Leitlinie Nr. 1: Innerhalb des Systems arbeiten

Wenn man sich vor Augen führt, was Unternehmen und Staaten, die von der Datenkolonisierung profitieren, schon alles angerichtet haben, könnte man auf den Gedanken kommen, es wäre das Beste, jede Art der Zusammenarbeit mit Vertretern des privaten und öffentlichen Sektors zu verweigern. Eine durchaus berechtigte Reaktion, wie wir später erörtern werden.

Welchen Druck können wir innerhalb des Systems ausüben, um die Datendekolonisierung voranzubringen? Vor allem müssen wir auf eine bessere und stärkere Regulierung des Marktes drängen. Die bisherigen Versuche, Big Tech in die Schranken zu weisen, haben sich als zu zaghaft erwiesen.

Die Europäische Union hat bereits wichtige Schritte unternommen, um die Quantifizierung des Sozialen vernünftig zu regulieren. Es würde allerdings den Rahmen unserer Darstellung sprengen, die jüngsten Änderungen der europäischen Gesetzgebung hierzu im Detail zu erörtern. Soviel lässt sich allerdings sagen: Im Mittelpunkt der 2018 in Kraft getretenen Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO) steht nicht die Idee, dass die Marktmacht von Big Tech grenzenlos weiterwachsen soll, sondern »der Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten«.[1] Neue Rechtsvorschriften wie der Digital Services Act und der Digital Markets Act gehen noch weiter und regulieren die von Plattformen angebotenen Dienste und deren asymmetrische Marktstrukturen. Inzwischen hat die

Rechtsexperten äußern allerdings die Sorge, dass die EU-Gesetzgebung zu sehr auf das Prinzip der Zustimmung setzt, es also den Verbrauchern überlassen will, ja oder nein zu allem zu sagen, was Big Tech mit ihren Daten machen will. Wie bereits in früheren Kapiteln dargelegt, werden Daten allerdings häufig unter Umständen extrahiert, bei denen aufgrund des Machtgefälles von echter Zustimmung keine Rede sein kann. Und selbst die besten Gesetze sind nur so gut wie ihre Durchsetzung vor Gericht und durch Aufsichtsbehörden. So konnte beispielsweise Amazon kürzlich einer milliardenschweren Geldstrafe wegen Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln einfach dadurch entgehen, dass das Unternehmen ohnehin geplante Änderungen an seinem Internetauftritt vornahm.[3] Zudem können die neuen EU-Rechtsvorschriften nach ihrem Inkrafttreten noch von den großen Tech-Giganten vor Gericht angefochten werden. Es bestehen auch allgemeine Zweifel daran, ob das EU-Parlament die Ausweitung der Datenextraktion durch Big Tech wirklich stoppen oder nur sicherstellen wollte, dass die Datenmärkte im Rahmen klar definierter Datenschutzrechte effektiver funktionieren.[4] In diesem Fall wird die Ausweitung der Datenterritorien kaum gestoppt werden.

Bedenklicher ist, dass in Staaten wie den USA und England Regulierungsprojekte immer wieder verschoben werden. Gerade in diesen Ländern fördert der Laissez-faire-Kapitalismus die verhängnisvolle Illusion, dass sich Unternehmen am besten selbst regulieren. Und wo das nicht reicht, sorgt die Industrielobby mit Geldzahlungen an Politiker dafür, dass sich alles an den Vorstellungen der Wirtschaft orientiert. Dies nährt Sorgen

Übereilte Gesetze, mit denen eine Regierung lediglich zeigen will, dass sie nicht untätig bleibt, helfen ebenso wenig. Ein Beispiel ist der Kids Online Safety Act (KOSA), der 2022 in den US-Kongress eingebracht wurde. Eine Koalition von mehr als neunzig Bürgerorganisationen kritisierte, dass der Gesetzentwurf nur scheinbar die Privatsphäre von Kindern schützen, sie in Wahrheit aber noch mehr invasiven Tracking-, Filter- und Überwachungsinstrumenten aussetzen würde.[6] Der Gesetzentwurf scheiterte, wurde aber 2023 mit geringfügigen Änderungen erneut eingebracht.

Ein Wandel innerhalb eines Systems hat stets viele Hürden zu überwinden und ist von Natur aus langsam. Aber er ist nicht unmöglich. Das Kartellrecht bietet geeignete Hebel, auch in den USA. Leute wie Lina Khan, die derzeitige Vorsitzende der Federal Trade Commission, der US-Behörde für Kartellrecht und Verbraucherschutz, zeigen sich offen für die Frage, ob Unternehmen wie Amazon und Meta einfach zu groß geworden sind und mit ihren monopolistischen Strukturen den Verbrauchern schaden. Im August 2022 veröffentlichte Khan eine »Vorankündigung eines Regelungsvorschlags« betreffend die Schäden durch kommerzielle Überwachung. Wirtschaft und Zivilgesellschaft haben dies mit großer Aufmerksamkeit zur Kenntnis genommen. Schon ist die Debatte in Gang gekommen, wie sich »das Paradigma« ändern ließe, Überwachung durch Unternehmen als etwas Selbstverständliches hinzunehmen.[7] Allerdings ist derzeit unklar, wie viel Handlungsspielraum die FTC angesichts eines konservativ geprägten Obersten Gerichtshofs und einem möglichen republikanischen Präsidenten im Jahr 2025

Ein mutigerer Ansatz zur Regulierung wäre die Verstaatlichung von Daten, eine Idee, die vor allem in Ländern des Globalen Südens Anhänger findet. Dies würde bedeuten, Daten zu einer nationalen Ressource zu erklären, wie es einige Länder in der Vergangenheit mit Rohstoffen wie Öl oder ganzen Industriezweigen getan haben. Für die verstaatlichten Daten könnten Regierungen dann von ausländischen Technologieunternehmen eine Nutzungssteuer erheben, die ihren Bürgern direkt zugutekäme. Zu bedenken ist jedoch, dass Verstaatlichung nicht unbedingt den Extraktivismus stoppen würde und als antikoloniale Politik in der Vergangenheit allenfalls eine gemischte Bilanz vorzuweisen hat. Die argentinischen Wissenschaftler Leonardo Fabián Sai und Sofía Beatriz Scasserra versuchen dies durch eine Neubetrachtung von Daten als gesellschaftlicher Ressource zu lösen, deren gemeinschaftliche Nutzung von einer Regierung im Rahmen einer umfassenderen Neuausrichtung der Industrie geregelt werden könnte. Es bedarf jedoch weiterer Forschung, um sicherzustellen, dass es bei der Umsetzung solcher Modelle nicht erneut zu sozialer Ausbeutung kommt.[9]

All diesen verschiedenen Regulierungsmodellen liegt die Überzeugung zugrunde, dass die derzeitige Situation untragbar geworden ist und wir einen breiteren und ehrgeizigeren Regulierungsrahmen gegen Datenkolonialismus benötigen. Unterdessen halten die Unternehmen hartnäckig an ihren

So schwierig es ist, wir müssen alle Möglichkeiten nutzen, auch innerhalb des Systems zu arbeiten. Hier sind unsere Vorschläge dazu.

Ideen für das Handeln innerhalb des Systems

  • Gründen Sie innerhalb Ihres Unternehmens eine Gruppe, die sich gegen ungerechte Datenpraktiken engagiert. Wie wir gesehen haben, gibt es zunehmend Proteste von Arbeitnehmern gegen ethisch zweifelhafte oder ausbeuterische Nutzung ihrer Arbeit. Zwar birgt dies stets das Risiko von Disziplinarmaßnahmen oder gar Entlassung, doch in einigen Fällen wurden Arbeitnehmer aufgrund von öffentlichem Druck auch wieder eingestellt. Ein herausragendes Beispiel sind die Beschäftigten von Google, die den Ausstieg des Unternehmens aus dem für das Pentagon geplanten Projekt Maven erreichten.[10] Die meisten Konzerne achten auf ihr Image, zu den guten Kräften der Welt zu gehören, und sind daher empfänglich für Reaktionen der Öffentlichkeit.

  • Arbeiten Sie mit anderen kommunalen Organisationen zusammen, um einen gesellschaftlichen Wandel zu bewirken. Die oben beschriebenen Strategien lassen sich in allen Verwaltungsbereichen anwenden, nicht bloß auf Regierungsebene. Dazu gehören Universitätsgremien und Studentenversammlungen, Elternvertretungen, Kirchengemeinden und karitative Organisationen, Vereine und Beiräte jeder Art. Ein Ansatz könnte sein, mit solchen Einrichtungen zusammenzuarbeiten, damit sie bei ihren Investitionen Aspekte gesellschaftlicher Verantwortung stärker berücksichtigen (also weg von Technologieunternehmen, die in Extraktivismus und Datenmissbrauch verwickelt sind). Wie die Boykott-, Desinvestitions- und Sanktionsbewegung gezeigt hat, kann diese Strategie sehr effektiv sein.

  • Wählen und unterstützen Sie Politiker mit den richtigen Zielen. Viele Menschen wenden sich enttäuscht von der Politik ab, die die Gesellschaft eher zu spalten als zu einen scheint. Dennoch bleibt es wichtig, Politiker zum Zuhören und Handeln zu bewegen und von seinem Wahlrecht Gebrauch zu machen. Auch wenn der Erfolg nicht immer unmittelbar greifbar wird, manchmal hören Politiker doch zu, wie wir an zahlreichen Beispielen gesehen haben.

  • Unterstützen Sie progressive Besteuerung. Tech-Unternehmen tragen zu wenig Steuerlast. Die von Amazon von 2018 bis 2021 entrichtete Körperschaftssteuer belief sich auf knapp ein Viertel des eigentlich üblichen Körperschaftssteuersatzes in den USA, obwohl die Gewinne des Konzerns während der Pandemie um 220 Prozent gestiegen waren.[13] Unternehmen, die von unseren Daten profitieren, sollten mehr Steuern zahlen. Erst in jüngster Zeit wurden Initiativen der Organisation für wirtschaftliche

  • Unterstützen Sie die Umsetzung des 10-Punkte-Plans der Friedensnobelpreisträger Maria Ressa und Dmitry Muratov zur Bewältigung der Informationskrise. Dieser Plan ruft demokratische Regierungen dazu auf, Gesetze zum Schutz der Privatsphäre ihrer Bürger zu verabschieden, die ungehinderte Arbeit von Journalisten zu garantieren, Werbung für Überwachung zu verbieten und die Lobbyarbeit von Konzernen einzuschränken.[15] Eine der Organisationen, die diesen Plan unterstützt, ist People vs. Big Tech (peoplevsbig.tech).

  • Fordern und unterstützen Sie Folgenabschätzungen für algorithmische Entscheidungssysteme. Folgenabschätzungen dienen üblicherweise dazu, die wirtschaftlichen, ökologischen und gesellschaftlichen Auswirkungen der Projekte staatlicher und privater Akteure zu bestimmen. Warum sollte man dies nicht auch auf den Datenbereich ausdehnen? Evidenzbasierte Studien können der Öffentlichkeit klare Informationen über algorithmische Entscheidungssysteme und deren Einfluss auf ihr Leben geben. Sie können auch Behörden und Beratern helfen, das nötige Fachwissen zur Erkennung diskriminierender Systeme zu entwickeln. Anwendungsbereiche wären die Vergabe von Sozialleistungen, die vorhersagende Polizeiarbeit, Energiezuteilung, Arbeitsrecht und Zugang zu Bildung.[16] Es wäre wünschenswert, solche Überprüfungen beim Einsatz von Datentechnologien zum Normalfall zu machen. Ein Beispiel dafür, wie dies in der Praxis aussehen könnte, ist der vom Ada Lovelace Institute erstellte