Innerhalb des Systems zu arbeiten bedeutet, die Weltanschauung, die ein solches System möglich macht, notgedrungen, wenn auch nicht aus Überzeugung, zu akzeptieren – in der Hoffnung, von innen heraus Veränderungen bewirken zu können. Auch wer gegen ein System arbeitet, bleibt im Grunde zumindest unterschwellig an dessen Weltanschauung gebunden. Denn auch sich in völliger Gegnerschaft zu einer Sache zu definieren heißt letztlich immer noch, sich durch eben diese Sache zu definieren, wie Umberto Eco feststellte.[1]
Deshalb besteht die dritte Strategie zur Bekämpfung des Datenkolonialismus darin, nicht gegen den Datenkolonialismus oder innerhalb des Systems zu arbeiten, sondern eine gänzlich von ihm verschiedene Weltsicht zu erarbeiten, die nicht durch das bedingt oder eingeschränkt ist, was wir aufheben wollen. Hier ist vor allem Kreativität gefragt.
Kann unsere Vorstellungskraft sich jemals völlig von dem gesellschaftlichen Kontext befreien, in dem wir leben? Wahrscheinlich nicht. Aber die menschliche Vorstellungskraft kann in jedem Gesellschafts- oder Wirtschaftssystem Risse ausmachen, die es ermöglichen, dieses System »umzudenken«, darin Freiräume und Praktiken zu entdecken, die, wenn auch nur für kurze Zeit, andere Wege des Handelns und Denkens erlauben.[2]
Hier einige inspirierende Beispiele dafür, wie lokale Gemeinschaften solche Freiräume und Praktiken schaffen und dadurch alternative Modelle der Datensouveränität entwickeln. Von einigen dieser Projekte haben wir bereits durch unsere Mitstreiter vom Netzwerk Tierra Común Paola Ricaurte und Rafael Grohmann gehört (mehr zu Tierra Común in Kürze).[3] Eines davon ist das Journalisten-Kollektiv GeoComunes aus Mexiko, das kleinen Gemeinden hilft, mit kartographischen Daten Umweltzerstörung und Privatisierungsfolgen zu kartieren. In Brasilien ist InfoAmazonia tätig, eine unabhängige Medienorganisation, die Berichte aus den gefährdeten Regionen des Regenwalds mit Geolokalisierung konkretisiert. Weitere Beispiele sind von Feministinnen und trans* Personen organisierte Hacker-Kooperativen wie MariaLab in Brasilien, deren Ziel es ist, »Technologie in feministische Räume und Feminismus in technologische Räume zu bringen«, und das bereits erwähnte gemeinnützige Kollektiv Alternativa Laboral Trans aus Argentinien, das von trans* Personen gegründet wurde und sich im Bereich Web-Design und Bildung engagiert.[4] In Lateinamerika gibt es viele Organisationen, die sich mit Fragen der digitalen Rechte befassen, darunter Datysoc in Uruguay (datysoc.org), Hiperderecho in Peru (hiperderecho.org), InternetLab in Brasilien (internetlab.org.br/en), Karisma in Kolumbien (karisma.org.co), Openlab in Ecuador (openlab.ec) und Vía Libre in Argentinien (vialibre.org.ar). Beispiele für Organisationen, die die digitale Bildung fördern, sind Sulá Batsú in Costa Rica (sulabatsu.com) und die Digital Empowerment Foundation in Indien (defindia.org). Auf der ganzen Welt, auch in Afrika, Asien und Ozeanien leisten so viele Organisationen hervorragende Arbeit, dass wir sie leider nicht alle auflisten können. Wir möchten aber auf keinen Fall die wichtige Arbeit unerwähnt lassen, die Kollektive von Aktivisten und Künstlern wie Sursiendo in Mexiko (sursiendo.org) leisten, um eine nachhaltige Selbstverwaltung digitaler Gemeinschaften zu fördern, wobei sie sich an den ethischen Grundsätzen der Permakultur orientieren.
Gemeinsam ist den genannten Projekten die Kritik an den Normen des Datenkolonialismus, dem sie den Versuch entgegenstellen, Daten nach gemeinschaftlichen und nicht nach kommerziellen Grundsätzen zu sammeln, zu verarbeiten und zu analysieren. Es ist durchaus möglich, einen Freiraum zu schaffen, in dem wir unsere eigenen Werkzeuge und Modelle für die Neugestaltung der Konvivialität entwickeln können, um den Ausdruck von Illich aufzugreifen, und neu zu definieren, was es bedeutet, sich durch Daten mit anderen Menschen zu verbinden. Dies kann uns Ansatzpunkte für neue Denkweisen darüber liefern, was Daten sind und wozu sie dienen. So können wir schrittweise entdecken, was es bedeutet, ein tragfähiges antikoloniales System für den sozialen Umgang mit Daten zu Hause, am Arbeitsplatz, in der Schule und im öffentlichen Raum aufzubauen.
Dies bringt uns zur Arbeit des brasilianischen Pädagogen Paulo Freire, für den ein Befreiungskampf nicht nur den Unterdrückten, sondern auch den Unterdrückern ihre Menschlichkeit zurückgibt, die durch die Behandlung der Unterdrückten als Objekte – oder als bloße Daten – letztlich ebenfalls Entmenschlichung erfahren haben. Für Freire führte der Prozess der Erziehung und Bildung stets zu einem Akt der Neubenennung der Welt mit dem Ziel, sie aktiv zu ändern.[5] Eine substanzielle Kritik des Datenkolonialismus kann uns nicht nur dabei helfen, das datenextraktivistische System und seine zahlreichen Aspekte als das zu benennen, was es wirklich ist, sondern auch die Welt der Daten umzubenennen und neu zu erschaffen, so dass sie zu einer echten gesellschaftlichen Ressource wird. Den Datenkolonialismus mit solcher Entschiedenheit anzugehen, wird langfristig transformative Auswirkungen auf die Gesellschaft und den Kapitalismus im Allgemeinen haben.
Machen Sie sich die Kraft des kritischen Denkens zu eigen. Als Autoren hören wir oft, die Botschaft des Datenkolonialismus sei zu deprimierend. Aber wir orientieren uns an der Losung des italienischen Philosophen und Kommunisten Antonio Gramsci, der in der Auseinandersetzung mit allen Problemen der Welt die Kombination eines »Pessimismus des Verstandes« mit einem »Optimismus des Willens« empfahl.[6] Wir lassen uns auch von der Figur der »feminist killjoy«, der »feministischen Spaßverderberin« inspirieren, die von der feministischen Autorin Sara Ahmed dazu eingeführt wurde, die allgemeine Behaglichkeit zu untergraben, indem sie unerbittlich auf existierende Ungerechtigkeiten aufmerksam macht.[7] Angesichts der Ungeheuerlichkeit von fünf Jahrhunderten kolonialer Unterdrückung sollten wir der Gefahr der Hoffnungslosigkeit mit der Kraft des individuellen Denkens, der kollektiven Phantasie und des kollektiven Handelns begegnen. Das ist der aussichtsreichste Weg zur Überwindung des gegenwärtigen Systems.
Unterstützen Sie einander dabei, im Alltag unabhängiger von datenhungrigen Plattformen zu werden. Für die meisten von uns dürfte es kaum möglich sein, alle diese Plattformen von heute auf morgen zu verlassen oder unsere Familien und Freunde von diesem Schritt zu überzeugen. Aber wir können günstige Gelegenheiten dazu nutzen. So waren beispielsweise die Skandale, die Twitter nach der Übernahme durch Elon Musk erschütterten, für Hunderttausende Anlass, die Plattform zu verlassen und sich nach nicht extraktiven Alternativen wie Mastodon umzusehen. Leider ging die Zahl der Mitglieder von Mastodon nach kurzem Anstieg wieder zurück, was zeigt, wie schwierig es ist, Konzernplattformen zu ersetzen. Dennoch bietet Mastodon ein interessantes Beispiel dafür, dass Alternativen zu extraktivistischen Plattformen möglich sind, und Anlass zu weiterem Nachdenken darüber, wie soziale Ressourcen aufgebaut werden könnten, die eine andere Art von Netzwerk unterstützen.
Unterstützen Sie Initiativen, die sich für neue Wege der Datenerfassung, des Datenschutzes und der Datennutzung für gute Zwecke einsetzen. Wie wir bereits erwähnt haben, bedeutet die Dekolonisierung von Daten nicht, generell auf Daten zu verzichten. Es soll möglich sein, die Daten zu generieren, die wir für eine bessere und besser verstandene Welt brauchen. Dazu verdienen die Organisationen und Projekte, die wir in diesem Buch vorstellen, allemal unsere Unterstützung. Wir alle haben das Recht, mitzuentscheiden, wie die Daten aus unserem Wohnviertel, unseren Schulen und unseren Krankenhäusern verwendet werden.[8] Wenn wir und nicht die Konzerne bestimmen, welche Daten wir benötigen, um eine neue Welt zu schaffen, definieren wir neue Prinzipien für die Produktion von sozialem Wissen, dessen Leitlinien sich an gesellschaftlichen und nicht an profitorientierten Werten ausrichten.
Wenn diese Aktionsvorschläge etwas abstrakter klingen als die vorigen, so hat das seinen Grund. Wir glauben nicht, dass es eine allgemeingültige Checkliste der »richtigen« Strategien zur Überwindung des Datenkolonialismus gibt. Jede Gemeinschaft muss sie nach ihren je eigenen Bedürfnissen und Überzeugungen im Hinblick auf das mit allen geteilte Ziel für sich definieren.
Wir möchten hier auch Tierra Común erwähnen, das Netzwerk, das wir zusammen mit Paola Ricaurte gegründet haben und das fast hundert hauptsächlich aus Lateinamerika stammende Menschen zusammengebracht hat, die in zahlreichen Initiativen, in der Wissenschaft und in der Pädagogik aktiv und initiativ an der Dekolonisierung von Daten arbeiten. Es ist nicht möglich, sie hier alle namentlich aufzulisten.[9] Ihre Bemühungen umfassen so unterschiedliche Bereiche wie dekoloniales Computing, indigene Datensouveränität und gemeinschaftliche und indigene Kommunikation. Tierra Común beschäftigt sich mit feministischer Technologie, geschlechtsspezifischer Gewalt im Internet, sammelt Daten über Femizide, algorithmische Diskriminierung, politische und ethische Folgen von Online-Medien und dem Machtgefälle von Datensätzen. Das Netzwerk befasst sich auch mit der Schnittstelle zwischen digitaler Technologie und lokaler Entwicklung sowie der Demokratisierung von Wissen. Einige der dort Aktiven konzentrieren sich auf Digitalarbeit und Arbeitsbedingungen in der Plattformökonomie oder die Plattformisierung der öffentlichen Bildung. Andere befassen sich mit Risiken und Cybersicherheit, nicht westlichen Perspektiven in der KI-Governance und menschenzentrierter KI. Es gibt interessante Arbeiten zu den Themen Jugend und Technologie, Medienkonsum in Lateinamerika, demokratische und künstlerische Ansätze bei der Programmierung und beim maschinellen Lernen sowie beim agilen, datengetriebenen Storytelling und dessen Visualisierung. Für manche liegt der Schwerpunkt auf Gerechtigkeit in der datengesteuerten öffentlichen Politikgestaltung, für andere auf Designgerechtigkeit, Konnektivität und digitale Rechte sowie der Geopolitik digitaler Rechte. Mehr Informationen finden sich unter tierracomun.net. Diese umfangreiche Liste zeigt, wie viel Arbeit geleistet wird, um den Datenkolonialismus von innerhalb wie von außerhalb des Systems zu bekämpfen.
Wir glauben, dass die Dekolonisierung, wenn sie auf den Bereich der Daten angewandt wird, zu einem einenden Narrativ werden kann, das uns dabei hilft, uns darüber klar zu werden und neu für uns zu definieren, was wir von Großtechnologien wollen und was nicht. Kurz gesagt, ein neues Narrativ darüber, wie wir unser kollektives menschliches Wissen auf nicht extraktive Weise mehren können.
Im Alltag, den Online-Plattformen für uns scheinbar einfacher machen und in dem wir mit unseren coolen neuen KI-Gadgets herumspielen, kann es scheinen, als gäbe es kaum einen triftigen Grund, etwas zu ändern. Man könnte sogar denken, was mit unseren Daten geschieht, könne nicht so dramatisch sein, wie das, was unserer Umwelt droht. Worum geht es also bei diesem Widerstand? Es geht darum, die Dinge ins richtige Verhältnis zu setzen: Die Klimakrise, zu der es zwar mit unserer Beteiligung, aber nicht unbedingt mit unserer informierten Zustimmung gekommen ist, bedroht unsere natürliche Umwelt. Die Krise des Datenkolonialismus, die ebenfalls unter unserer Beteiligung, aber keinesfalls mit unserer bewussten Zustimmung herbeigeführt wurde, konfrontiert uns nicht nur mit schmelzenden Gletschern und abgeholztem Regenwald (wobei auch der Datenkolonialismus selbst erhebliche Umweltschäden anrichtet), sondern mit einem verkümmerten sozialen Umfeld, in dem es nur noch um eines geht: die Gewinnung von Daten zur Erzielung von Profit. Das ist ein Problem, denn die Lösung der Umweltkrise – genau wie jeder anderen Krise – erfordert gesellschaftlichen Zusammenhalt. Solange unser soziales Umfeld von Staaten und Konzernen kontrolliert wird, besteht die Gefahr, dass es von ihnen entgegen unserer Interessen manipuliert wird – und das unterminiert die kollektive Politik, die wir so dringend benötigen.
Aus der Geschichte der Dekolonisierungsbemühungen lässt sich vor allem eine wichtige Lehre ziehen: Der erste Schritt zur Neudefinition unseres Daseins in der Welt muss von den Kolonisierten kommen, nicht von den Kolonisatoren. Die Kräfte hinter dem Datenkolonialismus wollen eine Welt, in der sie bestimmen können, wie wir uns zueinander verhalten, sie wollen uns auf allen Ebenen des Lebens ihre Bedingungen aufzwingen. Aber so muss es nicht sein.
Als Menschen haben wir die Fähigkeit, die Dinge zu benennen, anstatt sie uns von anderen benennen zu lassen. Benennen wir also die heutigen Systeme der Datenextraktion als das, was sie in Wirklich sind: die jüngste Stufe eines jahrhundertealten Projekts zur Beherrschung der Welt im Interesse einiger weniger. Und stellen wir uns eine andere Welt vor, in der Daten etwas sind, über das Gemeinschaften selbst die Kontrolle ausüben und das sie für ihre selbstgewählten Zwecke einsetzen.