3 . Kapitel

Z wei Herzschläge lang glaubte Max, durch einen von Blitzen durchzogenen Nachthimmel zu fallen. Dann presste ihm der Aufprall auf die Steinplatten der U-Bahn-Station die Luft aus der Lunge. Nein, nicht nur der Aufprall – Lenyo begrub ihn mit seinem ganzen Körpergewicht unter sich. Das Stechen in seinem Brustkorb drohte ihn zu zerreißen. Einen Moment lang starrten sie sich an, dann rollte sich Lenyo von ihm herunter und Max sog gierig Luft in die Lunge.

Das Stechen verschwand nicht. Vorsichtig tastete er seine linke Seite ab. Sein T-Shirt klebte warm und feucht an ihm. Die Wunde! Noch ehe seine Fingerspitzen den Schlitz im Stoff und die darunterliegende Verletzung berühren konnten, zuckte er zurück. Jemand hatte ihn verletzt. Ihr Verfolger!

»Wo sind wir hier?«, drang Robins Stimme wie durch Watte zu ihm. »Was war das gerade?«

»Wir müssen hier weg«, entgegnete Lenyo. Er beugte sich über Max und streckte ihm die Hand entgegen. »Kannst du aufstehen?«

Max versuchte, sich hochzustemmen, doch sobald er sein Gewicht verlagerte, explodierte der Schmerz. Gleißende Lichtfunken tanzten vor seinen Augen.

»Max«, drängte Lenyo.

»Was ist mit ihm?« Robin schob Lenyo beiseite und kniete sich neben Max auf den Steinfußboden. Als ihr Blick auf sein T-Shirt fiel, wurde sie kalkweiß. »Was ist passiert?«

Max versuchte sich an einem schiefen Lächeln. »Unser Verfolger hat mich erwischt.«

»Shit!«

Lenyo ging neben ihm in die Hocke und drückte einen dunklen Stofffetzen auf die blutende Wunde. Max schrie auf, dann hatte er das Gefühl, dass der Schmerz etwas schwächer wurde.

»Kannst du ihm helfen?«, fragte Robin.

»Das tue ich gerade.« Lenyo konzentrierte sich auf Max, seine Stimme war rau. »Press das Einstecktuch auf die Wunde. Und beiß die Zähne zusammen. Das wird jetzt wehtun.«

Ehe Max fragen konnte, was er meinte, schob ihm sein Gegenüber den Arm unter die Schulter.

»Hilf mir«, bat Lenyo Robin, die ihm sofort zur Seite eilte.

Gemeinsam gelang es ihnen, Max auf die Füße zu bekommen, während dieser damit zu tun hatte, die Lippen aufeinander und das Stoffbündel auf seine Wunde zu pressen.

Lenyo zog ihn Richtung Treppenaufgang. »Wir müssen hier weg«, wiederholte er. »Ehe die Jäger auftauchen.«

»Jäger?«, stieß Max zwischen zwei Atemzügen hervor.

»Später.«

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie sich die beiden Treppen hochgequält hatten, die aus der U-Bahn-Station ins Freie führten. Als kühle Luft sein Gesicht streifte, atmete Max erleichtert auf. Dann blinzelte er überrascht. Es kam ihm ungewöhnlich dunkel vor. In Berlin gab es nicht viele Ecken, die man als stockfinster bezeichnen konnte. Diese gehörte dazu.

»Was jetzt?«, fragte er.

Robin strich ihm eine schweißnasse Haarsträhne aus der Stirn. »Wir bringen dich in die Notaufnahme. Und falls es dir hilft, du stinkst überhaupt nicht mehr.«

»Die Passage hat die Markierung getilgt«, sagte Lenyo. »In die Notaufnahme können wir aber leider nicht.«

»O doch.« Robin klang fest entschlossen. »Du musst ja nicht mitkommen, die Landsberger Allee ist gleich dort hinten.«

Lenyo löste seinen Griff, und Max vermisste sofort den starken Arm. Lenyo verschwand allerdings nicht in der Nacht, sondern durchsuchte hastig seine Taschen. »Das ist zu gefährlich, dort könnt ihr nicht hin. Ich bring euch jetzt zu jemandem, der Max helfen kann, einverstanden? Und morgen dann nach Hause.«

Robin öffnete den Mund, zweifellos um Lenyo in aller Deutlichkeit zu sagen, was sie von seinem Vorschlag hielt, doch Max war schneller. »Nicht streiten, okay? Mir geht es gerade wirklich nicht gut. Es wäre ganz cool, wenn wir uns darauf konzentrieren könnten.«

Auf Robins Gesicht zeichnete sich Sorge ab. »Aber meinst du nicht, ein Krankenhaus …«, begann sie, doch Max schüttelte den Kopf.

»Dein Freund kann mir wirklich helfen?«, fragte er Lenyo, der aussah, als habe er ein sehr schlechtes Gewissen.

»Kein Freund. Meine Schwester.«

»Ist sie Ärztin?«, fragte Max.

»So etwas Ähnliches.«

»Und wo ist deine Schwester?« Robin klang resigniert.

»In Mitte.«

»In Mitte?!« Ihr Griff um Max’ Oberkörper wurde fester. »Und wie sollen wir schnell genug dort hinkommen?«

Lenyo hob eine Braue. »Wir fahren.«

Durch die Dunkelheit schleppten sie sich in Richtung einer Straßenkreuzung. Max drückte immer noch das zusammengeknüllte Einstecktuch auf die Wunde. Es war inzwischen durchtränkt, aber immerhin schien die Wunde nicht mehr so stark zu bluten.

»Schaffst du es allein mit ihm bis zur Straße?«, fragte Lenyo Robin.

»Klar.« Sie klang nicht so überzeugt, wie Max es von ihr gewohnt war.

»Dann organisiere ich uns eine Droschke.« Er drehte sich um und eilte davon.

»Droschke?«, sagte Max. »Sind das nicht diese offenen Pferdekutschen?«

Robin schnaubte. »Ich glaube, er hat einfach nur ein Taxi gemeint.«

»Dann hätte er doch Taxi gesagt.«

»Früher nannte man Taxis Motordroschken. Berlin war voll davon.«

Auf seinen verblüfften Gesichtsausdruck hin zuckte Robin mit den Schultern. »Lesen bildet, Maximus. Solltest du auch mal versuchen.«

Max erwiderte ihren Blick zweifelnd. »Früher! Wann soll das denn gewesen sein? Und überhaupt: Wer spricht heute noch so?«

Robin ging nicht darauf ein. »Max …« Sie suchte nach Worten. »Irgendetwas ist nicht in Ordnung hier.«

»Glaubst du, das habe ich nicht bemerkt? Irgendein Assi hat auf mich eingestochen!«

»Das meine ich nicht.« Sie deutete nach rechts, wo sich die Konturen eines Altbaus aus der Dunkelheit schälten. Nur aus einem einzigen Fenster im zweiten Stock drang flackerndes Licht.

»Du hast uns in diese Gegend geschleppt«, erwiderte er.

»Nicht hierher.«

Max wurde kalt. »Wie meinst du das?«

Robin seufzte. »Kaum Straßenbeleuchtung. Keine anderen Menschen. Und … riechst du das nicht?«

Max schnupperte. »Ich riech nichts.«

»Eben.«

Er holte tief Luft und seine Augen weiteten sich. Robin hatte recht. An den meisten Tagen roch Berlin nach Großstadt: nach abgestandener Luft in engen Straßenzügen, den Abgasen aus den Fabriken, an manchen Ecken nach verrottendem Müll oder Urin. Jetzt hingegen roch es frisch, fast süßlich.

»Seltsam.«

Knatternde Motorengeräusche rissen ihn aus seinen Gedanken. Auf die Kreuzung vor ihnen bog ein dunkler Wagen ein. Die Scheinwerfer warfen klägliche Lichtkegel auf die Straße. Selbst das Abblendlicht des Corsas seiner ehemaligen Mitbewohnerin war greller gewesen.

Lenyo trat an den Wagen und sprach mit dem Fahrer. Noch während Max seine Anstrengungen verdoppelte und sich mit Robin zum Straßenrand vorkämpfte, öffnete er die hintere Wagentür und machte Platz.

Der Wagen sah aus, als habe man ihn der Filmkulisse eines Historiendramas entwendet: kantiges Design, schwarz lackiertes Blech, dünne Reifen, durch deren Speichen man hindurchsehen konnte wie durch die eines Fahrrads. Da sollten sie einsteigen? Die Wunde in Max’ Seite schmerzte allerdings zu sehr, als dass er mit Lenyo hätte diskutieren wollen. Ächzend ließ er sich auf die Rückbank des Wagens fallen. Der Droschke. Ledergeruch füllte den Innenraum aus. Robin und Lenyo stiegen hinter ihm ein.

»Los«, forderte Lenyo den Fahrer auf, kaum dass er die Tür zugezogen hatte.

»Immer mit der Ruhe!«, erklang es behäbig, doch der Wagen setzte sich ruckartig und knatternd in Bewegung. Max linste nach vorn, konnte auf dem Fahrersitz jedoch nur einen dunklen Umriss erkennen. Die Stimme hatte männlich geklungen.

»Blutet es noch?«, fragte Lenyo.

Max hob vorsichtig den Stoff an. »Ich glaube nicht.«

»Blut?«, erklang es ungehalten von vorn. »Wenn ihr ma det Leder versaut, jibt’s Ärger, verstanden?«

»Schon gut«, erwiderte Lenyo abweisend. Dann wandte er sich an Robin. »Lass mich mal rüber. Ich schau mir das näher an.«

Aus seiner Anzughose holte er wieder die Phiole mit der schimmernden Flüssigkeit. Dann machte er sich daran, mit Robin Plätze zu tauschen.

»Ey«, erscholl erneut die empörte Stimme des Taxifahrers. »Macht ma keene Fisimatenten hier drin!«

Im türkisfarbenen Licht, in das die Phiole den hinteren Teil des Wagens tauchte, sah Max, dass sein Begleiter genervt die Augen verdrehte. »Fahren Sie einfach. Keine Fragen und Sie bekommen bei Ankunft das Doppelte.«

»Solange –«

»Ihrer Droschke passiert schon nichts. Entspannen Sie sich.«

Das schien dem Fahrer zu genügen.

Lenyo wandte sich Max zu und beleuchtete die Verletzung mit der Phiole. Er sog scharf die Luft ein.

Max wurde schlecht. »Das klingt nicht gut.«

»Alles in Ordnung.« Lenyo schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. »Richtig tief ist es nicht.«

»Das soll mich wohl beruhigen?«

Robin warf ihm über Lenyos Schulter hinweg einen Blick zu. »Sicher, dass du nicht doch in die Notaufnahme willst?« Leiser fügte sie hinzu: »Bei dem Tempo, mit dem der Typ uns durch die Gegend kutschiert, brauchen wir ewig.«

»Nein«, beharrte Lenyo, als sei das allein seine Entscheidung. »Kein Spital.« Er zögerte kurz, dann entkorkte er die Phiole und hielt sie Max vors Gesicht. »Kann ich dir das geben?«

»Was ist das?«, fragte Robin alarmiert.

»Etwas, das ihm helfen wird.«

Max zögerte einen Augenblick. Das Taxi fuhr durch ein Schlagloch und rüttelte sie ordentlich durch. Seine Wunde begann wieder zu bluten und etwas von der Flüssigkeit aus der Phiole spritzte ihm ins Gesicht.

Ehe er es sich anders überlegen konnte, nahm er die Phiole und trank einen Schluck. Süße explodierte in seinem Mund; der Geschmack erinnerte ihn an den Fenchelhonig, den ihm seine Großmutter als Kind verabreicht hatte, wenn ihn Husten quälte, und an etwas anderes, das er nicht zuordnen konnte. Er nahm einen zweiten Schluck und spürte, wie sich eine wohlige Wärme in seinem Magen ausbreitete. Die Schmerzen verebbten. Dann verlor er das Bewusstsein.

 

Als er aufwachte, befand er sich noch immer in dem seltsamen Taxi.

»… unmöglich!« Das war Robin. »Wehe, du hast ihm irgendeine Droge verabreicht.«

»Das ist keine Droge.« Lenyo klang im Gegensatz zu ihr entspannt. »Es ist eine Art Medizin.«

»Eine Art Medizin?«

Max blinzelte, und Zwielicht drang in das schwarze Nichts, das ihn umfangen hielt. Mühsam gelang es ihm, dessen klebrige Teerfinger abzuschütteln.

»Siehst du. Er ist schon wieder wach.« Lenyos Gesicht tauchte über ihm auf. »Geht es besser?«

Max nickte. »Danke.«

»Max!« Robin klang erleichtert. »Mann, bin ich froh.«

Er schaute an sich herunter. Beim Anblick des blutbesudelten T-Shirts wurde ihm wieder schwindlig. Jetzt spürte er dort, wo der Verfolger ihn verletzt hatte, nur noch ein unangenehmes Ziehen.

»Worüber habt ihr beide gestritten?«, fragte er.

Lenyo holte Luft, doch Robin war schneller. »Ich wollte wissen, wo genau er uns hingebracht hat.«

Max runzelte die Stirn. »Ich dachte, wir fahren nach Mitte?«

Mit dem Daumen deutete Robin hinter sich. »Schau mal aus dem Fenster.«

Vorsichtig verlagerte Max das Gewicht. Dann drehte er den Kopf, blickte aus dem Wagenfenster – und blinzelte.

Draußen war es nicht mehr so dunkel wie in der Gegend, in der sie ins Taxi gestiegen waren. Gaslaternen standen in regelmäßigen Abständen am Straßenrand. Allerdings handelte es sich bei ihnen nicht um die rundlichen Exemplare, die Max aus den meisten Straßenzügen der Hauptstadt kannte, sondern um die altertümlichen sechseckigen, die man in Berlin nur noch an ausgewählten Standorten entdeckte. In ihrem diesigen, seltsam grün schillernden Licht schlenderten trotz der späten Uhrzeit mehrere Grüppchen umher. Damen trugen die Haare zum Bubikopf gestylt und hüllten sich in schwere Pelzmäntel, ihre männlichen Begleitungen in schicke dunkle Anzüge. Sie trugen Melonen auf dem Kopf, fast so, als hätten sie alle die Zwanzigerjahre-Party besucht, auf die Robin ihn geschleift hatte.

Das Taxi bog in eine Straße ein, die von einer breiten Mittelpromenade geteilt wurde und die Max seltsam bekannt vorkam. »Ist das …?«

»Die Tauentzienstraße«, bestätigte Robin mit düsterer Stimme.

»Aber …« Er verstummte. Das war völlig unmöglich. Die Bäume, die auf der Mittelpromenade wuchsen, waren viel zu klein. Dann richtete er den Blick nach vorn, durch die Windschutzscheibe des Fahrzeugs, und sein Herz setzte einen Schlag lang aus. Sie fuhren auf ein imposantes Gebäude zu, das mitten aus der Straße zu wachsen schien. Max erkannte die Gedächtniskirche sofort, schließlich galt sie als eines der Wahrzeichen der Stadt. Nur, dass vor ihnen nicht ein vom Krieg zerstörtes Baudenkmal trotzig seine abgebrochene Turmspitze dem Himmel entgegenstreckte. Ganze fünf Türme erhoben sich stolz und unversehrt aus dem Kirchenschiff und verströmten monumentales Flair. So musste das Gebäude ausgesehen haben, bevor es im Zweiten Weltkrieg durch einen Luftangriff zerstört worden war.

Ungläubig sah Max Lenyo an. »Wohin hast du uns gebracht?« Er dachte an den schwarzen Riss in der Luft in der U-Bahn-Station. Sein Mund wurde trocken. »Sind wir …« Er räusperte sich. »Sind wir in die Vergangenheit gereist?«

»Nein«, antwortete Lenyo. »Aber auf die andere Seite.«