Leitlinie Nr. 2: Gegen das System arbeiten

Engagement innerhalb des Systems kann durchaus Früchte tragen und ist daher unverzichtbar für jeden Aktivisten, stellt für sich genommen jedoch eine nur begrenzt effektive Strategie dar.

Von den Verantwortlichen für unsere derzeitige Lage ist nur sehr wenig Veränderungsbereitschaft zu erwarten. Der Kolonialismus hat seit jeher mit der Privatwirtschaft und dem Staat gemeinsame Sache gemacht: Unternehmen wie die East India Company kümmerten sich um die Logistik und die Verwaltung, während Regierungen und früher auch die Kirche die juristischen und theologischen Rechtfertigungen lieferten. Diese Partnerschaft setzt sich bis heute fort. Zwar kommt es heute öfter vor, dass Regierungen auch einmal die Interessen der Bürger über die der Unternehmen stellen, trotzdem dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, wie stark der Einfluss dieser kolonialen Partnerschaften weiterhin ist. Manchmal liegt dies ganz offen zutage, teilweise ist es auch schwer zu erkennen.

Mit anderen Worten: Arbeit innerhalb des Systems kann das Leben der Kolonisierten vielleicht etwas erleichtern, aber es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass sie an den Verhältnissen grundsätzlich etwas zu ändern vermag. Dazu müssen wir erst neue politische Instrumente entwickeln, die den Prinzipien des Datenkolonialismus ein klares »Nein« entgegensetzen.

Diese Spannung zwischen der Arbeit innerhalb des Systems und gegen das System bringt uns zurück zur Frage der

Es genügt nicht, ein Unterdrückungssystem gegen ein anderes auszuwechseln, das uns auch keine Autonomie garantiert. Ist es besser, den Webbrowser Opera anstelle von Chrome zu verwenden, wenn Ersterer nun einem Konsortium aus China gehört und Letzterer Google? Ist es für die Menschen in Lateinamerika von Vorteil, die kolumbianische App Rappi anstelle der US-amerikanischen Apps DoorDash oder TaskRabbit zu nutzen, wenn alle diese Apps ähnliche Algorithmen zur Ausbeutung der Beschäftigten von Lieferdiensten verwenden? Wird die afrikanische Super-App Yassir die Probleme des Datenkolonialismus lösen, nur weil ihre Server in Afrika stehen?

Teilweise wurde das Konzept der alleinigen Souveränität des Staates über die Internetpolitik von politischen Parteien und Volksvertretern in Verfolgung ihrer politischen Zwecke übernommen, um neue Instrumente der Überwachung und Unterdrückung zu schaffen. So sieht beispielsweise der indische Entwurf für ein neues Telekommunikationsgesetz, welches das noch aus der Kolonialzeit stammende Telegraphengesetz ablösen soll, vor, Verschlüsselung für Apps wie WhatsApp, Telegram oder Signal zu verbieten. Damit halten sich die staatlichen Behörden die Hintertür zur Überwachung jeglicher privater Kommunikation offen. Darüber hinaus soll die Regierung auch die Befugnis haben, in Notstandssituationen den Internetverkehr komplett zu unterbinden.[2]

Kurz gesagt, es verbessert die Lage der Kolonisierten nicht,

Wichtiger als die Frage, wer letztlich das System steuert, bleibt, wie es konkret eingesetzt wird. Die Werkzeuge der Herrschenden so umzufunktionieren, dass sie letztlich gegen das System arbeiten, erfordert, endlich »Nein« zu den zivilisatorischen Narrativen zu sagen, die uns einreden wollen, dass unkontrollierte Datenextraktion akzeptabel und normal ist. »Nein« zu sagen kann auf der individuellen Ebene funktionieren, wenn wir persönliche Entscheidungen darüber treffen, was wir akzeptieren oder ablehnen können, um unsere grundlegende Autonomie zu schützen.[4] Gelegentlich auch einmal »Nein« zu sagen bedeutet, dass wir kurzfristig keine andere realistische Möglichkeit haben, als auf individueller Ebene einige Aspekte des Datenkolonialismus zu akzeptieren, auch wenn wir dessen Prinzipien insgesamt ablehnen. »Nein« zu sagen bedeutet aber auch Offenheit für die Teilnahme an größeren gemeinschaftlichen Projekten, die langfristig darauf abzielen, das System zu untergraben.

Es fehlt nicht an Vorschlägen von IT-Berühmtheiten wie Tim Berners-Lee (dem Begründer des World Wide Web) oder Jaron Lanier (einem der Vordenker der virtuellen Realität), das Internet zu »retten«, etwa durch die Einführung von Plattformen, die den Menschen die freie Übertragung ihrer Daten ermöglichen, oder einer Bezahlung für die von ihnen produzierten Daten.[5] Diese Vorschläge werfen zwar wichtige Fragen auf, tendieren aber dazu, die vom Datenkolonialismus verursachten Schäden wiederum mit rein technologischen Lösungen zu bekämpfen, die am Extraktivismus grundsätzlich wenig ändern. Die Menschen für ihre Daten zu bezahlen, bindet sie samt diesen Daten nur effektiver in das System ein und schafft Anreize,

Andere schlagen die Einführung einer neuen Generation des World Wide Web vor, ein sogenanntes Web3, das die Macht von Big Tech brechen soll. Ohne in komplizierte technische Details einzusteigen: Das Web3 soll auf der Blockchain-Technologie beruhen, die auch Kryptowährungen wie Bitcoin zugrunde liegt, und das Internet neu strukturieren. Während Web1 das »Lese«-Web war (Nutzer konnten nur statische Inhalte lesen) und Web2 das »Lese-Schreib«-Web ist (Nutzer können Inhalte erstellen und ändern, aber die Plattformen dafür sind zu Monopolen geworden), wird Web3 das »Lese-Schreib-Privat«-Web sein, das es mit Verschlüsselung, Dezentralisierung und Technologien zur verteilten Entscheidungsfindung den Nutzern ermöglicht, ihre Identität und den Besitz an ihren Daten zu wahren, Zensur zu umgehen und direkt und ohne Zwischenhändler wie Banken und Konzerne in Produkte zu investieren. Es bleibt abzuwarten, ob dieses Modell auch in der Praxis und nicht bloß in der Theorie Monopole brechen und die Wirtschaft so umstrukturieren kann, dass sie endlich den Bedürfnissen des gewöhnlichen Nutzers dient. Doch selbst wenn dies gelingen sollte, werden sich die mit dem Extraktivismus verbundenen Probleme nicht in Luft auflösen. Schon jetzt ist das Web3 als Nährboden von Finanzspekulationen in die Kritik geraten (man denke an den NFT-Hype, in dem viele ein Vermögen verloren haben). Bemängelt wird auch, dass es sich nicht nur um eine teure und wenig praktikable, sondern noch dazu energiehungrige und damit umweltschädliche Technologie handelt, die mit ihrer prinzipiellen Anonymität Missbrauch und Hetze begünstigt.[6]

Diese »Lösungen« erinnern uns erneut daran, dass das

Sämtliche oben genannten Vorschläge können trotz all ihrer Beschränkungen zur Lösung der anstehenden Probleme beitragen. Es sind also durchaus bereits Instrumente und Modelle zur Bekämpfung des Datenkolonialismus vorhanden. Es gilt nun, sie miteinander zu verknüpfen, was die Kooperation zwischen derzeit noch getrennt voneinander agierenden Akteuren verlangt. Wie kann eine Kultur des Widerstands gegen Datenkolonialismus entstehen, also die Einigung einer Vielzahl von Gruppen gelingen, die sich durch ihren Hintergrund und ihre Zielsetzung unterscheiden? Ein echter Durchbruch in diese Richtung würde die folgenden drei Schritte erfordern.[10]

Als Erstes müssten gemeinsame Prinzipien ausgemacht werden. Wir glauben, dass das Konzept des Datenkolonialismus auch deshalb so viele Menschen inspiriert, weil es uns eine gemeinsame Begrifflichkeit zum Verständnis der Probleme liefert. Diese Begrifflichkeit baut auf einer Geschichte auf, die alle Kolonisierten eint und zugleich schon Prinzipien für den Widerstand beinhaltet. Der zweite Schritt ist die Förderung von Solidarität, die konkrete gegenseitige Hilfe ermöglicht, was die Kosten des Widerstands gegen das System senkt. Solidarität mag wie eines jener hehren Konzepte klingen, von denen niemand genau weiß, wie man sie Wirklichkeit werden lassen kann. Fatalerweise verstehen es die Datenkolonisatoren sehr gut, einander in ihrem Bestreben beizustehen, alles beim Alten zu lassen, während sie allen anderen den Mut zum gemeinsamen Handeln nehmen, das allein zu Veränderungen führen kann. Von einem starken Gefühl der gemeinsamen Verantwortung getragene Solidarität kann uns helfen, unseren gemeinsamen Feind und unser gemeinsames Ziel zu benennen. Der

Was man gegen das System tun kann

  • Werden Sie sich über Ihre eigene Rolle im Datenkolonialismus klar. Selbstkritik ist hilfreich, aber vielleicht noch wichtiger ist die Fähigkeit, Kritik von anderen anzunehmen. Werden Sie sich über Ihre eigene Rolle bei der Reproduktion von Machtmustern im täglichen Leben und innerhalb der Strukturen klar, in denen Sie leben. Gehören Sie zu jenen, die sich überall laut und dominant zu Wort melden, oder eher zu den Schweigenden? Es gilt, die Extreme zu vermeiden. Weder sollten wir uns der

  • Machen Sie tendenziöse Ergebnisse algorithmischer Prozesse und Datentechnologien publik. Wenn Sie für eine Organisation arbeiten, die algorithmische Entscheidungssysteme einsetzt, und Ihnen auffällt, dass diese Systeme tendenziöse oder unfaire Ergebnisse produzieren, sollten Sie sich mit anderen zusammentun und einen internen Bericht darüber schreiben, die Öffentlichkeit informieren oder die Medien einschalten, sofern dies in Ihrer Situation ein akzeptables Risiko darstellt. Oder unterstützen Sie die Arbeit von Organisationen, die bereits Untersuchungen in diesem Bereich durchführen, wie etwa AlgorithmWatch (Berlin und Zürich) oder The Markup (USA).[11] Sie können auch die wichtige Arbeit von Organisationen wie der Algorithmic Justice League (https://www.ajl.org) unterstützen, die von der Informatikerin Joy Buolamwini gegründet wurde und sich gegen algorithmische Verzerrungen beim Einsatz von KI engagiert.

  • Ändern Sie die Gesellschaft, indem Sie den Lehrplan ändern. Schon Schüler und Schülerinnen können sich dafür einsetzen, dass ihre Schule die zukünftigen Absolventen besser darauf vorbereitet, kritisch über Technik nachzudenken. Auch Schüler können sich an der Gestaltung des Lehrplans beteiligen, um dieses Ziel zu erreichen! Was Schulen der nächsten Generation mitgeben, die neue Datentechnologien entwickeln oder über ihre Anwendung kritisch nachdenken wird, ist von entscheidendem Einfluss. Womöglich gibt es auch an Ihrer Schule bereits Lehrer, die ein solches Anliegen gerne unterstützen. Und über Bildungseinrichtungen hinaus sollten wir uns alle

  • Unterstützen Sie Gig-Arbeiter (oder andere Arbeitnehmer), die für ihre Rechte und Gewerkschaftsvertretung kämpfen. Die Gewerkschaftsbewegung erlebt derzeit, wie weiter oben beschrieben, eine Renaissance, und wir sollten alle Beschäftigten unterstützen, die sich gewerkschaftlich organisieren wollen und Reformen des Arbeitsrechts fordern. Informieren Sie sich über Gewerkschaftsaktivitäten (Wikipedia hat eine nützliche Seite, auf der die weltweiten Gewerkschaftsbemühungen im Technologiesektor aufgelistet sind)[13] und signalisieren Sie Ihre Unterstützung.

  • Helfen Sie, die Geschichten einzelner Opfer zu verbreiten und arbeiten Sie mit anderen zusammen, um benachteiligte und gefährdete Personen zu schützen. Menschen sind aufgeschlossen für individuelle Geschichten, daher lässt sich das Wesen eines Problems wie des Datenkolonialismus sehr effektiv mit Hilfe der Erlebnisse von Betroffenen vermitteln (natürlich ohne deren Probleme dabei auszubeuten). Ein gutes Beispiel dafür liefert die Arbeit der Journalistin Karen Hao (von der in diesem Buch bereits die Rede war), das Projekt Parables of AI in/from the Majority World von Data & Society[14] und das Projekt Domestic Code, das Geschichten von Frauen aus der Reinigungs- und Pflegebranche sammelt, die ihre Jobs über Gig-Plattformen organisieren.[15] Am besten ist es,

  • Unterstützen Sie Organisationen und Forschungsinstitute, die in diesen Bereichen arbeiten, mit praktischen Maßnahmen. Es gibt inzwischen Hunderte von Organisationen auf der ganzen Welt, die sich mit Themen wie Online-Datenschutz, Verbraucherrechten, digitaler Gerechtigkeit, Technologie und Demokratie, Plattform-Kooperativismus, Internet-Governance und so weiter beschäftigen. Nicht wenige wurden im Text bereits genannt. Viele dieser Organisationen arbeiten innerhalb des Systems, andere nehmen eine eher oppositionelle Haltung ein. Eine informative Liste dieser Organisationen finden Sie unter consentofthenetworked.com/get-involved. Auch an Universitäten im Globalen Norden und Süden wird wichtige Forschungsarbeit zur Aufdeckung der Gefahren des Datenextraktivismus geleistet. Um nur drei Beispiele zu nennen: Observatório Educação Vigiada ist ein Projekt an der Universidade Federal do Pará, Brasilien, das Daten über die Plattformisierung des öffentlichen Bildungswesens in Südamerika sammelt.[16] Das Minderoo Centre for Technology and Democracy der Universität Cambridge hat ein Audit-Tool zur Überwachung der Einhaltung der geltenden Rechtslinien entwickelt und nachgewiesen, dass die britische Polizei beim Einsatz von Gesichtserkennung gegen rechtliche und ethische Standards verstoßen hat.[17]