1 . Kapitel

Max

Einige Tage später

M it einem Quietschen fiel das Gartentor hinter ihm ins Schloss. Max lehnte sich dagegen, ließ den Blick über das alte Herrenhaus in Grunewald wandern, in dem er so viele glückliche Jahre verbracht hatte. Die stuckverzierte Fassade, die gepflegten Beete, dahinter das weite Grundstück, auf dem dichter Nebel wallte.

Es war gerade mal sechs Uhr und die Morgendämmerung zog herauf. Es war noch recht frisch, obwohl der Tag wieder Wärme versprach. Hinter den Fenstern des Hauses brannte kein Licht. Ein schrecklicher Anblick. Dieses Haus war für ihn stets ein Sinnbild für Wärme und Geborgenheit gewesen, jetzt war es nur noch kalter, toter Stein.

Max zog den Trolley hinter sich her in Richtung der Eingangstür und das Rattern der Räder auf den Platten hielt seine Gedanken an das Gestern fern.

Er zog das braungelbe Luftpolsterkuvert aus der Jackentasche und pfriemelte den Schlüssel draus hervor. Er glitt in das Schloss, als hätte er nur darauf gewartet, dass Max endlich hier auftauchte und die Tür aufsperrte.

Es klackte, ein kurzer Ruck und der altbekannte Geruch von Lavendel und Küchenkräutern stieg ihm in die Nase, als er das Herrenhaus betrat.

Seine Großmutter hatte dies zeit ihres Lebens vorbereitet, ihr Anwalt hatte genaue Anweisungen erhalten. Nachdem die Polizei ihre Arbeit getan und den Tatort freigegeben hatte, war eine Putzfirma hier durchmarschiert, wie Max an den gebohnerten Dielen des weitläufigen Wohnzimmers sehen konnte, das sich direkt hinter dem kurzen Flur erstreckte.

Die notwendigen Unterlagen waren Max zugestellt worden, alles war geklärt. Das hier war jetzt sein Haus. Nicht, dass er es je gewollt hatte. Er hätte alles gegeben, um seine Großmutter zurückzubekommen.

Seltsam. Obwohl er gewusst hatte, dass sie den Papierkram vorbereitet hatte, war er davon ausgegangen, dass sie ewig lebte.

Er stellte den Koffer ab, schälte sich aus der Jacke und hängte sie an einen Haken an der Wand. Bei jedem Schritt knarzten die Dielen. Das heraufziehende Tageslicht verwickelte die Pflanzen und Möbel in ein Schattenspiel.

Max kickte seine Schuhe beiseite und trat ins Wohnzimmer. Alles hier wirkte so vertraut und jetzt doch so fremd. Dieser Ort hatte seine Seele verloren. Der Gedanke ließ die Schatten unweigerlich bedrohlicher wirken.

Er betätigte den Lichtschalter. Hier fehlte es an menschlicher Wärme, die in seiner Erinnerung untrennbar mit diesem Haus verknüpft war. Mit einem Gesicht, auf dem stets ein Lächeln lag. Einer gut gefüllten Keksdose und einem Tropfen Honig im Tee.

Mit einem Seufzen sank er auf die Couch, um ihn herum breiteten sich Leere und Stille aus. Genau wie in seinem Inneren.

Es war niemand mehr da.

Sein Blick fiel auf die Bilderrahmen gegenüber der Couch. In ihnen steckten Fotografien, die glücklichere Zeiten zeigten. Nach dem Tod seiner Eltern – da war er so jung gewesen, dass er sich selbst nicht an sie erinnern konnte – hatte seine Großmutter alles getan, Vater und Mutter und beste Kuschelfreundin zu sein.

Bei dem Gedanken grinste er traurig. Ja, so hatte er seine Großmutter genannt. Sie hatte einem naseweisen Siebenjährigen versprechen müssen, dass sie immer seine Kuschelfreundin bleiben würde. Und weil die Helden in jedem Buch auch einen vierbeinigen Freund hatten, war es völlig normal gewesen, dass nach dem gemeinsamen Besuch der Hunderettung sein Rucksack gebellt hatte. Er hatte den Mischling Flummi eingesteckt, und er war tagelang wütend auf seine Großmutter gewesen, weil sie ihn zurückgebracht hatte.

Bis heute hatte Max nicht so ganz begriffen, warum sie ihn auf das Internat in der Schweiz geschickt hatte. Berlin hatte doch gute Schulen. Aber immerhin hatte er dort René kennengelernt.

Unweigerlich wurden seine Wangen heiß bei dem Gedanken an den Jungen, mit dem er sich das Zimmer geteilt hatte. Und später das Bett. Die ersten zaghaften Küsse, das Ausprobieren mit allen zugehörigen Katastrophen.

»Wir sollten noch aufräumen«, hatte er im Halbschlaf genuschelt, eng an René gekuschelt.

»Ist doch unser Zimmer. Machen wir morgen.«

So waren sie eingeschlafen. Am kommenden Morgen war er natürlich auf dem Kondom ausgerutscht, durch das halbe Zimmer gesegelt und hatte dabei das Regal abgeräumt. Das hatte ihm den Spitznamen Chaos-Max eingebracht.

Er und René waren zwei Jahre ein Paar gewesen. In den Sommerferien hatte Max – nach wochenlangem Überlegen – seiner Großmutter alles erzählt. Vor Aufregung hatte er sein Outing quasi herausgeschrien. Sie hatte ihm einen Kuss auf die Stirn gegeben, ihm gesagt, dass Liebe immer in Ordnung sei, und dann einen Lavendeltee gemacht.

Fahrig wischte Max die Tränen beiseite. Verdammte Erinnerungen. Überall in diesem Haus lauerten sie. Bilder mit lachenden Gesichtern, Gerüche, die an schöne Augenblicke erinnerten. Es fiel ihm schwer, die Treppen nach oben zu steigen, um sein altes Zimmer zu betrachten.

»Weglaufen bringt nichts«, hatte seine Großmutter einmal traurig geflüstert. »Irgendwann holt die Vergangenheit einen ein und schlägt aus den Schatten zu. Also bereite dich vor und dann stelle dich der Herausforderung.«

Sie hatte eindeutig noch nie eine Matheklausur in einem Schweizer Internat geschrieben. Da half keine noch so gute Vorbereitung.

Max stieg über die quietschende Treppenstufe, wie er es früher immer getan hatte, um heimlich noch ein wenig neben der Couch zu sitzen. Es gab eine kleine Lücke zwischen Couch und Wand, in der er abends – total unauffällig – Milch und Kekse unter einer Decke versteckt hatte. Wenn dann Bettgehzeit war, hatte er überlaut gegähnt, war nach oben gestampft, nur um kurz darauf wieder nach unten zu schleichen. Hier hatte er sich dann zusammengekauert, Kekse geknabbert und den Film mitgeschaut, den seine Großmutter gerade laufen ließ. Es war natürlich stets ein Kinderfilm gewesen. Und sie hatte ihn total gar nicht bemerkt, wie er laut knabbernd und trinkend in seinem »Versteck« gesessen hatte. Am nächsten Morgen war er dann in seinem Bett aufgewacht.

Er musste erneut Tränen wegwischen.

Sein Zimmer hatte noch immer einen Teenager-Touch, obwohl er die zwanzig längst überschritten hatte. Nach dem Internat war er nach Mannheim gegangen, um dort BWL zu studieren. Bereits nach einem Semester hatte er abgebrochen. Zahlen waren einfach nichts für ihn. Stattdessen hatte er ein Kunststudium in Karlsruhe begonnen. Er wollte ins Produktdesign und der Start war geglückt. Nicht zuletzt dank Stefan. Nach der Probezeit in Frankfurt kam die feste Stelle und bei der feuchtfröhlichen Feier war aus dem Junior-Chef sein Liebhaber geworden. Stefan. Irgendwie war alles perfekt gewesen.

Max blieb im Türrahmen stehen und betrachtete die alten Poster. Da waren Sänger, auf die er eine Zeit lang gestanden hatte. Auch ein paar Schauspieler. Der Schreibtisch war bedeckt mit kreativem Chaos, die alten Klamotten noch immer in den Schubladen des Sideboards. Sein Ex hätte es gehasst. Bei Stefan musste penible Ordnung herrschen, und die letzten Jahre hatte Max geglaubt, ihm selbst sei das auch wichtig. Damit ihm niemand nachsagen konnte, er habe sich hochgeschlafen, hatte er sich doppelt so sehr ins Zeug gelegt wie seine Kollegen. Stefan war stolz auf ihn gewesen. Ein bitterer Geschmack stieg in Max auf. Er setzte sich nachdenklich auf sein altes Kinderbett und starrte in das Bücherregal, von dem ihm die schwarzen Rücken der Jugendbuchkrimis entgegenblitzten, die er mit zwölf oder dreizehn gelesen hatte. Auf dem Regal standen zwei Fotos: eines von ihm und seiner Großmutter, das andere von ihm und Robin, seiner besten Freundin seit Kindertagen.

Weihnachten, Silvester, ein paar Wochen im Sommer – er hatte viel Zeit hier verbracht, aber nie genug, um groß etwas zu verändern. Irgendwann war sein Lebensmittelpunkt gewandert und das Leben hier zurückgeblieben.

Anfangs hatte er sich schlecht gefühlt, doch seine Großmutter schien sogar froh darüber gewesen zu sein. Immer wenn er die Sprache darauf gebracht hatte, doch auch hier in Berlin – dem kreativen Mekka in Deutschland – einen Job suchen zu können, hatte sie abgewunken. Berlin sei ganz wunderbar für Urlaub, doch er solle sein Glück dort draußen suchen. Außerhalb der Hauptstadt. Als berge Berlin in den Schatten von morgendlichem Nebel und Dämmerung eine Gefahr, die ihn verschlingen wolle. Und Max hatte genickt, denn er hatte ja Stefan in Frankfurt.

Doch das Schicksal hatte wie so oft andere Pläne. Stefan jettete beruflich durch die Welt und hatte dort eine Menge Spaß, von dem Max nichts gewusst hatte. Bis einer seiner Lover plötzlich vor der gemeinsamen Tür gestanden hatte. Es gab Drama, laute Worte, Flehen und Tränen. Und Max begriff, dass er sich in dem Einerlei namens Routine viel zu lang von Stefan hatte lenken lassen. Er hatte das eigene Leben dem seines Partners angepasst, ohne es zu merken. Mit dem Ende der Beziehung hatte es auch in der Firma nicht mehr richtig funktioniert und schließlich war Max – mit einer großzügigen Abfindung – gegangen. Wenigstens das war ihm von seinem Ex geblieben: einige Zehntausend Euro nach fast zwei Jahren Beziehung.

Nach seinem Auszug bei Stefan war er erst mal im Gästezimmer einer Arbeitskollegin untergekommen. Und so hatte er die letzten zwei Wochen in einem Zimmer verbracht, das kaum größer als ein Schuhkarton war, und sich gefragt, was er mit seinem verkorksten Leben anstellen sollte. Seine Freunde in Frankfurt waren Stefans Freunde gewesen. Seine Lieblingscafés waren die, in denen er mit Stefan immer gewesen war.

Und er hasste es, nachts allein im Bett zu liegen. Kein warmer Körper mehr neben sich. Wen er nicht vermisste, war Stefan. Der Arsch konnte ihm gestohlen bleiben. Max war frei, tausend Wege lagen vor ihm. Doch welchen sollte er nehmen? Wohin wollte er überhaupt?

Während er mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf dem schmalen Bett gelegen und an die Decke gestarrt hatte, hatte er sich gefragt, ob nun endlich doch die Zeit gekommen war, zurück nach Berlin zu ziehen, zu seiner Großmutter. Die wurde schließlich auch nicht jünger.

Dann war vor drei Tagen der Anruf gekommen. Ein Überfall, hieß es, und seine Großmutter sei tot. Die Polizei ermittele, doch bisher gebe es keine Spuren.

Der Brief seiner Großmutter, den der Anwalt ihm hatte zukommen lassen, hatte ihm endgültig den Boden unter den Füßen weggezogen.

Lieber Max,

 

wenn Du das hier liest, weile ich nicht mehr an Deiner Seite. Ich hoffe, das Schicksal hat uns viele gemeinsame Jahre beschert und ich bin im hohen Alter – also dem richtig, richtig hohen Alter – friedlich eingeschlummert. Das Haus und alle meine weltlichen Besitztümer gehören damit natürlich Dir. Das Wichtigste ist ein Schließfach, in das Du bitte einen Blick wirfst, sobald Du bereit dazu bist. Ich hoffe, Du hast Dir ein schönes Leben aufgebaut. Eines voller Freiheit und Abenteuer und einem Mann, mit dem Dich Liebe verbindet.

Ich werde Dich auf jeden Fall immer lieben. Über jede weltliche Grenze hinaus.

 

Deine Kuschelfreundin.

Der Gedanke an den Brief erzeugte neue Tränen, der Verlust Übelkeit. Am liebsten hätte er das Haus von oben bis unten geputzt, leider war das ja schon geschehen. Also schleppte Max seinen Koffer nach oben, schlüpfte in Jogginghose und Hoodie, warf sich vor den Fernseher und versank in Selbstmitleid.

So vergingen die nächsten beiden Tage. Die notwendigen Einkäufe rissen Max nur für wenige Stunden aus der Abgeschiedenheit. Sein Bart wurde von einem Zwei- zu einem Dreitagebart, er trieb durch die Stunden.

Bis es klingelte.

In Erwartung des Pizzalieferanten schlurfte er zur Tür. Fast wie in Trance drehte er den Schlüssel und öffnete.

»Wow, Maximus, du siehst aus wie ein Oger! Du weißt schon, groß, grün und schmutzig. Wobei schmutzig wirklich kein Kompliment ist.«

»Ro… Robin?«

Sie stand vor ihm, die Lippen geschürzt, mit einem mitleidigen Ausdruck im Gesicht. In der Hand hielt sie eine Chipstüte. Selbst in Jeans und Rollkragenpulli wirkte sie elegant und voller Energie.

»Weißt du, ich dachte: Der arme Max braucht ein oder zwei Tage, aber dann meldet er sich bestimmt bei seiner ehemals besten Freundin. Die Chipstüte lag schon bereit. Wie in alten Zeiten.«

»Es tut mir leid.« Er machte einen Schritt beiseite.

Robin betrat das Haus und rümpfte die Nase. »Hast du den Internatsmief irgendwie aus der Vergangenheit mit hierhergebracht?«

Max blieb mit hängenden Schultern unschlüssig im Flur stehen. »Tja.«

»Ach, Maximus.« Robin warf die Chipstüte ins Wohnzimmer und zog ihn in eine Umarmung. »Ich hab dich vermisst. Und es tut mir leid.«

»Danke.«

»Und jetzt geh duschen, sonst umarme ich dich nie wieder. Ich verstecke in der Zwischenzeit dieses ganze ungesunde Zeug. Glaub nur nicht, ich lasse dich ohne Aufsicht an die Chipstüte!«

Max konnte den Anflug eines Lächelns nicht unterdrücken. »Danke.«

»Nicht dafür. Ist Stefan oben? Hat er mitgemacht bei dieser Kalorienorgie?«

Max verdrehte die Augen. »Bei Orgien vermutlich ja. Aber ohne mich. Und ohne Kalorien.«

»Was?«

»Er hat mich betrogen und das nicht nur einmal. Ich hab Schluss gemacht.«

»Wann?«

»Vor ein paar Wochen. Gekündigt habe ich übrigens auch. Oder, na ja, einen Aufhebungsvertrag unterschrieben.«

Das brachte ihm einen Rippenstoß ein. »Und wieso erzählst du mir das nicht? Ich dachte, die Funkstille ist wegen deiner Großmutter. Das Zugticket hatte ich schon gebucht, bis ich dank unserer gegenseitigen Standortfreigabe bemerkt habe, dass der Herr auf dem Weg hierher ist!«

»Es ist alles scheiße.«

»Hm. Na gut, ich kann dir gerade nicht böse sein. Nicht in diesem Zustand. Abgesehen davon: Sei froh, dass du den Fuzzi los bist. Der war eh nicht gut genug für dich.« Robin ging zur Couch, öffnete die Tüte, zog einen einzelnen Chip heraus und legte ein Gummibärchen darauf. »Hier, für einen letzten Endorphin-Kick und zum Abgewöhnen.«

Max öffnete den Mund und schob das Gummibärchenchip hinein. Die Geschmacksexplosion in seinem Mund rüttelte ihn ein bisschen wach. »Ich geh duschen.«

»So ist’s recht.« Robin stemmte die Fäuste in die Hüfte. »Und ich werde hier – ausnahmsweise – das Gröbste beseitigen. Später will ich alles wissen. Über Stefan und … na ja, allem eben.« Die letzten Worte klangen traurig.

Robin und er waren seit Kindertagen befreundet. Sie hatte seine Großmutter ebenfalls gemocht. Er fühlte sich schuldig, dass er sich nicht bei ihr gemeldet hatte.

»Manchmal kommt das Leben dazwischen«, murmelte er und schlurfte ins Bad.

»Ich habe genau die richtige Idee, wie wir dich wieder in die Spur bringen«, rief sie von unten.

»Spuck’s schon aus!«, rief Max zurück.

Ein paar Stunden später bekam er die Antwort – in ihrer ganzen Wucht und Vielfalt.