Der Widerstand gegen den Kolonialismus ist mit dem Kolonialismus selbst entstanden. Dieser Widerstand hat bereits eine fünfhundertjährige Geschichte, auch wenn sie von den Geschichtsbüchern wie von den Medien häufig übergangen wird.

Es ist eine verwickelte Geschichte. Ja, die Kolonien wurden schließlich zu eigenständigen Nationen, aber oft erst am Ende blutiger Auseinandersetzungen, und nicht immer profitierten alle ihre Bewohner gleichermaßen von der neuen Freiheit. Es ist nicht zu leugnen, dass sich antikoloniale Befreiungsbewegungen in Machtkämpfen und Widersprüchen verstrickten oder alte Ungerechtigkeiten auf neue Weise fortsetzten. Dennoch sind aus ihrer facettenreichen Geschichte inspirierende Widerstandsaktionen hervorgegangen.

Dank dieser Bewegungen wissen wir heute, wie der Kolonialismus in Vergangenheit und Gegenwart mit Armut, Migration, sozialer und geschlechtsspezifischer Unterdrückung und sogar mit der drohenden Klimakatastrophe verflochten war und ist. Deshalb ist eine Auseinandersetzung mit dem Erbe des historischen Kolonialismus, das diesen Nationen eine große Last auf ihrem Weg in die Unabhängigkeit mitgab, eine Diskussion von globaler Tragweite, die dringend geführt werden muss. Zwar beschäftigen wir uns hier in erster Linie mit Datenextraktion, doch wir müssen verstehen, wie diese Form des Extraktivismus mit anderen verbunden ist. Dem Datenkolonialismus ohne Wenn und Aber entgegenzutreten ist ein möglicher, doch gewiss nicht der einzige Ansatzpunkt für eine Auseinandersetzung mit dem Erbe des historischen Kolonialismus der letzten fünf Jahrhunderte.

Mit anderen Worten: Wir müssen ehrlich sein und wenn nötig die Schuldigen auch benennen. Die Wissenschaftler und Programmierer, die hinter der Entwicklung dieser extraktivistischen Technologien stehen, sind sicherlich nicht ganz freizusprechen. Sie können sich nicht einfach damit herausreden, nicht vorausgesehen zu haben, wie sich ihre Weiterentwicklung dereinst auswirken würde. Will man dies dennoch gelten lassen, kann man ihre Lehrer und Schulen nicht freisprechen, die ihnen offenbar weder elementare Fähigkeiten zum kritischen Denken, noch solide ethische Grundsätze oder ein soziales Verantwortungsbewusstsein vermittelt haben. Natürlich gehen viele der Probleme, die in diesem Buch geschildert werden, auf das Konto von Konzernen und staatlichen Institutionen. Aber was ist mit den Aktionären, die verlangen, dass diese Konzerne Profite über Menschen stellen? Was ist mit den Medien, die eifrig die zivilisatorischen Narrative des Datenkolonialismus verbreiten, anstatt sie kritisch zu hinterfragen? Und was ist mit uns, den Nutzern dieser Technologien? Es ist eine Sache, ahnungslos zu sein, und eine andere, wegzuschauen, wenn wir mit den Folgen des Extraktivismus konfrontiert werden.

Ein gewisses Maß an Klarheit über die individuelle Verantwortung ist daher eine gute Grundlage, um etwas gegen das

Wie die Bürger Widerstand leisten

Bürger üben Druck auf Lokalverwaltungen aus, um den Einsatz von Überwachungssystemen und KI einzuschränken. Allein in den Vereinigten Staaten haben 17 Gemeinden Verbote gegen den Einsatz von Gesichtserkennung durch die Polizei erlassen, darunter Berkeley, Boston, New Orleans und San Francisco.[1] Dies ist ein guter Ausgangspunkt für den Widerstand gegen den Datenkolonialismus, da diese Technologie sich nicht nur als unzuverlässig erwiesen hat (insbesondere bei Gesichtern von PoC), sondern sie auch eine Bedrohung für die Privatsphäre, die Informationssicherheit und die Meinungsfreiheit darstellt.

Der Bundesstaat Kalifornien ist sogar so weit gegangen, sogenannte »vorhersagende Polizeiarbeit« (den Einsatz von KI und anderen Formen der Analyse für Prognosen über künftige kriminelle Aktivitäten) zu verbieten, und Seattle hat die strengsten Vorschriften für Überwachungstechnologien in den gesamten USA erlassen.[2] Überall auf der Welt, so zeigt der Trend, wenden sich Bürgerinnen und Bürger, die oft viel fortschrittlicher denken als offizielle Vertreter der Regierung, gegen Auswüchse von KI und Datensammelei. Ein Beispiel dafür ist das Bündnis »Reclaim Your Face«, eine europäische Bürgerinitiative, die eine strengere Regulierung der biometrischen Massenüberwachung fordert.[3]

Doch es gibt auch gegenläufige Tendenzen. In einigen der oben erwähnten US-Städte werden angesichts steigender

Es wird nicht einfach sein, solche invasiven Technologien loszuwerden. In den Niederlanden beispielsweise zwang öffentlicher Druck das Kabinett von Ministerpräsident Mark Rutte 2021 zum Rücktritt, nachdem aufgedeckt wurde, dass ein KI-System Tausende von Eltern, vor allem Migranten, fälschlicherweise verdächtigt hatte, zu Unrecht Beihilfen für Kinderbetreuung beantragt zu haben. (Rutte wurde bei den daraufhin angesetzten Neuwahlen im Amt bestätigt, musste aber schließlich im Sommer 2023 endgültig zurücktreten.) Einige niederländische Städte setzen weiterhin auf KI zur Aufdeckung unberechtigt kassierter Beihilfen für Kinderbetreuung, indem sie besonders bestimmte Stadtteile oder einzelne Gebäudekomplexe ins Visier nehmen.[6] Wenn der Datenkolonialismus Teil der gesellschaftlichen Ordnung geworden ist, wovon wir ausgehen, braucht der Widerstand dagegen einen langen Atem.

Wie sich Arbeitnehmer wehren

Vor noch nicht allzu langer Zeit hätte es kaum jemand für möglich gehalten, aber inzwischen gibt es in den USA auch im Big-Tech-Sektor Gewerkschaften: Alphabet (Google) Workers

Gesetze zum Schutz von Gig-Arbeitnehmern bleiben auch dort wichtig, wo Arbeitnehmer die Dinge selbst in die Hand nehmen und ihre eigenen Methoden entwickeln, um den Algorithmen der Plattform ein Schnippchen zu schlagen. In Indien haben Fahrer Gruppen wie die Commercial Cab Driver’s Awareness und die Telangana Gig and Platform Workers’ Union gegründet. Dies sind nur zwei von Dutzenden Chat-Gruppen,

Dennoch finden Arbeitnehmer auch in schwierigen Situationen Mittel und Wege, sich dem Datenkolonialismus zu widersetzen. Die Bewegung der obdachlosen Arbeiter in Brasilien zum Beispiel entwickelt aktiv eigene Ansätze zur Erlangung digitaler Souveränität. Für sie bedeutet dies, den Zugang zu Informations- und Kommunikationstechnik und Medienproduktionsmitteln zu demokratisieren, um »nachteilige politische

Aber auch Unternehmens- und Staatsangestellte im Globalen Norden tragen entscheidend dazu bei, die Strukturen von innen heraus zu verändern. Die Fälle von Edward Snowden und Chelsea Manning, die den globalen Überwachungsapparat der USA bloßstellten, sind vielleicht zu herausragend, um als allgemeines Beispiel zu dienen. Dennoch waren sie Inspiration für andere Whistleblower und Andersdenkende wie Frances Haugen, die die Bereitschaft von Facebook-Meta aufdeckte, den Profit über die Sicherheit der Nutzer und Nutzerinnen zu stellen, die Informatikerin Timnit Gebru von Google, deren bahnbrechende Arbeit zu den Grenzen und Fehlern von großen KI-Systemen wir in Kapitel 3 erörtert haben, oder Meredith Whittaker, ebenfalls in führender Position bei Google, die 2018 half, Proteste zu organisieren, an denen sich mehr als 20000 Google-Mitarbeiter weltweit beteiligten. Mit ihnen haben zahlreiche andere Einzelpersonen und Gruppen begonnen, ihre Stimme gegen einige der mächtigsten Unternehmen der Welt zu erheben, insbesondere gegen ihre lukrativen Verträge mit Regierungsbehörden. In einer ihrer Petitionen heißt es:

Wir sind Teil einer wachsenden Bewegung mit breiter Unterstützung in der gesamten Branche. Wir erkennen die besondere Verantwortung aller Entwickler wirkmächtiger Technologien an, stets darauf zu achten, dass ihre Arbeit nur für positive Zwecke eingesetzt wird und keinen Schaden anrichtet.[16]

Wie Aktivisten Widerstand leisten

Die extraktivistischen Praktiken der neuen Klasse der Datenkolonialisten sind weder unbemerkt noch unangefochten geblieben. Aktivisten, die sich teils in lokalen Gruppierungen, teils in finanzstarken Denkfabriken organisieren, haben den Widerstand gegen den Datenextraktivismus aufgenommen. NoTechForICE (notechforice.com) wurde von der Latinx-Gruppierung Mijente ins Leben gerufen, um auf die teils unmenschlichen und manchmal auch illegalen Methoden bei der Verfolgung von Immigranten hinzuweisen, die von der Einwanderungs- und Zollbehörde der USA (ICE) unter Nutzung der Technologien und Datendienste von Palantir, Amazon, Thomson Reuters und anderen eingesetzt werden. Die NoTechForApartheid-Bewegung (notechforapartheid.com) ist ein Projekt von MPower Change und Jewish Voices for Peace, das die Zusammenarbeit zwischen der israelischen Regierung und Unternehmen wie Google und Amazon zur Überwachung von Palästinensern publik macht. (Laut Amnesty International schaffen die israelischen Behörden durch Einsatz modernster Überwachungstechnologien eine neue »automatisierte Apartheid«).[17]

Eine Koalition aus Dutzenden von Aktivistengruppen versucht zudem, die Beteiligung des israelischen Staates an der Entwicklung von Spionagesoftware aufzudecken. Die palästinensische Boykott-, Desinvestitions- und Sanktionsbewegung

Es bilden sich auch wichtige Allianzen zwischen Initiativen, die sich gegen den Datenkolonialismus wehren, und Aktivisten im Arbeits-, Verbraucher- und Umweltschutz. Ein Beispiel ist die entstehende globale Koalition von Menschen aus Chile, Irland, den Niederlanden und anderen Ländern, die gegen den hohen Energieverbrauch von Rechenzentren und deren Beitrag zur globalen Erwärmung protestieren.[20] Ein anderes ist das Projekt Our Data Bodies, das in sozialen Brennpunkten der US-Bundesstaaten North Carolina, Michigan und Kalifornien erforscht, inwiefern sich der dort gepflegte Umgang mit Daten negativ auswirkt und versucht, Alternativen zu entwickeln.[21]

Der Widerstand indigener Gemeinschaften

Die indigene Bevölkerung versteht den Kolonialismus wie keine andere, hat sie ihn doch über Jahrhunderte direkt erlebt und ihm Widerstand entgegengebracht. Dieser Widerstand hat viele Aspekte, darunter den Kampf um die Souveränität über

Das heißt nicht, dass indigene Gemeinschaften digitale Technologien in Bausch und Bogen ablehnen, aber sie wollen sorgfältig darüber nachdenken, wie sie zur Unterstützung eigener Ziele eingesetzt oder »für den Widerstand umgewidmet werden können«, wie es die Linguistin Yásnaya Elena Aguilar Gil ausdrückt, die dem indigenen Volk der Mixe in Mexiko angehört.[22] Diese Gemeinschaften bauen ihre eigene Telefon- und Internetinfrastruktur auf (so wie sie es schon seit langem mit dem Funkverkehr tun), erstellen ihre eigenen Videostreaming-Plattformen, die Geschichten in ihren eigenen Erzählstrukturen bringen, schreiben ihre eigenen Wikipedia-Einträge und entwickeln eigene Apps und Webbrowser in ihren Sprachen.[23]

Von größter Bedeutung ist hierbei die Frage der indigenen Sprachen, auch angesichts der Tatsache, dass Schätzungen zufolge bis zum Jahr 2100 zwischen 50 und 90 Prozent der heutigen Sprachen gefährdet sein werden, sofern sie bis dahin nicht bereits ausgestorben sind.[24] Tatsächlich bietet Big Tech seine eigene »Lösung« für das Verschwinden von Sprachen, die natürlich auf Datafizierung setzt: Die Äußerungen indigener Sprecher werden digitalisiert, um Spracherkennungs-Apps zu entwickeln, die, so die Hoffnung, dazu beitragen können, diese Sprachen am Leben zu erhalten. Doch im Grunde wiederholt dies nur kolonialistische Strukturen der Abhängigkeit. Indigene Gemeinschaften wie die Maori in Aotearoa (auch bekannt als

Wir kommen hier zu einem zentralen Thema: dem Verlangen nach Autonomie. Rund um die Welt wollen immer mehr Gruppen digitale Technologien und Daten nutzen, um den Fortbestand indigener, marginalisierter, minoritärer oder ressourcenarmer Sprachen zu sichern, allerdings so, dass sie dabei die Kontrolle behalten. Überlebt ihre Sprache, überlebt auch ihre Kultur, doch das erfordert, sie sicher und zu ihren eigenen Bedingungen in der Online-Welt nutzen zu können, weshalb sie deren Technologien ebenfalls kontrollieren wollen.[27]

Der Kreis derer, die den Datenkolonialismus ablehnen, wächst und wächst. Er umfasst Kulturschaffende – Künstler, Filmemacher, Autoren, Journalisten –, Studierende und Lehrende, Politiker und Wähler sowie Aktive in gemeinnützigen Organisationen, die sich für ein Recht auf verschlüsselte Kommunikation oder das Recht auf Reparatur einsetzen. Widerstand gibt es im Großen (Boykott von Big-Tech-Plattformen) wie im Kleinen (Verweigerung der Cookie-Einwilligung beim Besuch einer Website, was anscheinend nur 0,5 Prozent der Nutzer tun).[28] Selbst das Mobiltelefon einmal ein paar Stunden aus der Hand zu legen kann ein Akt der Auflehnung sein.

Es ist leicht, sich über Influencer lustig zu machen, die ihren Followern in den sozialen Medien ankündigen, ein Wochenende lang digitalen Entzug zu üben. Tatsache ist, dass sich immer mehr Menschen von diesen ausbeuterischen Technologien verabschieden.[29] Unternehmen tun es ihnen gleich: Nicht jeder wird solche finanziellen Nachteile auf sich nehmen können wie der Geschäftsführer von Lush, der die Konten des Unternehmens bei den sozialen Medien kündigte und damit auf geschätzte 13 Millionen Dollar Einnahmen verzichtete,[30] aber er ist dennoch ein inspirierendes Vorbild.

Es gibt einfachere Formen des Widerstands. Teenager in New York gründeten einen Luddite Club und tauschten ihre Smartphones gegen Klapphandys aus oder verzichteten ganz auf sie. »Es reicht, wenig Likes für einen Post in den sozialen Medien zu bekommen, und schon verliert man das Selbstvertrauen. So etwas sollte niemand durchmachen müssen«, erklärte einer von ihnen dazu.[31]

Auch wenn solche Aktionen von Einzelnen oder kleinen