M orgendlicher Nebel umwogte die Bäume hinter dem Haus.
Der Anblick ließ Imgard lächeln. Als hätte jemand ein Gespinst aus flüssiger Seide über die Landschaft gegossen, eingerahmt in ein Gemälde aus gefrorener Zeit.
Sie nahm die schwere Porzellankanne mit ins Wohnzimmer und stellte sie auf ein Stövchen. Ein Fingerschnippen genügte und das winzige Teelicht loderte.
Im Alltag verzichtete sie weitgehend auf Magie, doch ab und an genoss sie die damit einhergehenden Annehmlichkeiten. In den kurzen Augenblicken, die Erinnerungen bargen.
Im Schneidersitz sank sie auf die Kissen neben dem kniehohen Tisch, goss den dampfenden Tee in die Tasse. Unweigerlich musste sie lächeln. Die bunten Striche aus wasserfester Farbe auf dem Porzellan zeigten einen Jungen, der die Hand seiner Großmutter hielt. Dünne Linien waren über das Gesicht der Großmutter-Figur verteilt.
Damals hatte sie gefragt: »Was soll das denn darstellen?«
Daraufhin hatte ein neunjähriger Max mit gewichtiger Miene erklärt: »Das sind deine Falten.«
Ein Stück Porzellan war abgesprungen, doch sie liebte die Tasse innig. Sie war das Symbol vergangener Tage, die weitaus unbeschwerter gewesen waren.
Der Duft des Lavendeltees stieg ihr in die Nase. Andere tranken den Tee, damit er ihnen beim Einschlafen half. Imgard hingegen genoss es, damit in den Tag zu starten. Als sei sie der lebende Spiegel eines gewöhnlichen Menschen.
»So viele Dinge sind im Fluss«, murmelte sie zu sich selbst und wunderte sich darüber, wie schwer ihre Stimme klang.
Sie nippte an dem Tee, nahm sich Zeit, leerte die Tasse. Stellte sie zurück auf den Tisch und widmete sich ihrer Aufgabe.
Mit langsamen Bewegungen schraubte sie den Verschluss vom Füllfederhalter und begann zu schreiben. Außer dem Kratzen der Metallfeder und dem Klacken des Sekundenzeigers der Standuhr herrschte Stille. Die Linien aus Königsblau sickerten in das Papier. Immer wenn sie einen Satz mit einem Punkt beendet hatte, glitt ein goldener Schimmer über die Worte – und sie verschwanden.
An einem anderen Ort, in einem Tresor, lag ein ledergebundenes Buch. Mit jeder Zeile, die hier verblasste, füllte sich dort eine weitere. So schrieb sie und schrieb, während die Feder kratzte und die Standuhr tickte.
Eine Stunde verstrich. Das letzte Wort fand seinen Platz, der letzte Punkt wurde getupft. Sorgfältig schraubte Imgard den Verschluss auf den Füllfederhalter. Damit blieb nur noch eines zu tun.
Die pastellrosa Dose mit den Tränen war sicher, nur eine hatte sie entnommen. Jetzt musste sie die Träne füllen. Leise intonierte sie Worte, ihre Finger verwoben uralte Magie. Die Verbindung entstand.
Doch bevor sie es beenden konnte, erklang ein Knall. Die Eingangstür flog auf.
»Du hast mich belogen.« Die tiefe Stimme kündete von Wut. »Gib mir den Schlüssel!«
»Was du suchst, wirst du niemals finden«, sagte sie. »Diese Macht ist nicht für deine Hände bestimmt.«
»Du bist genau wie sie! Ihr seid der Untergang für jedes Glück.«
»Meine Fesseln habe ich abgestreift und ich gebe niemandem die Macht, sie anderen überzuwerfen.«
»Dann hole ich sie mir einfach selbst. Wenn deine Bindung gelöst ist, liegt der Schlüssel frei.«
Sie wollte noch etwas sagen, doch es war zu spät. Ein Dolch flog heran, die Klinge schimmerte im Licht, bohrte sich lautlos in ihren Körper.
In ihr Herz.
Imgard kippte nach hinten, ihre Hand erschlaffte. Der tropfenförmige Kristall, der ihre Erinnerung aufgenommen hatte, fiel herab, kullerte unter die Couch.
Schritte entfernten sich.
Mit brechendem Blick sah sie in die Höhe. Vor dem Fenster hatte sich der Nebel zurückgezogen. Das Blau des Himmels war ein wunderschöner Anblick.
Sie hauchte ihren letzten Atem aus.
Und ließ diese Welt hinter sich.