Lenyo
A ndere Seite?«, fragte Robin. »Andere Seite von was?«
In diesem Augenblick kam die Droschke mit einem Ruck zum Stehen. Sie hatten das Ziel erreicht. Lenyo verdächtigte den Fahrer, dass er mit Absicht erst im letzten Moment in die Eisen gestiegen war.
»Hilf Max nach draußen«, bat er Robin. »Ich zahle.«
Die Augen des Fahrers blitzten gierig. Lenyo bereute es, ihm das Doppelte versprochen zu haben. Mit etwas Glück ließ es der Schmierlappen dabei bewenden und kam nicht auf die Idee, dass er die Hand noch einmal aufhalten konnte. An einer Stelle, die sehr interessiert daran war, ihre Zellen zu füllen.
Normalerweise setzte der Widerstand auf ein Netzwerk aus Droschkenfahrern, die vertrauenswürdig waren. Doch der heutige Abend fiel in die Rubrik dumm gelaufen.
Die Tür der Droschke knallte ins Schloss und ein zufriedener Fahrer brauste davon.
Hinter den Fenstern des Gebäudes brannte kein Licht, die Tür war verschlossen. Die Fassade bestand aus rotem Klinker, die Tür war aus Holz mit eingefassten Metallelementen. Sie wirkte wenig einladend. Ein Schleierzauber. An einem gewöhnlichen Abend hätte Lenyo breit gegrinst und sich ins Getümmel gestürzt.
»Und was jetzt?«, fragte Robin.
Sie gab sich tough, doch immer wieder blitzte Überforderung in ihrem Gesicht auf. Auf Max’ Stirn stand ein dünner Schweißfilm. Er war gar nicht mehr in der Lage, alles zu durchdenken. Und vielleicht war das ganz gut so.
»Sprecht so wenig wie möglich.« Lenyo verlieh seiner Stimme ausreichend Gewicht, damit auch Robin verstand.
Sie durften nicht auffallen. Wenn sie den Mund öffneten, erkannte jeder sofort, dass sie fremd waren. Er hob die Hand, ließ den Blick über seine Begleitung huschen und fluchte innerlich.
»Steckt die Manschetten wieder an«, verlangte er.
»Was?« Zuerst runzelte Robin die Stirn, dann schienen ihre Sommersprossen wie ein Detonationszauber zu explodieren. »Denkst du echt, das ist jetzt der richtige Zeitpunkt?!«
»Nein«, sagte er ruhig. »Es ist genau genommen bereits zu spät. Der Droschkenfahrer hat hoffentlich die ganze Zeit nur an seine Fetzen gedacht.«
»Fetzen?«, echote Robin.
»Seine Bezahlung. Hör zu, ich erkläre euch das alles in Ruhe, aber jetzt müssen wir runter von der Straße und ihr dürft nicht noch mehr auffallen. Sonst hämmern hier direkt wieder Jäger an die Tür. Bitte, die Manschetten.«
Robin pfriemelte zuerst die von Max aus dessen Hosentasche und heftete sie ihm an, danach tat sie das Gleiche mit ihren. Die Manifestationen wirkten wie ein durchscheinendes Bild, das sich über die beiden legte. Es gewann an Farbe, Tiefe und Form, und schon trugen sie wieder Abendgarderobe. Sogar der Riss im Hemd war nicht mehr zu sehen, das Blut wurde von der Illusion überdeckt.
Lenyo klopfte in einer schnellen Abfolge aus Takten an die Tür des Libertinage. Eine Klappe öffnete sich auf Augenhöhe.
»Was?«, raunzte eine Männerstimme.
»Monkey Gland«, antwortete Lenyo.
»Falsch.«
Er stöhnte auf. Das verdammte Codewort war stets ein Cocktail, aber es wechselte so oft, dass er sich nicht immer merken konnte, welches gerade aktuell war.
»Mach die Scheißtür auf, Ruben«, verlangte er. »Oder ich sag Yelna, dass sie dich kastrieren soll.«
»Dass du immer gleich die ganz großen Kanonen auspackst.«
Die Klappe wurde geschlossen, es klapperte hinter der Tür. Riegel wurden zurückgeschoben, Schlösser gelöst. In dem Moment wies der Zauber eine Lücke auf: Die Fenster waren hell erleuchtet, Musik erklang bis auf den Gehsteig.
»Schnell«, forderte Ruben.
Kurzerhand sprang Lenyo zu Max und stützte ihn ebenfalls. Zu dritt betraten sie das Gasthaus. Hinter dem Eingang gab es einen kleinen Vorraum, ein schwarzer Vorhang verbarg den Blick auf die Feiernden.
Ruben schloss die Tür.
Das Klacken der Schlösser noch im Ohr, schob Lenyo den Vorhang beiseite.
Der Geruch von Zigarillos stieg ihm in die Nase, Perlenketten funkelten im Licht. Gläserklirren und Gelächter lagen als beständige Geräusche über allem.
Er erhaschte einen Blick auf einige bekannte Gesichter. Markos genoss die Freiheit, sich an diesen Abenden äußerlich von einem Mann in eine Frau zu verwandeln. Er hatte Rouge aufgetragen, die Haare zu Schnecken geformt und trug ein glitzerndes Kleid. Ein breitschultriger Kerl tanzte mit ihm.
Sonja ließ gerade ein silbernes Zigarettenetui aufschnappen und zog einen Glimmstängel hervor. Auf ihrem Kopf saß eine Schirmmütze, sie trug Stoffhosen und Jackett.
Ein Hauch von sphärischer Ewigkeit lag in der Luft. Eine Illusion, wie auch der Zauber, der sie alle vor den Häschern verbarg.
»Ach nein, was hat der Wind denn da herangetrieben?« Yelna stand hinter der Theke, mixte einen Cocktail und warf ihm einen grimmigen Blick zu.
»Hey, Schwester.«
»Du wolltest dich einmal pro Woche melden.«
In ihrem Groll gab sie eindeutig zu viel Absinth in den Cocktail. Ob er sie darauf hinweisen sollte? Da wanderte das Glas bereits über die Theke und wurde von einem jungen Kerl hinuntergestürzt. Der würde Spaß haben.
»Ich brauche deine Hilfe.«
Sie kannte ihn zu gut. Die Worte waren kaum heraus, da umwölkte sich ihre Stirn. »Also wieder einmal eine Katastrophe.«
Es brachte nichts, diplomatisch vorzugehen. »Kann man so sagen.«
Ihr Blick glitt über Robin hinweg und blieb an Max hängen. Ein goldener Schimmer vertrieb das Braun in ihren Augen, huschte wie Tränenglanz darüber und verschwand. »Die Wunde sieht übel aus.«
An Abenden wie diesen tropfte Yelna sich stets Pickford-Tinktur in die Augen. Die Schauspielerin war so legendär, dass ihr Name nicht nur Pate für den Cocktail stand. Als Symbol von Schein und Sein, ein Leben vor und hinter der Kamera, hatte man auch die magischen Tropfen nach ihr benannt. Eine Tinktur, die es für einige Stunden erlaubte, durch Illusionen hindurchzusehen.
»Ein Zimmer?«
»Ich liebe deinen Pragmatismus.« Lenyo nickte.
»Erster Stock. Du weißt ja, wo.« Sie griff unter die Theke und knallte einen Schlüssel mit angehängtem Metallschild auf den Tresen. Darauf stand die Nummer acht. »Wir beide unterhalten uns morgen früh. Ich sehe später nach deinem Freund, lebensbedrohlich scheint es ja nicht zu sein.«
»Du bist einfach die Beste.« Er schenkte ihr sein strahlendstes Lächeln.
»Spar dir das für deine Flirts.«
Aus Protest hielt er es noch ein paar Sekunden aufrecht, während er mit Robin Max an den Feiernden vorbeischleuste.
In der Sofaecke hatte ein Gast gerade einen Fetzen zusammengerollt und zog durch das Nasenloch Kokain. Ein anderer drückte sich eine Nadel in die Vene. Es hatte Zeiten gegeben, da war Lenyo einem leichten Trip gegenüber nicht abgeneigt gewesen. Doch die andere Seite hatte ihn vollkommen verdorben: Er rauchte nicht mehr, verzichtete auf den regelmäßigen Rausch, rettete Andersseiter.
Cocktails würde er allerdings niemals streichen. Oder Bier. Das war auf der anderen Seite auch besser.
Max stöhnte.
»Halte durch, wir sind gleich da«, sagte Lenyo sanft.
Die Treppen waren ein ernst zu nehmendes Hindernis, doch mit vereinter Kraft schafften sie es nach oben. Goldenes Licht aus Wandlampen fiel in den Gang, Staub flirrte darüber.
Max’ Körper wirkte schwach und zerbrechlich. In diesem Augenblick sah er nicht aus wie ein Mann Mitte zwanzig, eher wie jemand, dem die Welt über den Kopf gewachsen war und den man beschützen musste.
Lenyo brauchte zwei Anläufe, um den Schlüssel ins Schloss zu bekommen. Dass Max ständig schwankte, war nicht hilfreich. Immerhin steckte in Robin eindeutig mehr Kraft, als es den Anschein hatte.
Das Zimmer war noch genau so, wie er es in Erinnerung hatte. Ein schmaler Raum erstreckte sich der Länge nach vor ihnen. Das Bett stand an der rechten Wand, deren Putz von Rissen durchzogen war. Durch das Fenster konnte man auf den Hinterhof sehen. Darüber hinaus gab es einen verschlissenen Sessel. Das war’s.
Dieser Raum und der gegenüberliegende waren Notfällen vorbehalten. Zu viele Drinks führten schon mal dazu, dass ein solcher eintrat. Nicht selten war Lenyo hier aufgewacht und hatte auf die Rückseite eines Kerls geblickt, mit dem er die Nacht im Halb-Delirium verbracht hatte.
»Heimelig«, kommentierte Robin. »Nur das Beste für die Familie, was?«
»Vielleicht habe ich sie als Kind einmal zu oft an den Haaren gezogen«, erwiderte Lenyo.
»Für Humor ist es eindeutig zu früh!«
»Schon klar.«
Endlich hatten sie Max auf das Bett gehievt. Sein Gesicht war schweißnass.
Schritte erklangen, und schon stand sie in der Tür. Auf seine Schwester war eben Verlass, sie war sogar früher gekommen, als er gedacht hatte.
»Raus, alle beide.« Sie blickte zuerst zu Lenyo, dann zu Robin.
»Ich denke gar nicht daran.« Die Arme wurden trotzig verschränkt. Robins rotes Haar schien in Flammen zu stehen, ihre Augen wirkten jedoch trübe und müde.
Lenyo trat an sie heran. »Sie wird ihm helfen und die Wunde schließen, dabei darf niemand anwesend sein.«
Max keuchte auf. »Aber …«
»Es dauert nur kurz und ich verspreche dir, dass ich danach sofort zurückkehre.« Ihm war bewusst, dass Max und Robin sich wie zwei Schiffe im Sturm fühlen mussten. Er war der einzige Halt, den die beiden aktuell hatten. »Und Robin muss auch mal durchatmen.«
»Wir atmen total gemeinsam durch«, stellte die klar. »Danke, der Herr. Außerdem wolltest du uns noch ein paar Antworten geben.«
»Stimmt. Wir können ja schon mal anfangen.« Lenyo schob sie hinaus und zog die Tür hinter sich zu.
»Du kannst doch nicht einfach …«
Er ignorierte ihren Protest und schob sie weiter auf die gegenüberliegende Tür zu. Darauf war ebenfalls eine Acht zu sehen.
»Wieso gibt es die zweimal?«
»Ist ein Gag«, erklärte er und schloss auf. »Jeder Raum ist zweimal vorhanden. Jeweils spiegelverkehrt.«
»Wow, voll der Brüller.«
Er würde es ihr erklären, doch jetzt brauchte er etwas Ruhe, um nachzudenken. Und genau dabei störte Robin.
»Setz dich aufs Bett«, sagte er.
»Du bist es echt gewohnt, deinen Willen zu bekommen, was? Aber bei mir kommst du damit nicht weit! Ich will Antworten, Mister. Und zwar jetzt.«
Auch in diesem Zimmer gab es lediglich ein Bett und einen Sessel. Nur eben spiegelverkehrt angeordnet.
Lenyo griff in die Tasche und zog ein Tütchen hervor.
»Was ist das?« Robin kam näher und besah sich das safrangelbe Pulver misstrauisch.
»Ich erkläre euch alles morgen. In Ruhe. Jetzt muss ich erst ein paar Dinge für mich selbst ordnen.« Er hob das Tütchen und blies ihr das Granulat ins Gesicht.
»Du …« Robins Lider flatterten, sie schloss die Augen und kippte um.
Lenyo fing sie auf und legte sie aufs Bett. Dann verließ er die gespiegelte Acht. Die Tür fiel mit einem Klacken ins Schloss und er sperrte ab. Sobald Robin erwachte und hinauswollte, würde er es merken – einer der Vorteile der magisch verbundenen Räume.
»Absinth-Pulver?«, fragte Yelna, die gerade die gegenüberliegende Acht verließ.
»Jap.«
»Gute Wahl. Jetzt kannst du dir in Ruhe überlegen, wie du zwei Andersseiter wieder in ihr Berlin bekommst, ohne dass es jemand bemerkt.«
»Entspann dich.«
»Angeblich hat Tamyra vorletzte Woche einen ganzen Wohnblock niedermetzeln lassen. Und das nur, weil dort zwei Widerständler versteckt worden sind. Was, denkst du, wird sie tun, wenn sie von Andersseitern hört?«
Lenyo atmete scharf ein. Tamyra! »Ich kläre das.«
»Da fehlt ein Wort.«
»Ich kläre das schnell. «
»Guter Bruder.« Sie drückte ihm den Arm. »Dein ziemlich gut aussehender Andersseiter ist geheilt, aber erschöpft. Und seine Seele ist in Aufruhr. Er hat kürzlich einen schweren Verlust erlitten.«
»Du findest also, er sieht gut aus?« Lenyo grinste.
»Verkneif dir deine Macho-Allüren.« Jetzt schlug sie ihm gegen den Arm. »Ich brauche meinen Bruder, ohne aufgesetzten Charme.«
Er ignorierte die Bemerkung. »Wie schlimm ist es? Seine Seele, meine ich«, fragte er und blickte zu der geschlossenen Zimmertür, hinter der Max lag.
Yelna seufzte. »Der Verlust, die Verletzung, die Fremde. Er fühlt sich angreifbar, schutzlos. In einer feindlichen Umgebung, die er nicht versteht. Warum hast du die beiden mit hierhergebracht?«
»Jäger haben das Twenty-Heaven gestürmt«, erklärte er.
Yelna zuckte zusammen. »Aber ihr wechselt doch ständig den Ort. Woher wussten sie … Oh.«
Er nickte. »Möglicherweise ein Leck. Ich werde das prüfen. Auf jeden Fall musste ich verschwinden, und die beiden haben nicht lockergelassen. Hätte ich sie dem Jäger zum Fraß vorwerfen sollen?«
»Natürlich nicht. Du bist halt doch einer von den guten Kerlen.« Seine Schwester zog ihn in eine Umarmung. »Hast du zugelegt?«
»Alles Muskeln.«
Sie stupste ihn in die Seite. »Jetzt geh schon rein und tröste den Andersseiter.« Sie hielt ihn fest. »Mit trösten meine ich, dass du seine Seele stützen sollst. Sanft. Nicht deine typische stoßfeste Art.«
Das waren die Augenblicke, in denen er sich die Finger in die Ohren stecken wollte. »Echt jetzt?«
»Du bist nicht der Einzige, der provozieren kann.« Damit ließ sie ihn stehen und stieg die Treppe hinunter.
Lenyo atmete noch einmal tief durch, dann betrat er den Raum.
Er wurde mit verlorenem Blick begrüßt.