Leitlinie Nr. 3: Außerhalb des Systems arbeiten

Innerhalb des Systems zu arbeiten bedeutet, die Weltanschauung, die ein solches System möglich macht, notgedrungen, wenn auch nicht aus Überzeugung, zu akzeptieren – in der Hoffnung, von innen heraus Veränderungen bewirken zu können. Auch wer gegen ein System arbeitet, bleibt im Grunde zumindest unterschwellig an dessen Weltanschauung gebunden. Denn auch sich in völliger Gegnerschaft zu einer Sache zu definieren heißt letztlich immer noch, sich durch eben diese Sache zu definieren, wie Umberto Eco feststellte.[1]

Deshalb besteht die dritte Strategie zur Bekämpfung des Datenkolonialismus darin, nicht gegen den Datenkolonialismus oder innerhalb des Systems zu arbeiten, sondern eine gänzlich von ihm verschiedene Weltsicht zu erarbeiten, die nicht durch das bedingt oder eingeschränkt ist, was wir aufheben wollen. Hier ist vor allem Kreativität gefragt.

Kann unsere Vorstellungskraft sich jemals völlig von dem gesellschaftlichen Kontext befreien, in dem wir leben? Wahrscheinlich nicht. Aber die menschliche Vorstellungskraft kann in jedem Gesellschafts- oder Wirtschaftssystem Risse ausmachen, die es ermöglichen, dieses System »umzudenken«, darin Freiräume und Praktiken zu entdecken, die, wenn auch nur für kurze Zeit, andere Wege des Handelns und Denkens erlauben.[2]

Gemeinsam ist den genannten Projekten die Kritik an den Normen des Datenkolonialismus, dem sie den Versuch entgegenstellen, Daten nach gemeinschaftlichen und nicht nach kommerziellen Grundsätzen zu sammeln, zu verarbeiten und zu analysieren. Es ist durchaus möglich, einen Freiraum zu schaffen, in dem wir unsere eigenen Werkzeuge und Modelle für die Neugestaltung der Konvivialität entwickeln können, um den Ausdruck von Illich aufzugreifen, und neu zu definieren, was es bedeutet, sich durch Daten mit anderen Menschen zu verbinden. Dies kann uns Ansatzpunkte für neue Denkweisen darüber liefern, was Daten sind und wozu sie dienen. So können wir schrittweise entdecken, was es bedeutet, ein tragfähiges antikoloniales System für den sozialen Umgang mit Daten zu Hause, am Arbeitsplatz, in der Schule und im öffentlichen Raum aufzubauen.

Dies bringt uns zur Arbeit des brasilianischen Pädagogen Paulo Freire, für den ein Befreiungskampf nicht nur den Unterdrückten, sondern auch den Unterdrückern ihre Menschlichkeit zurückgibt, die durch die Behandlung der Unterdrückten als Objekte – oder als bloße Daten – letztlich ebenfalls Entmenschlichung erfahren haben. Für Freire führte der Prozess der Erziehung und Bildung stets zu einem Akt der Neubenennung der Welt mit dem Ziel, sie aktiv zu ändern.[5] Eine substanzielle Kritik des Datenkolonialismus kann uns nicht nur dabei helfen, das datenextraktivistische System und seine zahlreichen Aspekte als das zu benennen, was es wirklich ist, sondern auch die Welt der Daten umzubenennen und neu zu erschaffen, so

Handeln außerhalb des Systems

  • Machen Sie sich die Kraft des kritischen Denkens zu eigen. Als Autoren hören wir oft, die Botschaft des Datenkolonialismus sei zu deprimierend. Aber wir orientieren uns an der Losung des italienischen Philosophen und Kommunisten Antonio Gramsci, der in der Auseinandersetzung mit allen Problemen der Welt die Kombination eines »Pessimismus des Verstandes« mit einem »Optimismus des Willens« empfahl.[6] Wir lassen uns auch von der Figur der »feminist killjoy«, der »feministischen Spaßverderberin« inspirieren, die von der feministischen Autorin Sara Ahmed dazu eingeführt wurde, die allgemeine Behaglichkeit zu untergraben, indem sie unerbittlich auf existierende Ungerechtigkeiten aufmerksam macht.[7] Angesichts der Ungeheuerlichkeit von fünf Jahrhunderten kolonialer Unterdrückung sollten wir der Gefahr der Hoffnungslosigkeit mit der Kraft des individuellen Denkens, der kollektiven Phantasie und des kollektiven Handelns begegnen. Das ist der aussichtsreichste Weg zur Überwindung des gegenwärtigen Systems.

  • Unterstützen Sie einander dabei, im Alltag unabhängiger von datenhungrigen Plattformen zu werden. Für die meisten von uns dürfte es kaum möglich sein, alle diese Plattformen von heute auf morgen zu verlassen oder

  • Unterstützen Sie Initiativen, die sich für neue Wege der Datenerfassung, des Datenschutzes und der Datennutzung für gute Zwecke einsetzen. Wie wir bereits erwähnt haben, bedeutet die Dekolonisierung von Daten nicht, generell auf Daten zu verzichten. Es soll möglich sein, die Daten zu generieren, die wir für eine bessere und besser verstandene Welt brauchen. Dazu verdienen die Organisationen und Projekte, die wir in diesem Buch vorstellen, allemal unsere Unterstützung. Wir alle haben das Recht, mitzuentscheiden, wie die Daten aus unserem Wohnviertel, unseren Schulen und unseren Krankenhäusern verwendet werden.[8] Wenn wir und nicht die Konzerne bestimmen, welche Daten wir benötigen, um eine neue Welt zu schaffen, definieren wir neue Prinzipien für die Produktion von sozialem Wissen, dessen Leitlinien sich an gesellschaftlichen und nicht an profitorientierten Werten ausrichten.

Wir möchten hier auch Tierra Común erwähnen, das Netzwerk, das wir zusammen mit Paola Ricaurte gegründet haben und das fast hundert hauptsächlich aus Lateinamerika stammende Menschen zusammengebracht hat, die in zahlreichen Initiativen, in der Wissenschaft und in der Pädagogik aktiv und initiativ an der Dekolonisierung von Daten arbeiten. Es ist nicht möglich, sie hier alle namentlich aufzulisten.[9] Ihre Bemühungen umfassen so unterschiedliche Bereiche wie dekoloniales Computing, indigene Datensouveränität und gemeinschaftliche und indigene Kommunikation. Tierra Común beschäftigt sich mit feministischer Technologie, geschlechtsspezifischer Gewalt im Internet, sammelt Daten über Femizide, algorithmische Diskriminierung, politische und ethische Folgen von Online-Medien und dem Machtgefälle von Datensätzen. Das Netzwerk befasst sich auch mit der Schnittstelle zwischen digitaler Technologie und lokaler Entwicklung sowie der Demokratisierung von Wissen. Einige der dort Aktiven konzentrieren sich auf Digitalarbeit und Arbeitsbedingungen in der Plattformökonomie oder die Plattformisierung der öffentlichen Bildung. Andere befassen sich mit Risiken und Cybersicherheit, nicht westlichen Perspektiven in der KI-Governance und menschenzentrierter KI. Es gibt interessante Arbeiten zu den Themen Jugend und Technologie, Medienkonsum in Lateinamerika, demokratische und künstlerische Ansätze bei der Programmierung und beim

Wir glauben, dass die Dekolonisierung, wenn sie auf den Bereich der Daten angewandt wird, zu einem einenden Narrativ werden kann, das uns dabei hilft, uns darüber klar zu werden und neu für uns zu definieren, was wir von Großtechnologien wollen und was nicht. Kurz gesagt, ein neues Narrativ darüber, wie wir unser kollektives menschliches Wissen auf nicht extraktive Weise mehren können.

Im Alltag, den Online-Plattformen für uns scheinbar einfacher machen und in dem wir mit unseren coolen neuen KI-Gadgets herumspielen, kann es scheinen, als gäbe es kaum einen triftigen Grund, etwas zu ändern. Man könnte sogar denken, was mit unseren Daten geschieht, könne nicht so dramatisch sein, wie das, was unserer Umwelt droht. Worum geht es also bei diesem Widerstand? Es geht darum, die Dinge ins richtige Verhältnis zu setzen: Die Klimakrise, zu der es zwar mit unserer Beteiligung, aber nicht unbedingt mit unserer informierten Zustimmung gekommen ist, bedroht unsere natürliche Umwelt. Die Krise des Datenkolonialismus, die ebenfalls unter unserer Beteiligung, aber keinesfalls mit unserer bewussten Zustimmung herbeigeführt wurde, konfrontiert uns nicht nur mit schmelzenden Gletschern und abgeholztem Regenwald (wobei auch der Datenkolonialismus selbst erhebliche Umweltschäden

Aus der Geschichte der Dekolonisierungsbemühungen lässt sich vor allem eine wichtige Lehre ziehen: Der erste Schritt zur Neudefinition unseres Daseins in der Welt muss von den Kolonisierten kommen, nicht von den Kolonisatoren. Die Kräfte hinter dem Datenkolonialismus wollen eine Welt, in der sie bestimmen können, wie wir uns zueinander verhalten, sie wollen uns auf allen Ebenen des Lebens ihre Bedingungen aufzwingen. Aber so muss es nicht sein.

Als Menschen haben wir die Fähigkeit, die Dinge zu benennen, anstatt sie uns von anderen benennen zu lassen. Benennen wir also die heutigen Systeme der Datenextraktion als das, was sie in Wirklich sind: die jüngste Stufe eines jahrhundertealten Projekts zur Beherrschung der Welt im Interesse einiger weniger. Und stellen wir uns eine andere Welt vor, in der Daten etwas sind, über das Gemeinschaften selbst die Kontrolle ausüben und das sie für ihre selbstgewählten Zwecke einsetzen.