analysiert, doch seine Arbeit wurde von den etablierten Wissenschaftlern fast völlig ignoriert. Erst in den beiden letzten Jahrzehnten haben einige Historiker die zentrale Rolle herausgearbeitet, die Kolonialismus und Sklaverei für das Wachstum der Wirtschaft der USA und des Vereinigten Königreichs im 19. Jahrhundert und sogar für die Entstehung eines globalen Wirtschaftssystems spielten. Das Ergebnis ist ein neues Verständnis des Kapitalismus, der nie vom Kolonialismus getrennt war, eines Kapitalismus, der nach Ansicht des Historikers Sven Beckert, der sich ausführlich mit der Geschichte der Baumwollplantagen befasst hat, so sehr auf »den Einsatz von Gewalt und körperlichem Zwang« gegründet war, dass er ihn gar als einen »Kriegskapitalismus« bezeichnet hat.[4]
Warum fällt es den westlichen Gesellschaften so schwer, anzuerkennen, wie stark der Kapitalismus bis heute in den Kolonialismus verstrickt und von ihm abhängig ist? Unter der Staatsführung von Eric Williams wurde Trinidad 1976 eine Republik; bis dahin hatte das Land, obwohl schon seit 1962 unabhängig, formell noch der britischen Krone unterstanden. Selbst heutzutage, da schon fast ein Viertel des 21. Jahrhunderts verstrichen ist, fällt es uns immer noch schwer, solche Tatsachen zu begreifen. Was, wenn dieser blinde Fleck selbst eine der bis heute nicht überwundenen kulturellen Folgen des Kolonialismus ist? Wenn dem so ist, dann muss dem Kolonialismus etwas Beständigeres zugrunde liegen als nur seine politischen Strukturen. Aber was genau?
Um diese Frage zu beantworten, wollen wir uns dem peruanischen Soziologen Aníbal Quijano und seinem Konzept der Kolonialität zuwenden. Vor mehr als dreißig Jahren versuchte Quijano zu verstehen, was die praktische Seite des Kolonialismus (die Eroberung des Territoriums, die Produktionsstruktur, Arbeit mit niedrigem Status in den kolonialen »Peripherien« und Arbeit mit höherem Status in den kolonialen »Zentren«) mit den Denkweisen verbindet, die mit dem Kolonialismus einhergingen, vor allem dem Rassismus. Erinnern wir uns daran, was Sepúlveda Las Casas entgegenhielt, dass nämlich die kolonisierten Völker Amerikas den Europäern unterlegene Barbaren seien, eine niedrigere Form der Menschheit, dazu geschaffen, erobert und beherrscht zu werden.
Im Unterschied zu Eric Williams’ rein wirtschaftlicher Erklärung für die Tatsache, dass ausgerechnet afrikanische Menschen versklavt wurden, argumentierte Quijano, das alltägliche Funktionieren des Kolonialismus habe von Anfang an eine besondere Art der Vorstellung von der Menschheit und ihren Wissenskapazitäten erfordert. Die Art und Weise, wie im Kolonialismus Macht von bestimmten Ethnien über andere ausgeübt wurde, war für Quijano keinesfalls eine Fehlentwicklung des modernen Weltverständnisses, sie resultierte direkt aus ihm. Es war die zersetzende Idee, die den Kolonialismus zu mehr als nur einer endlosen Abfolge sinnloser Gewalt machte. Mit dieser neuen »zivilisatorischen« Geschichte von minderwertigen »Rassen«, denen die Kolonisierung vom Schicksal zugedacht sei, versuchte sich der Kolonialismus als Projekt Schwung und Legitimität zu sichern. Quijano sprach in diesem Zusammenhang von der »Kolonialität der Macht«.
Die Kolonialität der Macht fasst zwei zentrale Ideen der Kolonisatoren zusammen. Erstens, dass es einen einzigen Weg gibt, die Welt rational zu organisieren, was die besondere Art der Wissensproduktion erfordert, die wir als »westliche Wissenschaft« kennen. Zweitens, dass diese Form der Wissensproduktion eine Hierarchie von »Rassen« begründet (auch wenn man sich zunehmend scheute, dies ausdrücklich zu sagen). Diese Hierarchie unterscheidet zwischen Menschen, die der Rationalität näher stehen (angeblich die Weißen), und denjenigen, die ihr fern sind (angeblich die Nichtweißen). Die »minderwertigen« Ethnien (z.B. indigene Gruppen) wurden in dieser Perspektive zu Objekten des Wissens, das die überwiegend aus Europa und Nordamerika stammenden Männer der Wissenschaft produzierten.
Quijano geht es vor allem darum, diese Argumentation zu entkräften. Wenn wir jedoch ehrlich sind, ist sie nicht nur eng mit der vielschichtigen Dynamik ethnischer Zugehörigkeit unseres heutigen Lebens verwoben, sondern ist auch einer der Gründe, warum viele der Ungerechtigkeiten algorithmischer Entscheidungsfindung, die im ersten Kapitel erörtert wurden, als so selbstverständlich und unvermeidlich betrachtet werden. Und obwohl die Mängel von Big Tech und KI immer offensichtlicher werden, übt auch deshalb ihre Sprache heute einen so großen Einfluss auf uns aus.
Die heutigen Praktiken von Big Data und technologiegestützter Entscheidungsfindung scheinen vordergründig nichts mit Herkunft, Geschlecht und Klasse zu tun zu haben. Doch was, wenn die Ära von Big Data mit ihren neuen asymmetrischen Machtverhältnissen ein neues hierarchisches Denken über Menschen hervorbringt?
Ein wichtiger Leitgedanke hierzu ergibt sich aus einigen Überlegungen Quijanos darüber, wie man sich der Kolonialität widersetzen kann. Nicht dadurch, so sagt er, dass man Wissen und Rationalität generell ablehnt, so als hätten sie durch ihre exklusive Verbindung mit dem Westen für immer Schaden genommen. Der beste Weg, sich der Kolonialität der Macht zu widersetzen, besteht darin, eine bessere, nicht hierarchische Vorstellung von Wissen und Rationalität zu entwickeln, denn es gibt keinen Weg, sich auf die Welt zu beziehen, der nicht auf irgendeiner Vorstellung von Wissen, auf irgendeiner Vorstellung von Rationalität aufbaut.
Wie könnte das aussehen? Quijano schlägt eine integrative Vision des Wissens vor, die darauf abzielt, wichtige Unterschiede in der Sichtweise verschiedener Gruppen von Menschen auf die Welt einzubeziehen, anstatt sie auszuschließen. Wie Quijano darlegt, wird Wissen in den meisten Kulturen außerhalb des Westens bereits als etwas verstanden, das auf einer Vielfalt von Perspektiven aufbaut, nicht auf deren Verleugnung. Wenn man Kultur so betrachtet, qualifiziert sich eine Verständnisweise der Welt eher durch ihre Inklusivität und weniger durch ihre persönliche Perspektive als echtes Wissen.[5]
Zwei Dinge sind hier bemerkenswert. Erstens hat diese scheinbar abstrakte Darstellung von Wissen viel mit indigenen Vorstellungen darüber gemein, wie Wissen in Gemeinschaften produziert wird – man erinnere sich an das, was Leanne Simpson dazu gesagt hat. Andere Theoretiker der Kolonialität wie der Anthropologe Ramón Grosfoguel haben Quijano dafür kritisiert, die Stimmen des indigenen Denkens, die sein Werk durchziehen, nicht ausdrücklich anerkannt zu haben.[6]
Zweitens hat diese inklusivere Sichtweise darauf, wie echtes Wissen produziert wird, enorme Auswirkungen in einer Welt wie der unseren, in der die Praktiken von Big Tech und Big Data eine grundsätzlich andere, institutionell gesteuerte und hierarchische Vorstellung von Wissen bieten. Dabei geht es nicht nur darum, dass den Menschen das technische Fachwissen fehlt, um die schwer zugängliche Sprache zu verstehen, in der die meisten Erklärungen zur Funktionsweise von Algorithmen abgefasst sind. Stellen Sie sich vor, Sie wollten hinterfragen, wie der Algorithmus von Facebook funktioniert, wie Amazon oder TikTok Ihre Präferenzen kategorisieren oder wie die Algorithmen eines Sozialsystems arbeiten. Sie werden große Schwierigkeiten haben, Antworten zu erhalten, denn selbst wenn die Algorithmen offen zugänglich und verständlich wären, jeder, der ihre Rationalität in Zweifel zöge, würde als naiv und inkompetent belächelt. Das Wissen von Big Data gilt als das Wissen von Institutionen, nicht von Menschen, und steht somit in der Tradition der westlichen kolonialistischen Wissenschaft.
Ist dies der Fall, bedeutet das für den Kampf gegen den Datenkolonialismus, die Sichtweise des menschlichen Wissens, die fünf Jahrhunderte lang den Kolonialismus prägte, zu hinterfragen und stattdessen auf die fortbestehenden Verbindungen zwischen echtem Wissen und lebendigen Gemeinschaften handelnder Menschen zu verweisen. Dieser Gedanke wird von großer Bedeutung sein, wenn wir uns in Kapitel 6 konkret dem praktischen Widerstand zuwenden.
Sylvia Wynter gehört zu den Denkerinnen, die uns dabei helfen, unser Verständnis von Wissen, Wissenschaft und Rationalität zu korrigieren. Die 1928 geborene Schriftstellerin und Philosophin, aufgewachsen auf Jamaika, hatte ab 1977 einen Lehrstuhl für Spanisch an der Stanford University inne. Sie widmete sich in ihrer Arbeit nicht nur der Definition von »Kolonialität«, wie es auch Quijano getan hatte, sondern versuchte, dieses Konzept auszuhebeln und zu überwinden. Ganz wie Quijano und Williams war es ihr ein Anliegen, der vorherrschenden westlichen Geschichtsauffassung entgegenzutreten, die von den Siegern des Kolonialkampfes geprägt war.
Wynter sieht keinen Sinn darin, Wissen und Rationalität aufzugeben, nur weil diese in ihren westlichen Ausprägungen durch die Geschichte des Kolonialismus in Misskredit geraten sind. Sie setzt vielmehr darauf, einer hierarchischen und rassistischen Sichtweise des Wissens eine inklusivere entgegenzusetzen.[7] Daher käme es Wynter sicherlich nie in den Sinn, die Nutzung von Daten grundsätzlich zu verwerfen; ihr Ansatz bestünde darin, den Umgang mit ihnen auf Grundlage einer inklusiveren Vorstellung davon, wie Wissen produziert wird, neu zu denken.
Mit anderen Worten: Das kritische Denken kann sich nicht damit begnügen, eine unbefriedigende Sichtweise des menschlichen Wissens zu verwerfen, es muss sie ersetzen. In diesem Sinne brauchen wir einen Prozess des Nachdenkens über Daten, der ein breiteres Spektrum von Menschen und Perspektiven einschließt. Warum sollten wir einen Umgang mit Daten pflegen, der auf die eine oder andere Weise das Erbe kolonialen und rassistischen Denkens reproduziert? Solche Gedanken haben innerhalb der Datenwissenschaft eine kritische Bewegung entstehen lassen, die unter anderem von den Schriften der Informationswissenschaftlerin Safiya Noble und der Soziologin Ruha Benjamin inspiriert ist.
Aus ideengeschichtlicher Sicht am interessantesten ist Wynters Versuch, die Ereignisse von 1492 – dem Jahr der »Entdeckung« Amerikas durch Christoph Kolumbus – und die darauf folgenden jahrzehntelangen Debatten am spanischen Hof neu zu interpretieren. Wie Wynter darlegt, war die Entdeckung eines den Europäern bis dato unbekannten Kontinents eine große Herausforderung für die Autorität der Kirche – und das nur zwei Jahrzehnte, bevor die Himmelsbeobachtungen von Kopernikus das bis dahin geltende Verständnis von der Rolle der Erde im Kosmos in Frage stellten –, abgesehen davon, dass sie die bereits erwähnte Debatte zwischen Las Casas und Sepúlveda zur Folge hatte. Für Wynter verkörpert vor allem Las Casas’ Kontrahent Sepúlveda, der das Privileg des rationalen westlichen Menschen verteidigte, sich die Territorien »minderwertiger« Wesen anzueignen, etwas radikal Neues: die Geburt einer säkularen, zugleich aber zutiefst rassistischen Vision der Welt. Sepúlvedas Ideen setzten sich am Ende durch, und die Fortführung seiner Argumentationslinie bestimmt nach wie vor das wirkmächtige Verständnis von Wissen und Menschheit, dem wir im Diskurs um Big Data bis heute begegnen.[8]
Wynters Vorschlag, die Geschichte neu zu lesen, bedeutet keine Rückkehr zu dem Weltbild, das 1492 untergraben wurde. Es bedeutet, die historische Krise des geschlossenen Weltbilds, die im frühen 16. Jahrhundert aufgebrochen ist, ernst zu nehmen und nun, fünf Jahrhunderte später, neue und bessere Lösungen für sie zu finden. Das erfordert einmal mehr ein inklusives anstelle eines hierarchischen Menschenbilds.[9] Wenn wir Wynter folgen wollen, kann unser Ziel nicht sein, das Nachdenken darüber aufzugeben, was Dinge wie Künstliche Intelligenz für das menschliche Wissen bedeuten, sondern nach Wegen zu suchen, KI und Big Data in einer Weise neu zu denken, die wirklich über die kolonialen, sie bis dahin prägenden Denkweisen hinausgeht.