Der Widerstand gegen den Kolonialismus ist mit dem Kolonialismus selbst entstanden. Dieser Widerstand hat bereits eine fünfhundertjährige Geschichte, auch wenn sie von den Geschichtsbüchern wie von den Medien häufig übergangen wird.
Es ist eine verwickelte Geschichte. Ja, die Kolonien wurden schließlich zu eigenständigen Nationen, aber oft erst am Ende blutiger Auseinandersetzungen, und nicht immer profitierten alle ihre Bewohner gleichermaßen von der neuen Freiheit. Es ist nicht zu leugnen, dass sich antikoloniale Befreiungsbewegungen in Machtkämpfen und Widersprüchen verstrickten oder alte Ungerechtigkeiten auf neue Weise fortsetzten. Dennoch sind aus ihrer facettenreichen Geschichte inspirierende Widerstandsaktionen hervorgegangen.
Dank dieser Bewegungen wissen wir heute, wie der Kolonialismus in Vergangenheit und Gegenwart mit Armut, Migration, sozialer und geschlechtsspezifischer Unterdrückung und sogar mit der drohenden Klimakatastrophe verflochten war und ist. Deshalb ist eine Auseinandersetzung mit dem Erbe des historischen Kolonialismus, das diesen Nationen eine große Last auf ihrem Weg in die Unabhängigkeit mitgab, eine Diskussion von globaler Tragweite, die dringend geführt werden muss. Zwar beschäftigen wir uns hier in erster Linie mit Datenextraktion, doch wir müssen verstehen, wie diese Form des Extraktivismus mit anderen verbunden ist. Dem Datenkolonialismus ohne Wenn und Aber entgegenzutreten ist ein möglicher, doch gewiss nicht der einzige Ansatzpunkt für eine Auseinandersetzung mit dem Erbe des historischen Kolonialismus der letzten fünf Jahrhunderte.
Nein zum Extraktivismus zu sagen erfordert jedoch auch Ehrlichkeit gegenüber sich selbst. Wir alle, als Einzelne wie als Gruppen, sind in die neue gesellschaftliche Ordnung verwickelt, die durch neue Formen der Datenextraktion aufgebaut wird. Ohne Solidarität können wir keinen Widerstand aufbauen, aber das bedeutet, dass wir uns von Anfang an darüber im Klaren sein müssen, wie wir individuell auf die unterschiedlichsten Weisen zu diesem System beigetragen haben.
Mit anderen Worten: Wir müssen ehrlich sein und wenn nötig die Schuldigen auch benennen. Die Wissenschaftler und Programmierer, die hinter der Entwicklung dieser extraktivistischen Technologien stehen, sind sicherlich nicht ganz freizusprechen. Sie können sich nicht einfach damit herausreden, nicht vorausgesehen zu haben, wie sich ihre Weiterentwicklung dereinst auswirken würde. Will man dies dennoch gelten lassen, kann man ihre Lehrer und Schulen nicht freisprechen, die ihnen offenbar weder elementare Fähigkeiten zum kritischen Denken, noch solide ethische Grundsätze oder ein soziales Verantwortungsbewusstsein vermittelt haben. Natürlich gehen viele der Probleme, die in diesem Buch geschildert werden, auf das Konto von Konzernen und staatlichen Institutionen. Aber was ist mit den Aktionären, die verlangen, dass diese Konzerne Profite über Menschen stellen? Was ist mit den Medien, die eifrig die zivilisatorischen Narrative des Datenkolonialismus verbreiten, anstatt sie kritisch zu hinterfragen? Und was ist mit uns, den Nutzern dieser Technologien? Es ist eine Sache, ahnungslos zu sein, und eine andere, wegzuschauen, wenn wir mit den Folgen des Extraktivismus konfrontiert werden.
Ein gewisses Maß an Klarheit über die individuelle Verantwortung ist daher eine gute Grundlage, um etwas gegen das Problem zu unternehmen. Viele haben bereits begonnen, dem Datenkolonialismus engagiert, kreativ und gemeinschaftlich entgegenzutreten.
Bürger üben Druck auf Lokalverwaltungen aus, um den Einsatz von Überwachungssystemen und KI einzuschränken. Allein in den Vereinigten Staaten haben 17 Gemeinden Verbote gegen den Einsatz von Gesichtserkennung durch die Polizei erlassen, darunter Berkeley, Boston, New Orleans und San Francisco.[1] Dies ist ein guter Ausgangspunkt für den Widerstand gegen den Datenkolonialismus, da diese Technologie sich nicht nur als unzuverlässig erwiesen hat (insbesondere bei Gesichtern von PoC), sondern sie auch eine Bedrohung für die Privatsphäre, die Informationssicherheit und die Meinungsfreiheit darstellt.
Der Bundesstaat Kalifornien ist sogar so weit gegangen, sogenannte »vorhersagende Polizeiarbeit« (den Einsatz von KI und anderen Formen der Analyse für Prognosen über künftige kriminelle Aktivitäten) zu verbieten, und Seattle hat die strengsten Vorschriften für Überwachungstechnologien in den gesamten USA erlassen.[2] Überall auf der Welt, so zeigt der Trend, wenden sich Bürgerinnen und Bürger, die oft viel fortschrittlicher denken als offizielle Vertreter der Regierung, gegen Auswüchse von KI und Datensammelei. Ein Beispiel dafür ist das Bündnis »Reclaim Your Face«, eine europäische Bürgerinitiative, die eine strengere Regulierung der biometrischen Massenüberwachung fordert.[3]
Doch es gibt auch gegenläufige Tendenzen. In einigen der oben erwähnten US-Städte werden angesichts steigender Kriminalitätsraten die Forderungen der Polizeibehörden lauter, »alle verfügbaren Mittel« zur Verbrechensbekämpfung einzusetzen und die genannten Verbote wieder rückgängig zu machen. Hinzu kommt die Lobbyarbeit von Unternehmen, die ihre technologischen Lösungen an die Kommunalverwaltungen verkaufen wollen.[4] Gleichzeitig werden durch die weltweiten Bemühungen, alles von Städten bis zu Wohlfahrtssystemen »smart« zu machen, Menschen ungefragt Überwachungstechnologien unterworfen, die ihr Leben bestimmen.[5]
Es wird nicht einfach sein, solche invasiven Technologien loszuwerden. In den Niederlanden beispielsweise zwang öffentlicher Druck das Kabinett von Ministerpräsident Mark Rutte 2021 zum Rücktritt, nachdem aufgedeckt wurde, dass ein KI-System Tausende von Eltern, vor allem Migranten, fälschlicherweise verdächtigt hatte, zu Unrecht Beihilfen für Kinderbetreuung beantragt zu haben. (Rutte wurde bei den daraufhin angesetzten Neuwahlen im Amt bestätigt, musste aber schließlich im Sommer 2023 endgültig zurücktreten.) Einige niederländische Städte setzen weiterhin auf KI zur Aufdeckung unberechtigt kassierter Beihilfen für Kinderbetreuung, indem sie besonders bestimmte Stadtteile oder einzelne Gebäudekomplexe ins Visier nehmen.[6] Wenn der Datenkolonialismus Teil der gesellschaftlichen Ordnung geworden ist, wovon wir ausgehen, braucht der Widerstand dagegen einen langen Atem.
Vor noch nicht allzu langer Zeit hätte es kaum jemand für möglich gehalten, aber inzwischen gibt es in den USA auch im Big-Tech-Sektor Gewerkschaften: Alphabet (Google) Workers Union, Amazon Labor Union, Apple Retail Union. Im Vereinigten Königreich organisieren sich Amazon-Beschäftigte unter dem Dach der erfahrenen GMB Union, und auch die Beschäftigten von Meta (zumindest die in der Poststelle) versuchen, sich gewerkschaftlich zu organisieren.[7] Auch in der Computerspielindustrie, bekannt für ihre miserablen Arbeitsbedingungen, regt sich eine Gewerkschaftsbewegung.[8] Wie uns die Geschichte von Chunfeng im letzten Kapitel gezeigt hat, organisieren sich auch dort Arbeitnehmer gegen die ausbeuterischen Praktiken von Gig-Plattformen. Ob Uber-Fahrer in Südafrika oder Zomato-Lebensmittellieferanten in Indien – überall auf der Welt schließen sich Gig-Arbeiter zusammen, um Gewerkschaften zu gründen oder Druck auf Regierungen auszuüben, per Gesetz ihre Grundrechte zu garantieren. Arbeiter in Nigeria bereiten Klagen gegen Uber vor und werden dabei von ihren Kollegen im Vereinigten Königreich beraten. Sie alle kämpfen gegen ein Unternehmen, das seine Beschäftigten nicht als Gruppe, sondern als hilflose Einzelpersonen behandelt. Dagegen bilden sich länderübergreifende Arbeitnehmerzusammenschlüsse wie die International Alliance of App-Based Transport Workers (IAATW).[9] Auch wenn sich der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder unter den Arbeitnehmern in Ländern wie den USA immer noch auf einem Rekordtief befindet,[10] sind dies ermutigende Ansätze.
Gesetze zum Schutz von Gig-Arbeitnehmern bleiben auch dort wichtig, wo Arbeitnehmer die Dinge selbst in die Hand nehmen und ihre eigenen Methoden entwickeln, um den Algorithmen der Plattform ein Schnippchen zu schlagen. In Indien haben Fahrer Gruppen wie die Commercial Cab Driver’s Awareness und die Telangana Gig and Platform Workers’ Union gegründet. Dies sind nur zwei von Dutzenden Chat-Gruppen, die sich über Telegram organisieren, in denen jeder Fragen stellen und sich Hilfe und Ratschläge bei erfahrenen Kollegen holen kann. In Indonesien organisieren Fahrer über soziale Medien auch gegenseitige Hilfe in finanziellen Notlagen oder bei der Reparatur ihrer Motorräder. Manche versuchen sich sogar an »Account-Therapien«, um die Algorithmen zu einem für sie vorteilhafteren Verhalten zu bewegen. Mit genauer Kenntnis ihrer Funktionsweise gelingt es teilweise, deren ausbeuterischen Effekte auszuhebeln.[11] Und in einer Reihe afrikanischer Länder unterstützen sich Beschäftigte der Online-Auftragsplattform Upwork gegenseitig dabei, den entscheidenden ersten Auftrag auf der Plattform zu ergattern.[12] In New York setzte eine hauptsächlich aus Einwanderern bestehende Gruppe, die sich Deliveristas Unidos nennt, wichtige Arbeitnehmerrechte gegenüber ausbeuterischen Plattformen der Gig Economy durch. Gegen vielerlei Widerstände erreichten sie unter anderem einen Mindestlohn, Transparenz bei der Berechnung von Trinkgeldern – einer ihrer Slogans lautete »Trinkgelder sind keine Löhne!« – und das Recht auf die Benutzung von Restauranttoiletten.[13] Bei all diesen Erfolgen zeigen die Bemühungen der United Taxi Workers of San Diego, wie schwierig es für solche Arbeitnehmerzusammenschlüsse ist, ohne massiven Kapitaleinsatz und abseits der extraktivistischen Infrastruktur eigene technologische Lösungen zu entwickeln.[14]
Dennoch finden Arbeitnehmer auch in schwierigen Situationen Mittel und Wege, sich dem Datenkolonialismus zu widersetzen. Die Bewegung der obdachlosen Arbeiter in Brasilien zum Beispiel entwickelt aktiv eigene Ansätze zur Erlangung digitaler Souveränität. Für sie bedeutet dies, den Zugang zu Informations- und Kommunikationstechnik und Medienproduktionsmitteln zu demokratisieren, um »nachteilige politische Strukturen zu umgehen, Ressourcen zu mobilisieren, Kampagnen durchzuführen, Proteste zu organisieren und die Erinnerung an Volksbewegungen zu dokumentieren«.[15]
Aber auch Unternehmens- und Staatsangestellte im Globalen Norden tragen entscheidend dazu bei, die Strukturen von innen heraus zu verändern. Die Fälle von Edward Snowden und Chelsea Manning, die den globalen Überwachungsapparat der USA bloßstellten, sind vielleicht zu herausragend, um als allgemeines Beispiel zu dienen. Dennoch waren sie Inspiration für andere Whistleblower und Andersdenkende wie Frances Haugen, die die Bereitschaft von Facebook-Meta aufdeckte, den Profit über die Sicherheit der Nutzer und Nutzerinnen zu stellen, die Informatikerin Timnit Gebru von Google, deren bahnbrechende Arbeit zu den Grenzen und Fehlern von großen KI-Systemen wir in Kapitel 3 erörtert haben, oder Meredith Whittaker, ebenfalls in führender Position bei Google, die 2018 half, Proteste zu organisieren, an denen sich mehr als 20000 Google-Mitarbeiter weltweit beteiligten. Mit ihnen haben zahlreiche andere Einzelpersonen und Gruppen begonnen, ihre Stimme gegen einige der mächtigsten Unternehmen der Welt zu erheben, insbesondere gegen ihre lukrativen Verträge mit Regierungsbehörden. In einer ihrer Petitionen heißt es:
Wir sind Teil einer wachsenden Bewegung mit breiter Unterstützung in der gesamten Branche. Wir erkennen die besondere Verantwortung aller Entwickler wirkmächtiger Technologien an, stets darauf zu achten, dass ihre Arbeit nur für positive Zwecke eingesetzt wird und keinen Schaden anrichtet.[16]
Das mutige Engagement dieser Arbeitnehmer, deren Leben auf unterschiedliche Weise eng mit der Macht von IT-Konzernen verwoben ist, zeigt uns, dass Big Tech weder ein unerschütterlicher Monolith noch immun gegen Widerstand von innen ist.
Die extraktivistischen Praktiken der neuen Klasse der Datenkolonialisten sind weder unbemerkt noch unangefochten geblieben. Aktivisten, die sich teils in lokalen Gruppierungen, teils in finanzstarken Denkfabriken organisieren, haben den Widerstand gegen den Datenextraktivismus aufgenommen. NoTechForICE (notechforice.com) wurde von der Latinx-Gruppierung Mijente ins Leben gerufen, um auf die teils unmenschlichen und manchmal auch illegalen Methoden bei der Verfolgung von Immigranten hinzuweisen, die von der Einwanderungs- und Zollbehörde der USA (ICE) unter Nutzung der Technologien und Datendienste von Palantir, Amazon, Thomson Reuters und anderen eingesetzt werden. Die NoTechForApartheid-Bewegung (notechforapartheid.com) ist ein Projekt von MPower Change und Jewish Voices for Peace, das die Zusammenarbeit zwischen der israelischen Regierung und Unternehmen wie Google und Amazon zur Überwachung von Palästinensern publik macht. (Laut Amnesty International schaffen die israelischen Behörden durch Einsatz modernster Überwachungstechnologien eine neue »automatisierte Apartheid«).[17]
Eine Koalition aus Dutzenden von Aktivistengruppen versucht zudem, die Beteiligung des israelischen Staates an der Entwicklung von Spionagesoftware aufzudecken. Die palästinensische Boykott-, Desinvestitions- und Sanktionsbewegung (BDS) ist nicht alleine mit ihrer Forderung nach einem Verbot dieser Software.[18] Ihr globales Bedrohungspotenzial ist hinlänglich dokumentiert. Die Pegasus-Software – vom israelischen Unternehmen NSO Group unter dem Schutz des israelischen Staates verkauft – wird zur Ausspähung und Lokalisierung von Personen in mindestens vierunddreißig Ländern, darunter Frankreich, Deutschland, Indien, Mexiko und Spanien eingesetzt. Die Software kam laut Amnesty International auch bei Aktionen zum Einsatz, in deren Rahmen schwerste Menschenrechtsverletzungen begangen wurden, unter anderem Einschüchterung und Ermordung von Journalisten und Aktivisten.[19]
Es bilden sich auch wichtige Allianzen zwischen Initiativen, die sich gegen den Datenkolonialismus wehren, und Aktivisten im Arbeits-, Verbraucher- und Umweltschutz. Ein Beispiel ist die entstehende globale Koalition von Menschen aus Chile, Irland, den Niederlanden und anderen Ländern, die gegen den hohen Energieverbrauch von Rechenzentren und deren Beitrag zur globalen Erwärmung protestieren.[20] Ein anderes ist das Projekt Our Data Bodies, das in sozialen Brennpunkten der US-Bundesstaaten North Carolina, Michigan und Kalifornien erforscht, inwiefern sich der dort gepflegte Umgang mit Daten negativ auswirkt und versucht, Alternativen zu entwickeln.[21]
Die indigene Bevölkerung versteht den Kolonialismus wie keine andere, hat sie ihn doch über Jahrhunderte direkt erlebt und ihm Widerstand entgegengebracht. Dieser Widerstand hat viele Aspekte, darunter den Kampf um die Souveränität über Nahrung und Wasser. Nun kommt der Kampf um Daten hinzu. Es hat sich eine Bewegung für indigene Datensouveränität gebildet, die sicherzustellen versucht, dass indigene Völker die Autonomie über ihre Datenressourcen behalten. Sie wollen nicht nur über deren Verwendung selbst bestimmen, sondern auch frei darüber entscheiden, was Daten für ihre Gemeinschaften in Gegenwart und in Zukunft bedeuten.
Das heißt nicht, dass indigene Gemeinschaften digitale Technologien in Bausch und Bogen ablehnen, aber sie wollen sorgfältig darüber nachdenken, wie sie zur Unterstützung eigener Ziele eingesetzt oder »für den Widerstand umgewidmet werden können«, wie es die Linguistin Yásnaya Elena Aguilar Gil ausdrückt, die dem indigenen Volk der Mixe in Mexiko angehört.[22] Diese Gemeinschaften bauen ihre eigene Telefon- und Internetinfrastruktur auf (so wie sie es schon seit langem mit dem Funkverkehr tun), erstellen ihre eigenen Videostreaming-Plattformen, die Geschichten in ihren eigenen Erzählstrukturen bringen, schreiben ihre eigenen Wikipedia-Einträge und entwickeln eigene Apps und Webbrowser in ihren Sprachen.[23]
Von größter Bedeutung ist hierbei die Frage der indigenen Sprachen, auch angesichts der Tatsache, dass Schätzungen zufolge bis zum Jahr 2100 zwischen 50 und 90 Prozent der heutigen Sprachen gefährdet sein werden, sofern sie bis dahin nicht bereits ausgestorben sind.[24] Tatsächlich bietet Big Tech seine eigene »Lösung« für das Verschwinden von Sprachen, die natürlich auf Datafizierung setzt: Die Äußerungen indigener Sprecher werden digitalisiert, um Spracherkennungs-Apps zu entwickeln, die, so die Hoffnung, dazu beitragen können, diese Sprachen am Leben zu erhalten. Doch im Grunde wiederholt dies nur kolonialistische Strukturen der Abhängigkeit. Indigene Gemeinschaften wie die Maori in Aotearoa (auch bekannt als Neuseeland) lehnen dieses Modell ab. Zum Erhalt der indigenen Sprache Te Reo Maori haben die Maori-Aktivisten Peter-Lucas Jones und Keoni Mahelona selbst KI-Sprachwerkzeuge und Methoden zur Sammlung und Verwaltung von Sprachdaten entwickelt, die ihrer Gemeinschaft die Kontrolle über diesen Prozess erhalten. Die Frage, warum sie eigene digitale Hosting-Plattformen einrichteten anstatt Big-Tech-Plattformen zu nutzen, beantworteten sie sehr direkt: »Unsere Daten würden dort von genau den Leuten benutzt werden, die uns die Sprache aus dem Mund geschlagen haben, um sie als Dienstleistung an uns zu verkaufen … Das ist so, als würde man uns erst das Land wegnehmen und es dann an uns zurückverkaufen.«[25] Wie recht sie damit haben, zeigt der Fall von Freiwilligen an der iranisch-irakischen Grenze, die Hunderte von Arbeitsstunden investierten, um Sorani (Südkurdisch) für Google Translate verfügbar zu machen. Das Unternehmen zahlte ihnen keinen Cent dafür, betrachtet sich nun aber als Eigentümer der Ergebnisse ihrer Arbeit.[26]
Wir kommen hier zu einem zentralen Thema: dem Verlangen nach Autonomie. Rund um die Welt wollen immer mehr Gruppen digitale Technologien und Daten nutzen, um den Fortbestand indigener, marginalisierter, minoritärer oder ressourcenarmer Sprachen zu sichern, allerdings so, dass sie dabei die Kontrolle behalten. Überlebt ihre Sprache, überlebt auch ihre Kultur, doch das erfordert, sie sicher und zu ihren eigenen Bedingungen in der Online-Welt nutzen zu können, weshalb sie deren Technologien ebenfalls kontrollieren wollen.[27]
Der Kreis derer, die den Datenkolonialismus ablehnen, wächst und wächst. Er umfasst Kulturschaffende – Künstler, Filmemacher, Autoren, Journalisten –, Studierende und Lehrende, Politiker und Wähler sowie Aktive in gemeinnützigen Organisationen, die sich für ein Recht auf verschlüsselte Kommunikation oder das Recht auf Reparatur einsetzen. Widerstand gibt es im Großen (Boykott von Big-Tech-Plattformen) wie im Kleinen (Verweigerung der Cookie-Einwilligung beim Besuch einer Website, was anscheinend nur 0,5 Prozent der Nutzer tun).[28] Selbst das Mobiltelefon einmal ein paar Stunden aus der Hand zu legen kann ein Akt der Auflehnung sein.
Es ist leicht, sich über Influencer lustig zu machen, die ihren Followern in den sozialen Medien ankündigen, ein Wochenende lang digitalen Entzug zu üben. Tatsache ist, dass sich immer mehr Menschen von diesen ausbeuterischen Technologien verabschieden.[29] Unternehmen tun es ihnen gleich: Nicht jeder wird solche finanziellen Nachteile auf sich nehmen können wie der Geschäftsführer von Lush, der die Konten des Unternehmens bei den sozialen Medien kündigte und damit auf geschätzte 13 Millionen Dollar Einnahmen verzichtete,[30] aber er ist dennoch ein inspirierendes Vorbild.
Es gibt einfachere Formen des Widerstands. Teenager in New York gründeten einen Luddite Club und tauschten ihre Smartphones gegen Klapphandys aus oder verzichteten ganz auf sie. »Es reicht, wenig Likes für einen Post in den sozialen Medien zu bekommen, und schon verliert man das Selbstvertrauen. So etwas sollte niemand durchmachen müssen«, erklärte einer von ihnen dazu.[31]
Auch wenn solche Aktionen von Einzelnen oder kleinen Gruppe oft wenig Aufmerksamkeit finden, sie zeigen in ihrer Gesamtheit, dass an vielen Orten und in verschiedenster Form Widerstand gegen Datenextraktivismus im Gange ist.[32] Mit der Inspiration, die uns die Theoretiker und Aktivisten aus dem letzten Kapitel geben, können wir die moralische Kraft des Widerstands nutzen, neue Wege entwickeln, um Vergangenheit und Gegenwart miteinander zu verknüpfen und das Projekt Menschheit neu zu denken. Es bedarf vielleicht einer gewissen Mischung aus Empörung, Neugierde und Leidenschaft für Gerechtigkeit, um sich dieser antikolonialistischen Bewegung anzuschließen. Aber da letztlich alle vom Datenkolonialismus betroffen sind, kann der Widerstand sich auch in allen Lebensbereichen und an allen Orten entwickeln. Es braucht bloß den entscheidenden gemeinsamen Nenner, der die schärfste Waffe gegen den Kolonialismus ist, die je entwickelt wurde. Der Club der Ludditen und alle anderen, die sich bereits gegen den Datenkolonialismus wehren, scheinen sie in Hülle und Fülle zu besitzen: Phantasie!